Von Angela Thöming

Noch vor einigen Sekunden hatte Birgitta in die Runde geschaut und war stolz darauf gewesen, Teil des harten Kerns zu sein, der sich durch alle Stürme und Unwegsamkeiten hatte behaupten können.
„Behaupten“ war das treffende Wort. Birgitta war bis eben noch eines der  verbliebenen Haupthaare des Herrn Adalbert Surkemper gewesen, der inzwischen 85 Jahre hinter sich und mindestens 20.000 mal soviele ihrer Artgenossen auf der Strecke gelassen hatte.
Der letzte, der den nur noch kläglichen Rest vor ihr verlassen hatte, war Kuno gewesen. Eine unerwartet heftige Windböe hatte ihn kalt erwischt und nun war er wohl in die himmlischen Sphären entrückt worden.
Bis vor einigen Sekunden hatte Birgitta sich noch sicher gefühlt und jetzt das! Eine winzig kleine Unachtsamkeit und sie mußte schmerzlich realisieren, daß ihr Ende nahe war!
Ganz plötzlich hatte sie den Halt verloren und war nach einem kurzen Sturzflug mitten in diesem Teller gelandet, umgeben von einer trüben, glitschigen Brühe, aus der sie ein starres Fischauge leblos anglotzte!
Wie oft hatte sie davon geträumt, berühmt zu werden und nun war sie das „berühmte Haar in der Suppe“.
So etwas nennt man wohl die Ironie des Schicksals. Birgitta war kurz davor, zu brechen. Im doppelten Sinn.
Was hatte sie nicht alles überstanden! Sie war Herrn Adalbert Surkemper seit 85 Jahren treu, aber Heribert, den man auch „das Drahtseil“ nannte, weil er wohl der Reißfesteste der Haartruppe war, hatte sie gewarnt: „Warte ab, bis der alte Herr eine Jüngere kennenlernt. Dann bist Du ganz schnell weg vom Fenster!“ Birgitta hatte das für puren Unsinn gehalten. Herr Adalbert Surkemper war schließlich vom alten Schlag und wußte noch, was Qualität war!  
Zu dem Zeitpunkt konnte Birgitta jedoch nicht ahnen, daß der alte Narr dieser betagten Dame im geblümten Kleid namens „Thilda“ derart verfallen würde. Sie war schuld, daß Birgitta nun in dieser trüben Brühe vor sich hindümpelte und verzweifelt einen Ausweg suchte! Was hatten die zarten Finger dieser weißhaarigen Madame auch auf dem spärlichen Haupthaar ihres Herrn zu suchen? Der hatte völlig die Fassung verloren und Birgitta gleich mit!

Dabei war diese „Thilda“ unwesentlich jünger als sie! Birgitta schätzte sie auf 82, höchstens ein Jahr mehr! Und nur weil diese Dame ihre Grapschfinger nicht von Herrn Surkemper lassen konnte, saß Birgitta nun in der Tinte, oder vielmehr in der Suppe.

Ihr ganzes Leben zog gedanklich an Birgitta vorbei. Das war wohl das eindeutige Zeichen, daß es nun auf das Ende zuging!   
Das erste, woran sie sich erinnerte, war der eiskalte Schauer über ihren kleinen Körper im zarten Alter von vier Wochen! Später hatte sie erfahren, daß das die Taufe von Adalbert Surkemper gewesen war.
Damals bekam sie einen Vorgeschmack auf das, was sie künftig erwarten würde. Ohne Vorwarnung und Rücksicht auf Verluste hatte der Herr im weißen Talar ihr und ihren Leidensgenossen eine Ladung kalten Wassers übergeschüttet! Einige der Zartbeseiteten waren nach diesem Vorfall bereits so geschockt, daß sie die Runde kurz darauf unter Protest verlassen hatten.
Nicht so Birgitta.

Sie hatte sogar zweimal eine Läuseattacke überstanden, von der Adalbert Surkemper im Kindergartenalter heimgesucht worden war! Nicht nur, daß diese schleimige Pampe, mit der man seinen Kopf eingerieben hatte, einen fürchterlichen Gestank mit sich brachte! Nein!, auch noch diese ekligen Krabbelviecher um sie herum, mit denen sie unter einer luftundurchlässigen Plastikhaube eingeschlossen war! Birgitta hatte sich tagelang davon erholen müssen.
Wieviele ihrer Weggefährten hatten inzwischen schon das Zeitliche gesegnet! Sie waren entweder den regelmäßigen Kamm- und Bürstenattacken nicht gewachsen gewesen oder unter der Trockenhaube verstorben.
Birgitta hatte sämtliche Strapazen tapfer durchgestanden.

Aber es hatte in ihrem Leid erprobten Leben auch schöne Momente gegeben. Herrlich duftende Haarkuren zum Beispiel. Einmal hatte Herr Surkemper eine Haarwäsche mit abgestandenem Altbier probiert. Also schön war anders. Champagner hätte Birgitta weitaus besser gefallen.  

Aber alles wäre ihr im Moment lieber gewesen als ein Ende in einer mäßig schmackhaften Fischsuppe!

Als dann von der gegenüberliegenden Seite des Tisches, an dem die „grapschende Thilda“ saß, auch noch ein schrilles „Iiiihh“ zu hören war, was unmißverständlich Birgitta und ihrem derzeitigem Aufenthaltsort galt, war das Maß endgültig voll! Birgitta wollte nicht mehr!
„Herr Ober!“ rief der treulose Herr Adalbert Surkemper auch noch,“Hier ist ein Haar in der Suppe!“ Birgitta war doch nicht irgendein Haar! Sie ärgerte sich maßlos über soviel Ignoranz! 

Der Ober schnappte sich wortlos den Teller und Herr Surkemper entschuldigte sich überschwänglich und gleich mehrfach bei „Thilda“ für Birgitta, was sie nach 85 Dienstjahren als größte Kränkung empfand!
Der Ober düste derweil, leise vor sich hin fluchend, zur der Hintertür und schüttete den letzten Rest Suppe mitsamt haarigem Inhalt kurzerhand nach draussen ins Freie.

Birgitta fand sich völlig erschöpft zwischen den Grashalmen wieder. Es gab offensichtlich wirklich das Glück im Unglück. Sie hätte in ihrem Zustand sonstwo landen können, schlimmstenfalls in der Kanalisation. Aber sie hatte noch eine Chance bekommen und beschloß, den Dienst an dem
heillosen Ignoranten namens Adalbert Surkemper für immer zu quittieren und den Rest ihres Lebens einfach nur zu genießen, bis ein sanfter Windstoß auch sie in die himmlischen Sphären aufnehmen würde.