Heike Weidlich

„Helena, kommen Sie doch mal her.“ Der Fatzke deutet mit seinem dürren Zeigefinger auf das Beistelltischchen. „Was ist das?“

„Was?“

„Das hier!“ Damit pustet er ein imaginäres, für normale Augen nicht zu sehendes Etwas in die Luft.

„Ich sehe nichts!“

„Dann setzen Sie gefälligst Ihre Brille auf! Staub, überall Staub. Sie wissen doch, dass ich das nicht vertrage! Meine Allergie. Da bekomme ich Ausschlag und Atemnot.“ Er beginnt theatralisch zu hüsteln, tupft sich mit seinem bestickten Taschentüchlein die Stirn und kneift mit leidender Miene die Augen zu. Fatzke ist gegen alles und jedes allergisch. Oder bildet es sich zumindest ein. Oder tut einfach nur so.

Dann wendet er sich wieder seiner Zeitung zu und lässt mich stehen wie einen begossenen Pudel. Dabei könnte ich seine Großmutter sein und genau genommen, war ich das früher auch einmal. Fast zumindest. Zu einer Zeit, als Fatzke, wie ich ihn heute nenne, noch Konrädchen und froh war, dass ich mich, nach dem Tod seiner Mutter, um ihn gekümmert habe.

„Sie können jetzt das Essen auftragen. Und – Helena, stellen Sie das Radio leiser!“

 

 

Wie ich das hasse: Helena machen Sie dies, Helena lassen Sie das. Dabei heiße ich gar nicht Helena, sondern Lene nach meiner Großmutter mütterlicherseits, welche ihrerseits ihr halbes Leben Fatzkes Großvater treu gedient hatte. Auch für Konrädchen war ich Lene gewesen, bis – ja bis wann eigentlich? Er müsste so vierzehn oder fünfzehn gewesen sein, als er mich eines Nachmittags völlig unvermittelt fragte: „Lene. Was ist das eigentlich für ein Name? Hört sich nach derbem Bauernvolk an.“

 

Und als vor ein paar Jahren mein lieber Chef Hubert von uns ging und Fatzke sowohl die Leitung der Firma als auch das Regiment im Haus übernahm, zitierte er mich eines Abends zu sich: „Hör zu. Heute Abend kommen ein paar Gäste. Wichtige Herren. Also sieh zu, dass du beim Auftragen eine frische Schürze umbindest.“ Als ob man mir das sagen müsste!

„Und noch etwas: Aber heute werden wir uns sietzen. Es ziemt sich nicht, dass jemand von meinem Stand sich so vertrauensvoll mit dem Personal unterhält.“

Ich stand da wie vom Donner gerührt. Doch er war noch nicht fertig: “Zudem passt Ihr Name nicht zu den Ansprüchen, die ich an mein Personal stelle. Ich weiß, ich weiß“, würgte er mich ab, als ich etwas einwenden wollte. „Aber ich bin nicht mein Vater. Und deshalb werde ich Sie ab heute Helena nennen. Ein klassischer Name aus der griechischen Mythologie. Die schöne Helena.“ Versonnen blickte er kurz in die Ferne und ließ dann seinen Blick von meinem grauen Haar über meine rundliche Figur bis zu meinen großen Füßen – wir Hofreiters sind alle damit gesegnet und stehen fest damit im Leben – wandern. „Hm, hm -passt zwar nicht so recht. Aber immer noch besser als dieses schreckliche „Lene“.“

„Aber Konrad, ich heiße Lene. Schon immer!“

„Ab heute heißt du Helena und ich bin Herr von Freiwald für dich. Basta!“

 

Ja, so war das. Ich fügte mich, wenn auch so manches Mal nur zähneknirschend.

Was hätte ich auch tun sollen? Ich hatte mein halbes Leben in diesem Haus verbracht. Große Ersparnisse hatte ich nicht. Wo hätte ich hinsollen in meinem Alter?

 

Und gestern bin ich fünfundsechzig geworden. Fünfundsechzig Jahre alt, muss man sich mal vorstellen. Ich war mir sicher, oder nein, das vielleicht nicht, aber ich hatte gehofft, ja, das trifft es besser, dass an meinem Ehrentag etwas vom alten Konrädchen zurückkehrte. Dass er sich daran erinnern würde, wie gern er als Kind auf meinem Schoß gesessen und andächtig zugehört hatte, wenn ich ihm aus dem großen Märchenbuch vorgelesen hatte. Oder wieviel Spaß wir hatten, wenn er mir beim Backen helfen durfte. Ja, ich hatte gehofft, dass er an mich denken und vielleicht sogar eine kleine Überraschung für mich haben würde. Nichts Großes, nein. Vielleicht eine Konzertkarte. Oder wenigstens einen Blumenstrauß oder eine Schachtel Pralinen.

Stattdessen drangsalierte er mich noch mehr als sonst. Über meinen Geburtstag verlor er keine Silbe. Doch am Abend, ich konnte, ob der vielen Aufgaben die er mir den ganzen Tag über aufgebürdet hatte, kaum noch die Augen offenhalten, fiel es ihm offenbar ein: „ Ach, und Helena, das hätte ich jetzt beinahe vergessen. Sie haben doch, glaube ich, heute Geburtstag. Hier“, damit warf er mir einen Zwanzig-Euro-Schein zu. „Kaufen Sie sich was Nettes. Und – Helena, vergessen Sie beim Rausgehen nicht wieder die Türe hinter sich zuzumachen. Sind wohl etwas tüdelig geworden mit den Jahren.“ Damit war ich bis zum nächsten Morgen entlassen und durfte mich zurückziehen.

 

Die ganze Nacht hatte ich mich von einer Seite auf die andere gewälzt. War ich kurz eingenickt, wurde ich von schlimmen Albträumen, gespeist aus all den Kränkungen der vergangenen Jahre, geplagt. Aber als ich gegen sechs Uhr aufgestanden war, war ich mit einem Mal völlig klar im Kopf gewesen. Kristallklar. Noch einmal hatte ich den Brief überflogen, der gestern von einem Notar mit der Post gekommen war:

 

Liebe Lene.

Heute wirst du 65 Jahre alt. Leider kann ich dir aus den bekannten Umständen, nicht persönlich gratulieren, deshalb auf diesem Weg:

Ich gratuliere ich dir von ganzen Herzen und möchte mich gleichzeitig noch einmal bei dir bedanken, für alle das, was du die ganzen Jahre für mich und meine Familie geleistet hast. (Vor allem auch im Hinblick auf Konrad, welcher dir das Leben sicherlich nicht eben leicht macht).

Ich nehme an, dass du mittlerweile daran denken wirst, dich zur Ruhe zu setzen. Um dir dies zu erleichtern und als Überraschung zu deinem heutigen Ehrentag, findest du anliegend einen Schlüssel. Er gehört zu einer kleinen Wohnung, die ab heute dir gehören soll. Ebenfalls erhältst du eine kleine Rente, mit der du sicherlich gut zu Recht kommen wirst.

Ich hoffe sehr, dass du dich darüber freust und wünsche dir noch einmal alles Gute.

Dein Hubert von Freiwald.

 

Ich war frei!

Ein wenig später im Badezimmer, sah ich in den Spiegel. Völlig unvermittelt kam mir mein Großvater väterlicherseits in den Sinn und mit einem Mal schien es mir, als bestünde eine gewisse Ähnlichkeit zwischen uns, die mir zuvor nie aufgefallen war. Großvater war verschlagen und bisweilen bösartig gewesen, was jedoch innerhalb der Familie konsequent totgeschwiegen wurde. Auch von seinem unrühmlichen Ende hatte ich nur durch außerfamiliäre Quellen erfahren.

Je länger ich in den Spiegel sah, umso sicherer wurde ich: Ein klein wenig könnte ich tatsächlich von Großvater mitbekommen haben. Und dieses wenige brach sich jetzt seinen Damm. Ich griff zur Schere und schnitt meine langen Haare, die ich seit vielen Jahren als Dutt trug ab und legte sie in eine Schachtel. Dann richtete ich mich fertig, zog mein Häubchen auf, das ich stets zum Kochen und Auftragen aufsetzen musste, damit nur ja keine Haare herumfliegen und im Essen landen konnten und machte mich an die Arbeit. Ich warf die Haare in den Mixer und ließ sie Karussell fahren, bis nur noch ein kleines, undefinierbares Häuflein übrig war.

 

 

„Helena, wo bleiben Sie denn? Haben wohl wieder mit der Nachbarin geschwatzt, was?“ Missbilligend zieht Fatzke die Augenbrauen in die Höhe.

„Entschuldigen Sie bitte, der Stromableser hat mich noch aufgehalten.“

„Schon gut“, meint er gönnerhaft. „Was gibt’s denn heute? Hoffentlich ist es nicht wieder so angebrannt wie gestern.“

„Eine Gemüsecremesuppe als Vorspeise. Die essen Sie doch besonders gern.“

„Schon. So wie sie früher geschmeckt hat. Letztens fand ich sie jedoch sehr wässrig um nicht zu sagen geschmacklos.“

Vorsichtig probiert er einen Löffel von der Suppe und hält überrascht inne. „Helena, die ist ja wunderbar! Ganz anders als Ihre Kocherei in der letzten Zeit.“

Er nimmt einen weiteren Löffel: „ Ganz köstlich! So sämig und cremig.“

Zufrieden sehe ich ihm zu. Als er seinen Teller beinahe geleert hat, nehme ich meine Haube ab. „Helene!“ ruft er entsetzt. „Setzen Sie sofort die Haube wieder auf! Nicht dass mir noch ein Haar in meinen Teller fällt.“ Schützend hält er eine Hand über sein Gedeck. Dann fällt ihm meine neue Frisur auf.

„Mit Verlaub, aber Sie sehen aus wie ein gerupftes Huhn.“

„Das kann schon sein, aber was tut man nicht alles für eine gute Suppe.“ Damit schiebe ich ihm mein Handy hin, mit welchem ich die Suppeneinlage fotografiert habe.

„Lene, das kann doch nicht dein Ernst sein.“ Unvermittelt wechselt er zum „du“.“Bitte sag, dass das nicht wahr ist.“ Und schon schnappt er nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Er reißt die Augen auf und fasst sich an den Hals. „Ich bin allergisch, das weißt du doch. Ich werde ersticken.“

„Dann wird es wohl so sein. Aber vielleicht hast du Glück und hast dir deine Allergien und Zipperlein all die Jahre nur ausgedacht um mich zu quälen. Dann kommst du vielleicht noch einmal davon. Leider werde ich weder das eine noch das Andere erleben, weil ich dann nicht mehr da sein werde.“

Damit ziehe ich meine Schürze aus, lasse sie fallen, drehe mich ohne zurückzublicken um und verlasse hoch erhobenen Hauptes das Haus. Habe fertig!