Marco Rauch

„Flieg nicht so schnell!“ rief sie ihrer Schwester Biesa sorgenvoll hinterher. Sie war immer so stürmisch, und flog oft viel zu tief über die breiten Wege, die die Menschen überall hin gebaut hatten. Es war leicht, sich in diesen Stoffen zu verheddern, die sie an ihren Körpern trugen. Und oft hatten sie diese großen, grässlich sabbernden Vierbeiner dabei. Nicht auszudenken, wenn sie einem von denen versehentlich ins Maul flog. Seufzend sah sie ihr hinterher, und machte sich dann auf den Weg zum Blumenfeld. 

 

Es war ein gutes Stück entfernt, und auf dem Weg dorthin war einer von diesen furchtbaren, steinernen Wegen, auf denen rollende Kisten laut dröhnend von rechts nach links und von links nach rechts rasten. Dabei stanken sie auch noch erbärmlich, und es herrschte ein furchtbarer Wind über diesen Steinwegen. Diese Abschnitte versuchte sie immer so gut wie möglich zu vermeiden. Doch die Blumenwiese auf der anderen Seite war einfach zu verführerisch, als dass sie sich hätte dagegen wehren können. Kurz vor dem Anfang des Weges schaute sie einen Moment widerwillig auf das Treiben unter sich. Doch dann nahm sie allen Mut und alle Kraft zusammen, schlug ihre kleinen Flügel so schnell sie konnte und hetzte über den stinkenden Weg auf die andere Seite. 

 

Erleichtert sah sie sich um und flog schnell zu einer der roten Blumen. Die Pollen dort schmeckten ihr immer am besten. Etwas erschöpft ließ sie sich auf einem Blütenblatt nieder und begann eifrig damit, die kleinen Pollen einzusammeln, die an den großen Stengeln im inneren hingen. Ein paar davon aß sie als Stärkung, dann flog sie weiter zur nächsten roten Blume. Unterwegs fiel ihr auf, dass Menschen auf dem Feld waren. Sie schienen die Blumen zu pflücken. „Hört auf damit, wir brauchen die Blumen doch“ rief sie empört in deren Richtung, aber keiner beachtete sie. Wütend landete sie auf dem nächsten Blütenblatt und spürte, wie auf einmal Angst in ihr hervor kroch. Sie musste sich beeilen, sonst waren bald keine Blumen mehr da. Hastig nahm sie alle Pollen, hängte sie an eines ihrer Beine und flog weiter zur nächsten. Dort sammelte sie die Pollen ein, verband sie mit den anderen und begab sich in die Luft. Sorgenvoll musterte sie auf ihrem Weg die Menschen. Was dachten die sich nur dabei? Dauernd machten sie so komische Dinge. Wie diese Steinwege zum Beispiel. 

 

Als sie unlängst mit ihrer Nachbarin darüber geredet hatte, da sagte die ihr, dass sie von einer Bekannten erfahren hatte, die eine Wespe kannte, von einer befreundeten Hummel gehört hatte, die wiederum mit einem Grashüpfer befreundet war, der einen Maulwurf kannte, und dessen Nachbar, ein Eichhörnchen, hatte einen Igel als Freund. Und der hatte erzählt, dass er große Schwierigkeiten hätte, eine neue Wohnung zu finden, eben weil die Menschen überall ihre Steinwege bauten. Zum Glück hatte er das Eichhörnchen als Freund, denn es half ihm, Blätter zu sammeln, und hielt auf der Suche nach Eicheln und Nüssen immer wieder Ausschau nach guten Plätzen. Aber leicht zu finden waren die wohl nicht, denn der Igel war noch immer auf der Suche, hatte sie gesagt. Armer Igel dachte sie sich kurz. Dann sammelte sie alles ein, was sie fand, und flog weiter zur nächsten Blume. 

 

Während dem Flug bemerkte sie plötzlich aus ihren Augenwinkeln, dass von rechts etwas auf sie zukam. Erschrocken stieg sie schnell etwas höher und erkannte kurz danach, dass es eine ihrer Nachbarinnen war. 

 

„Siema, hast du mich erschreckt. Du musst aufpassen, wohin du fliegst!“ rief sie ihr nach.

 

Doch Siema antwortete nicht. Etwas irritiert schüttelte sie kurz ihren Kopf und flog weiter zur nächsten Blume. Dort sammelte sie gewissenhaft alle Pollen ein und verstaute sie an ihren Beinen. Gerade als sie los fliegen wollte, hörte sie plötzlich einen ohrenbetäubenden Lärm von oben. Erschrocken sah sie nach oben und hielt sich schnell ihre Ohren zu. Diese riesigen Vögel dachte sie sich. Sie machten so einen furchtbaren Lärm, und zogen dabei lange weiße Streifen hinter sich her. Furchtsam sah sie dem Vogel noch einen Moment nach, dann hob sie ab, und begab sich zur nächsten Blume. 

 

Unterwegs fiel ihr Blick wieder auf die Menschen, und sie erinnerte sich daran, dass sie sich beeilen musste. Schnell wandte sie sich einer gelben Blume zu und setzte sich auf eines ihrer Blätter. Neugierig kostete sie ein paar Pollen. Sie waren etwas bitter, aber es würde schon gehen, dachte sie sich. Zusammen mit dem Honigtau und den süßeren Pollen sollte sich daraus etwas gutes machen lassen. Eifrig sammelte sie alles ein und befestigte es an einem ihrer Beine. Dann hob sie ab um zur nächsten roten Blume zu gelangen. Auch dort kostete sie ein paar der Pollen. Diese waren sehr viel wohlschmeckender. Genüsslich verstaute sie alles und besuchte noch ein paar andere Blüten. 

 

Als schließlich nach einiger Zeit alle ihre Beine voll waren, machte sie sich auf den Rückweg. Am Rande des Steinwegs hielt sie kurz an. Bei dem Gedanken, noch einmal da drüber fliegen zu müssen, wurde ihr mulmig. Doch sofort nahm sie allen Mut zusammen, und ließ ihre Flügel so schnell sie nur konnte schlagen. Entschlossen flog sie los, und versuchte so geschwind sie nur konnte auf die andere Seite zu gelangen. Mit aller Kraft kämpfte sie sich durch die verwirbelte Luft und wurde dabei immer wieder vom Wind hin und her geschubst. Als sie es schließlich geschafft hatte, drehte sie sich kurz um und atmete erleichtert einmal durch. 

Das war noch einmal gut gegangen. Erfreut drehte sie sich um und flog nach Hause. 

Dort angekommen wartete ihre Schwester Biesa bereits ungeduldig auf sie. 

 

„Wo warst du denn so lange?“ fragte sie. 

 

„Ich musste auf die andere Seite dieses furchtbaren Steinwegs, um Pollen zu holen“ verteidigte sie sich. 

„Und das dauert so lange?“ wollte Biesa noch immer ungeduldig wissen.

 

Da sah sie sie mit ernstem Blick an, und sagte „Meine liebe Biesa, ich wäre sehr viel schneller gewesen, wenn die Menschen nicht überall ihre Wege bauen würden. Aber sie tun es nun mal, du weißt es. Außerdem habe ich drüben welche gesehen, die Blumen gepflückt haben. Und du weißt, was das bedeutet.“

 

„Diese Menschen…“ brummelte sie verärgert.

 

Dann gingen sie hinein. Am nächsten morgen flog sie gleich wieder zum Rande des steinernen Weges, und freute sich bereits auf die leckeren Pollen. An der Böschung, die zu dem Wege hinunter führte, entdeckte sie einen Grashüpfer sitzen. Er schien zu warten und starrte dabei auf einen braunen Fleck auf dem Steinweg. Freundlich grüßte sie ihn, und fragte ihn, worauf er warten würde.

„Ich warte auf einen Bekannten, einen Igel. Wir wollten uns hier treffen, aber er ist noch nicht aufgetaucht“ antwortete er.

„Hab Geduld, er wird bestimmt bald kommen“ ermunterte sie ihn, und flog dann hinüber zu der Blumenwiese. Dort sammelte sie emsig einige Pollen und flog dann weiter zur nächsten roten Blume. Genüsslich kostete sie ein wenig, sammelte alle ein und band sie an eines ihrer Beine. Als einige Zeit später alle ihre Beine voll waren, machte sich auf den anstrengenden Rückweg. 

Nach einem kurzen aber unruhigem Flug erreichte sie schließlich die andere Seite und entdeckte dort den Igel, der neben dem Grashüpfer saß. Beide schienen zu warten.

 

„Worauf wartet ihr denn?“ wollte sie wissen. Immerhin hatte ihr der Grashüpfer ja gesagt, dass er auf den Igel warten würde.

 

Der Igel antwortete ihr „Mein Freund das Eichhörnchen wollte auch mitkommen. Wir hatten uns hier verabredet.“ 

 

„Hab Geduld, er wird bestimmt bald kommen“ munterte sie den Igel auf, und flog dann weiter.

Auf dem Weg nach Hause kam ihr auf einmal ein Eichhörnchen entgegen. 

 

„Sie warten schon auf dich“ rief sie ihm zu, und er fragte “Hast du einen Maulwurf gesehen? Wir wollten uns am Rande des Steinweges treffen.“

„Nein“ antwortete sie. „Dort ist ein Igel und ein Grashüpfer. Einen Maulwurf habe ich nicht gesehen.“ Das Eichhörnchen bedankte sich und lief weiter. 

 

Nachdenklich sah sie dem Eichhörnchen hinterher während sie los flog, doch abrupt endete ihr Flug. Entsetzt stellte sie fest, dass sie an der Zunge eines dieser grässlichen Vierbeiner festklebte, der gerade sabbernd über die Wiese lief. Angewidert befreite sie sich, und fiel vollgeschmiert mit Sabber auf die Wiese. Fluchend schimpfte sie „diese Menschen!“

 

Etwas in der Ferne lachte ein Maulwurf über die Szene. 

Version 3