Ursula Riedinger

Die Sturmwarnung kam unverhofft. Die Meldung kam aus dem Radio, als die Gäste morgens um 8 Uhr im Danhostel an der Nordwestküste von Jütland beim Frühstück sassen. Natürlich kam die Nachricht auf Dänisch und sie löste bei den dänischen Gästen Bestürzung aus. Kurz darauf kam der Wirt, Magnus, aus der Küche, und teilte seinen übrigen Gästen mit, dass innert der nächsten zwei Stunden ein Sturm von Organstärke auf die Küste auftreffen werde. Die Strasse zum jütländischen Festland sei bereits gesperrt wegen der starken Winde. Er versicherte allen, dass in seinem Haus keine Gefahr bestünde, sie sollten es sich doch im Aufenthaltsraum gemütlich machen.

Daniel war die junge Frau mit dem Pferdeschwanz bereits aufgefallen, als er eincheckte. Sie sah keck und abenteuerlich aus, nicht wie die Mädchen, die er sonst kannte. Das gefiel ihm. Dann sah er sie zwei Tage nicht mehr. Aber jetzt sass sie da im Aufenthaltsraum und las ein Buch. Neben ihr war im gut besetzten Raum noch ein Sessel frei.

«Excuse me, do you mind if sit next to you?»

Die Frau schaute auf und lächelte ihn an.

«Yes, yes, but my English is not very good.»

Sie hätte «no, of course not» sagen müssen, aber Daniel erkannte den Akzent gleich.

«Sind Sie …, kommst du auch aus der Schweiz?»

«Ja, genau. Wie schön, ein Landsmann, dann wir das Gespräch wesentlich einfacher für mich. Aber ich muss mein Englisch unbedingt aufbessern, sobald ich kann.»

«Ich bin Daniel, aus Zürich. Und du? Ist es dir überhaupt recht, wenn wir einander Du sagen?»

«Natürlich, ich heisse Martina und komme aus Fällanden.»

«Was führt dich denn hierher?»

«Dänemark war so ein Traum von mir. Ich bin noch nicht viel gereist und habe ein Weilchen dafür gespart. Und du?»

Daniel schluckte. Gespart? Sein Vater hatte ihm die gesamte Reise durch die USA und Europa bezahlt, indem er ihm einen grösseren Betrag auf sein Konto überwiesen hatte.

«Ich? Ja, ich bin schon etwas herumgereist. Zuerst war ich in der USA, all die Nationalparks und so. Und danach bin ich über Irland, England und Südnorwegen nach Dänemark gekommen. Hierher zu kommen, in diesem abgeschiedenen Ort, war so eine Idee, weil ich irgendwie genug Städte gesehen habe und mich etwas erholen wollte.»

Er merkte, dass das alles wahnsinnig überheblich klang. Wenn er es Klara erzählte oder Linda, die beide genauso frei waren zu reisen, wohin sie wollten, dann wäre es ganz normal gewesen. Klara hätte gefragt, ob ihm der Yosemite oder der Zions’ besser gefallen habe, ob er London oder Paris bevorzuge zum Shoppen, ob er das Guggenheim in New York oder dasjenige in Bilbao toller gefunden habe. Aber diese junge Frau war anders.

«Ja, gell, es ist schön hier? Ich bin jeden Tag dem Strand entlanggelaufen und habe aufs Meer geschaut. Wenn es nicht gerade stürmt.»

Unterdessen hatte der Sturm tatsächlich zugelegt und brauste ums Haus, dass man glauben konnte, jeden Moment würden die Fenster eingedrückt. Aber sie würden alle auf Magnus Erfahrung vertrauen müssen.

«Was machst du denn so, im Leben?»

Martina erzählte. Von der Bauernfamilie, aus der sie kam, dass ihre Mutter nicht mehr lebte, ihre beiden Brüder eigentlich dem Vater zur Hand gehen sollten, aber beide in Schulden steckten, vielleicht Drogen nahmen. Und dass die kleine Schwester Emilia behindert war und eigentlich Spezialförderung benötigen würde. Aber sie sei jetzt daran, sich ein eigenes Leben aufzubauen, so leid ihr der Vater auch tue. Schlussendlich würde er den Hof nicht mehr beliebig lange halten können. Sie verdiene ihr Geld in der Migros an der Kasse, helfe aber jeden Tag mit im Stall, im Garten, aber auch im Haus. Sie gebe einen Teil des Lohnes zu Hause ab, den Rest spare sie für eine Ausbildung zur Physiotherapeutin, die sie nebenbei anfangen möchte.

Daniel schluckte nochmals.

«Und du? Bist du Student?»

«Sehe ich so aus? Noch nicht. Ich konnte mich bisher noch nicht entscheiden, welches Studium ich beginnen möchte. Ich war gut in Mathematik und Physik, aber mein Vater drängt mich, Recht oder Wirtschaft zu studieren. Sprachen und Geschichte mag ich aber auch. Meine Mutter ist Klavierlehrerin, sie möchte am liebsten, dass ich etwas Musisches mache.»

«So schön, dass du ganz frei bist auszuwählen. Wenn ich studieren könnte, würde ich Medizin studieren oder etwas Anderes, wo ich mit Menschen zu tun hätte. Aber meine Ausbildung reicht nicht aus, darum muss ich vieles nachholen, auch Englisch und Französisch.»

«Das ist es ja gerade, dass ich einfach alles wählen kann, macht es so schwierig. Irgendwie weiss ich noch nicht, was das Richtige für mich ist. Auch darum habe ich diese Reise gemacht, um Klarheit zu bekommen.»

«Und, hast du sie bekommen?»

«Nein, eben nicht, darum bin ich jetzt hierher gefahren.»

«Um mich zu treffen.» Sie lächelte.

«Ja, vielleicht, um dich zu treffen.»

«Und, soll ich versuchen, dir helfen bei deiner Entscheidung?»

«Könntest du das? Entschuldige, wenn ich so blöd frage.»

«Na ja, vielleicht, wenn du mir noch etwas mehr über dich erzählst.»

«Gerne, wollen wir uns am Nachmittag nochmals hier treffen?»

Daniel legte sich in seinem Zimmer, das er lediglich mit einem jungen Südamerikaner teilte, auf sein Bett und überlegte, was er Martina erzählen konnte. Sein Leben war ja eigentlich völlig langweilig. Alles war in bester Ordnung zu Hause. Sein Verhältnis zu seinen Eltern war in Ordnung, wenn auch nicht besonders innig. Mit seiner älteren Schwester verstand er sich sehr gut, aber sie gingen doch verschiedene Wege. Er hatte schon verschiedene musische und sportliche Aktivitäten ausprobiert, seine Eltern bezahlten alles – Bogenschiessen, Rudern, Golf, Klavier, Saxophon. Aber richtig fasziniert hatte ihn nichts davon.

Als er wieder nach unten ging, sass Martina schon da und wartete auf ihn.

«Hallo, wir können es mal versuchen. Erzähl mir doch alles, was du gerne magst, was du gerne tust, und solche Sachen.»

«Gar nicht so einfach. Ich habe schon viele Aktivitäten ausprobiert, aber nichts hat mir wirklich den Ärmel reingenommen. Eigentlich mochte ich in der Schule alle Fächer, in denen man etwas ausbrobieren konnte, chemische Reaktionen und so. Das fand ich immer spannend. Reaktionen, bei denen man etwas ausprobieren, kreative Ideen umsetzen konnte.»

«Und was liest du gerne?»

Daniel schüttelte traurig den Kopf.

«Echt, ich kann dir gar nichts Genaues dazu sagen. Ich lese alles Mögliche. Besonders Entdeckungen und Abenteuerreisen haben mich früher besonders interessiert. Stell dir vor, dass ein braver Staatsbeamter wie Alexander von Humboldt sich aufmachte in völlig unbekannte Ecken der Welt. Und die Erkenntnisse, die er mit nach Hause brachte!»

«Und wieso solltest du nicht werden wie dieser Humboldt?»

«Ja, wie denn? Damals war so vieles noch unentdeckt. Aber heute gibt es doch solche Entdeckungen nicht mehr.»

«Da bin ich gar nicht so sicher, du musst nur dein Gebiet finden. Ich kenne mich bei Naturwissenschaften nicht so aus, aber glaube, dass du in diesem Gebiet das Richtige finden wirst. Sicher nicht als Rechtsanwalt oder Banker.»

«Meinst du? Aber du kennst mich doch gar nicht.»

«Nein, aber du hast ja gerade gesagt, was dich fasziniert.»

Die folgenden Tage verbrachten Martina und Daniel zusammen. Sobald der Sturm nachgelassen hatte, gingen sie zusammen am Strand spazieren.

Dann musste Martina nach Hause fahren. Daniel würde nach Stockholm, danach Helsinki und St. Petersburg weiterreisen.

«Ich war schon viel zu lange weg, jetzt muss ich wirklich wieder zurück. Auch in der Migros werde ich wieder erwartet.»

«Rufst du mich mal an, wenn du zurück bist und dich entschieden hast? Ich habe aber nur ein einfaches Handy, ohne Whatsapp.»

«Sicher, Martina, das mache ich auf alle Fälle!»

Zum Abschied küssten sie sich auf die Wangen.

Martina war schon seit vielen Wochen zu Hause. Das Leben ging in seinen gewohnten Bahnen weiter, mit der einzigen Ausnahme, dass sie den Ausbildungsplatz zur Therapeutin erhalten hatte und im Herbst damit anfangen würde. Sonst war es nicht einfach zu Hause.

Von Daniel hatte sie nichts mehr gehört. Eigentlich schade.

Aber dann kam sein Anruf eines Abends unverhofft doch noch.

«Hallo Martina! Wie geht es dir?»

«Nicht schlecht, ich beginne im Herbst mit meiner Ausbildung. Darauf freue ich mich riesig. Und du?»

«Ich habe mich eingeschrieben in die Umweltwissenschaften an der ETH, das ist ein Studium, wo es neben der Wissenschaft auch um praktische Anwendungen geht. Das beginnt auch im Herbst.»

«So toll, das freut mich.»

«Und du hast mir geholfen, ich bin dir so dankbar. Mein Vater ist nicht gerade happy damit, aber was soll’s. Wollen wir uns mal in der Stadt treffen auf eine Pizza, wenn du Zeit hast?»

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