Von Heike Weidlich

Er setzt das Fernglas an und beobachtet, wie sich die Alte langsam vorwärts schiebt. Als sie anhält und den Kopf hebt, hat das etwas Schildkrötenhaftes. Sie wendet ruckartig den Kopf – sieht ihn an. Ihm ist, als blicke sie ihm ins Innerste. Entsetzt lässt er das Fernglas fallen, weicht intuitiv einen Schritt zurück.  Trotzdem sieht er das sich ihm darbietende Antlitz überdeutlich: Stechende, kleine Augen, die ihn, gleich einem Laserstrahl, zu durchdringen scheinen – Furchen durchziehen das ganze Gesicht. Doch das ist noch nicht das Schlimmste.

Sie – Es? öffnet den Schnabel und ein Ton durchschneidet die Stille, der ihm das Blut in den Adern gefrieren lässt.

 

Abrupt setzt er sich auf und stellt schweißgebadet fest, dass er sich in seinem Bett befindet. Zitternd starrt er in den stockfinsteren Raum. Ein Alptraum. Wie immer. Er streicht sich die wirren, feuchten Haare aus der Stirn und will sich erleichtert wieder in die Kissen sinken lassen, als das furchtbare Heulen, das ihn geweckt hat, erneut einsetzt.

Was ist das? Wolfsgeheul? Er hat gelesen, dass einzelne Wölfe gesehen worden sind. Aber das war nicht hier gewesen, sondern mindestens 200 Kilometer weiter nördlich.

Er schlägt die schwere Decke zurück und tastet mit seinen nackten Füßen auf dem kalten Boden nach seinen Hausschuhen, greift nach seinem Morgenmantel. Gerade will er nach Henry rufen, als ihm einfällt, dass dieser sein freies Wochenende hat. Er ist allein. Allein, in diesem riesigen, alten, von einem dunklen Wald umgebenen Gemäuer – wie immer, wenn sein Butler nicht da ist.

Henry. Er ist schon immer da gewesen. Auch damals, als seine Eltern auf rätselhafte Weise  verschwunden waren, war er der Fels in der Brandung gewesen. Aber jetzt ist er nicht da.

„Uuuuuuuhhhh.“ Entsetzt fährt er zusammen. Das schreckliche Heulen erfüllt den ganzen Raum.

Langsam bewegt er sich zu einem der Fenster. Alles tut ihm weh. Seine Muskeln sind völlig verkrampft. Trotzdem versucht er nicht sie zu lockern, sondern zieht den Kopf tief zwischen die Schultern.

Dieses Heulen. In seinen Träumen verfolgt es ihn, soweit er zurückdenken kann. Aber heute Nacht ist es anders – diesmal ist es real. Er stößt mit seinem Knie an einen Stuhl. Der Schmerz fährt ihm durch und durch. Er ist wach. Es ist kein Traum.

Am liebsten würde er sich irgendwo verstecken und warten, bis dieses Heulen aufhört. Trotzdem, wie von unsichtbaren Fäden gezogen,  bewegt er sich durch den Raum.

Auf halber Strecke bleibt er stehen und wartet. Die schweren, golddurchwirkten Brokatvorhänge verschlucken jegliches Licht, das von außen hereindringen könnte. Nur an einem Fenster sind die Vorhänge nicht geschlossen. Ein schmaler Lichtstreifen fällt auf den dunklen Holzfußboden.

Nach einer Weile wird es heller. Der Vollmond sendet sein Licht bis weit in das Zimmer hinein. Auch die Atmosphäre hat sich verändert. Obwohl er ganz sicher ist wach zu sein, sieht er alles wie durch einen Schleier. Unwirklich.

Er kneift die Augen zusammen, reißt sie wieder auf, versucht die feinen Nebelschwaden zu durchdringen. Langsam setzt er sich wieder in Bewegung.

Beinahe beim Fenster angelangt holt er tief Luft. Trotzdem hat er das Gefühl, dass keinerlei Sauerstoff seine Lungen erreicht. Panisch schüttelt er den Kopf wild hin und her und versuchte seine Atmung unter Kontrolle zu bringen. Obwohl ihm der Schweiß in Bächen über den Rücken rinnt, friert es ihn bis ins Mark.

 

Längst vergessen geglaubte Bilder drängen sich vor seine Augen. In solch einer Nacht waren seine Eltern verschwunden und wurden nie mehr gesehen. Sie hatten wohl ein neues Leben beginnen wollen, frei von allem, hatte Henry ihm erklärt.  

Als er Wochen später, einige hundert Meter weit entfernt, ein paar Knochen und blutige Haarbüschel gefunden hatte, hatte er sie Henry gezeigt. Dieser hatte sie an sich genommen und ihm geraten, niemandem etwas davon zu erzählen. Er hatte sich daran gehalten. Er war ja auch erst sechs Jahre alt gewesen und Henry war alles was ihm geblieben war.

Fortan war er von einem Hauslehrer erzogen worden. Bis auch dieser eines Nachts verschwand. Und auch in dieser Nacht war er alleine gewesen. Sein Butler hatte frei gehabt.

Als Henry zurückgekehrt war, hatte dieser ihn in seine starken Arme genommen, ihn mit seinen außergewöhnlichen hellen, grünen Augen angeblickt und ihm versichert, dass er immer für ihn da sein würde. Er hatte sich an Henry gedrückt, die Augen fest geschlossen, tief den ungewöhnlichen Geruch von dessen schwerer Wolljacke eingeatmet und war ganz sicher gewesen: Henry  würde ihn immer beschützen.

 

Er geht die letzten Schritte zum Fenster. Jetzt erinnert er sich wieder an diesen seltsamen Geruch in jener Nacht und merkt, wie sich die Haare an seinen Armen aufzustellen beginnen.

Denn, dieser Geruch ist plötzlich wieder da. Der gleiche Geruch wie damals. Frisch und modrig zugleich. Nach Wald und Erde, Blut und Schweiß. Schwefelig.

Er zwingt sich, endlich aus dem Fenster zu sehen. Ca. 300 Meter entfernt, mitten im nachtschwarzen Wald, umgeben von einer Lichtung, erhebt sich, schneebedeckt, der sogenannte Wolfshügel.  Noch liegt er im Dunkeln – er ahnt ihn mehr, als dass er ihn sieht. Aber bereits in wenigen Minuten wird der Vollmond ihn in sein Licht eintauchen und zur Bühne machen.

Es wird so weit sein, er weiß es nicht, aber er spürt es – mit jeder Faser seines Körpers. Das Blut rauscht durch seinen Leib, durch seinen Kopf. Ohrenbetäubend. Trotzdem ist sein Gehör geschärft wie nie. Er hört ein Rascheln auf der Lichtung. Dann sieht er, wie sich eine Maus vor einem leise nahenden Käuzchen in Sicherheit bringt. Auch seine Augen sind heute Nacht adlergleich. Nichts bleibt ihm verborgen. Nur den Wolfshügel nimmt er noch immer nur schemenhaft wahr. Atemlos beobachtet er, wie sich das Mondlicht am Hügel emporschiebt. Heute wird er es wissen.

Als auch die Hügelkuppe endlich beleuchtet ist, sieht er es. Es ist kein Wolf. Trotzdem legt er den Kopf in den Nacken und stößt sein schauerliches Heulen aus.

Langsam lässt er den Kopf sinken und wendet den Blick zum Haus.  Aufrecht steht er da. Das Raubtiergebiss schimmert matt im Mondlicht. Die hellen, grünen Augen leuchten weit durch die Nacht. Nach einem erneuten Heulen lässt er sich auf alle Viere fallen und rennt den Hügel hinab, dem Waldrand entgegen, der ihn gleich darauf zu verschlucken scheint.

 

Alle Anspannung ist jetzt von ihm gewichen, er wendet sich vom Fenster ab. Ordentlich legt er den Morgenmantel auf den Stuhl, stellt die Hausschuhe darunter. Fröstelnd geht er ins Bett. Wie jedes Jahr in dieser Nacht.

 

***

 

Am nächsten Morgen erwacht er, als es leise an die Tür klopft. Die Morgensonne erhellt bereits das Zimmer. Henry tritt ein und stellt das Frühstückstablett auf den kleinen Tisch am Fenster.

Mit einer Empfindung, die er nicht richtig einordnen kann, setzt er sich in seinem Bett auf. Er fühlt sich gut – lediglich sein Knie schmerzt leicht. „Hattest du einen schönen Abend, Henry?“

Henry dreht sich um, blickt ihn liebevoll an, lächelt und nickt.

Was für besondere Augen er doch hat, denkt er und schwingt sich aus dem Bett.

 

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