Winfried Dittrich

„Gefällt mir nicht, fang nochmal von vorne an, Arthur“, waren die ersten Worte von Sara als sie durch die Eingangstür trat.

„Was ist es denn diesmal?“, fragte Arthur mit einer Mischung aus Enttäuschung und Neugierde in seinem Bauch, während er den Abendbrottisch für Sara und sich selbst deckte.

„Irgendwie langweilig und gleichzeitig ekelig“, spezifizierte Sara ihre Kritik dann beim Abendbrot näher.

„Wieso?“, fragte Arthur.

„Eine Abhandlung über die Frage, wie lang und dick ein Haar mindestens sein muss, damit man es in einer Suppe finden oder im Mund wahrnehmen kann? Das ist irgendwie bescheuert. Wen interessiert das? Und das Ganze verpackt in einer Geschichte, in der ein seltsamer alter Mann eine Versuchsreihe startet, weil er genau das herauszufinden versucht? Ne, Arthur. Spricht mich nicht an“, erwiderte Sara.

„Und meine Idee, dass der alte Mann abends in einem Frisörsalon putzen geht und sich dort die unterschiedlichen Haare besorgt?“, fragte Arthur.

„Ekelhaft. Und hör jetzt auf davon zu reden. – Dein Salat ist köstlich und mir ist wegen dieses Themas schon flau im Magen!“, entgegnete Sara ein wenig genervt. Sie las Arthurs Entwürfe immer nach der Arbeit auf der Zugfahrt nach Hause.

Arthur fand Saras Reaktion interessant und sah ihr beim Essen genau zu. Anscheinend prüfte sie an diesem Abend sehr sorgfältig, ob Fremdkörper in ihrer Mahlzeit waren.

***

„Gefällt mir nicht, fang nochmal von vorne an, Arthur“, waren die ersten Worte von Sara als sie durch die Eingangstür trat.

„Was ist es denn diesmal?“, fragte Arthur mit einer Mischung aus Enttäuschung und Neugierde in seinem Bauch, während er den Abendbrottisch für Sara und sich selbst deckte.

„Arthur, willst Du mich auf den Arm nehmen? Gemüsesuppe mit Fleischeinlage? Nach dieser Geschichte?“, platzte es aus Sara heraus. Sie stand leicht würgend vor dem Herd und blickte in den dampfenden Kochtopf.

„Du kannst auch nur Brot essen“, erwiderte Arthur grinsend.

Sara wurde wütend: „Du bist echt gemein. Als ich in Deinem Entwurf an die Stelle kam, an der der arme Mann das Stück Fleisch verschluckt hatte und merkte, dass es an dem Haar in seinem Mund hing, musste ich würgen. Im Zug haben sich die Leute nach mir umgedreht. Und ich stand da mit Schweißperlen auf der Stirn, kreidebleich. Ein Mann wollte Erste Hilfe leisten. Und so eine ältere Dame meinte, dass das mit der Übelkeit nach den ersten drei Monaten vorübergehen würde. So peinlich…“

„Also besonders stolz bin ich eigentlich auf die Passage:

Unwillkürlich musste er Schlucken und spürte, wie das unzerkaute Stück Suppenfleisch in den Magen hinunter glitt und sich dabei das Haar in seinem Mund bewegte. Es legte sich der Länge nach auf seine Zunge und zog sich straff, wie eine Angelschnur. Das andere Ende des Haares hielt er fest zwischen seinen Fingern. Alles um ihn herum schien still zu stehen. Während ihm gleichzeitig heiß und kalt wurde und seine Stirn und sein Rücken schlagartig schweißnass wurden…“, sagte Arthur und grinste.

„Hör doch auf! Wie lang müsste so ein Haar sein? Arbeitet etwa Rapunzel dort in der Kantine? – Für mich nur Brot heute Abend! Blödmann!“, waren die letzten Worte von Sara bei diesem Abendessen.

***

„Gefällt mir nicht, fang nochmal von vorne an, Arthur“, waren die ersten Worte von Sara als sie durch die Eingangstür trat.

„Was ist es denn diesmal?“, fragte Arthur mit einer Mischung aus Enttäuschung und Neugierde in seinem Bauch, während er den Abendbrottisch für Sara und sich selbst deckte.

„Rapunzel? Echt? Das ist mir zu weit her geholt, zu konstruiert“, sagte Sara. Dann blickte sie zu Arthur, der eine Schüssel in Händen hielt: „Oh, lecker, Feldsalat.“

Arthur stellte die Salatschüssel auf dem Tisch ab und grinste wieder: „Ja, bin im Thema. Rapunzeln – Feldsalat, du weißt schon. Warum konstruiert?“

„Ok, die böse Zauberin, Frau Gothel, die Rapunzel in dem Turm gefangen hält, soll eigentlich verheiratet sein, aber ihren Mann hat sie mit einem bösen Zauber belegt und in ein Eichhörnchen verwandelt, weil sie glaubt, er habe der früheren Nachbarin schöne Augen gemacht, sie geschwängert und er sei der wahre Vater von Rapunzel? Mann o Mann!“, fasste Sara zusammen.

„Ja, und damit er sich wieder in einen Menschen zurückverwandeln kann, muss er die Zauberin glücklich machen. Das ist Teil des bösen Zaubers, mit dem er belegt wurde“, ergänzte Arthur, der seinen Entwurf diesmal verteidigen wollte.

„Und das macht er, indem er Rapunzel verrät? Er findet heraus, dass sie regelmäßig von einem Prinzen besucht wird und sich eine schöne Zeit mit ihm macht?  Wie gemein“, sagte Sara mit einem ablehnenden Gesichtsausdruck.

„In Märchen geht es auch mal etwas unschöner zu. Und dadurch, dass der zum Eichhörnchen verwandelte Ehemann einen Hinweis gibt, dass bei Rapunzel etwas nicht stimmt, zeigt er gleichzeitig, dass er Rapunzel gegenüber nicht loyal und deswegen bestimmt nicht Rapunzels Vater ist“, führte Arthur noch ins Feld.

„Puuh. Ok.“, erwiderte Sara. „Ich kann irgendwie nachvollziehen, was Du Dir dabei gedacht hast. Aber dass das Eichhörnchen ein Haar von Rapunzel aus dem Turm mitnimmt, es der Zauberin in die Suppe wirft, diese dann bemerkt, dass es zweiundzwanzig Ellen lang ist und nur von Rapunzel sein kann, obwohl Rapunzel im Turm eingesperrt ist, und dann sofort losläuft, im Turm eine verstörte Rapunzel erwischt, die sich dann selbst verrät…“ Sara holte Luft. „Merkst Du selber, oder? An den Haaren herbeigezogen…“, ergänzte sie und betrachtete Arthur, wie er ihr gegenüber am Abendbrottisch saß und nach und nach ein wenig kleiner geworden war.

***

»Und wieder von vorne«, dachte Arthur, »immer nur diese negative Kritik. Ich wünschte, sie würde mal etwas Positives sagen. Ich wünschte, sie würde mal damit anfangen, was sie gut findet.«

Nach dem Abendbrot ging er spazieren, allein, um nachzudenken.

»Ok, ich muss noch einmal neu anfangen. Aber was ist mein Anspruch, wie soll ich die Geschichte entwickeln? Soll sie ein ganz bewusst entworfenes Konstrukt werden? Sollen Wendungen und Pointen schon feststehen, bevor ich den ersten Satz zu Papier gebracht habe? Kann ich das überhaupt umsetzen?

Oder soll ich einfach wieder mal meinem Schreibfluss freien Lauf lassen? Nur hier und da lenken und mich an einer Grundidee orientieren? Vielleicht ist das bei diesem Thema die richtige Strategie. Vielleicht kann ich einfach versuchen, die Haare aus der Suppe zu ziehen, wenn die Geschichte schon geschrieben ist.

Warum klebe ich eigentlich an diesem Thema ‚Das Haar in der Suppe‘? «

Am Ende seines Spazierganges, als die Eingangstür der Wohnung hinter ihm ins Schloss gefallen war, begannen Arthurs Gedanken erneut zu kreisen:

»Eigentlich ist das Schreiben einer Geschichte doch wie das Kochen einer Suppe. Das Thema ist vorgegeben oder man gibt sich selbst eines vor. Man verwendet Zutaten, die man für richtig hält, stellt sie zusammen, bestimmt deren Reihenfolge und Gewichtung. Dann wird geschmort, gebrütet, ausgekocht, umgerührt, abgeschöpft, gesiebt, püriert und so weiter. Am Ende wird serviert.

Leser äußern sich oder auch nicht. Manche sagen oder schreiben ‚interessant‘ – manche wollen einen Nachschlag, manche nicht. Die Geschichte trifft den Geschmack der Leser oder auch nicht. Bestimmte Zutaten in der Suppe gefallen Lesern sehr gut. Anderen Lesern stoßen sie übel auf. Manche Leser sind sogar allergisch dagegen. Es gibt schwere und leichte Suppenkost. Isst man die Suppe zu oft, dann kann sie einem auch leid werden. Und manche Leser schmecken Dinge aus der Suppe heraus, die überhaupt nicht enthalten sind.

Aber in all diesen Suppen, in jeder Suppe, gibt es Haare. Jede Menge Haare in unterschiedlicher Menge und Länge. Tippfehler, Grammatikfehler, Stilbrüche, eigenartige Formatierungen und Formulierungen. Manchmal sind ein Reizwort oder ein Reizthema das Haar in der Suppe. Mancher lässt die Suppe deswegen zurückgehen.

Und dann gibt es diese Kritiker, die finden auch die kleinsten Härchen in der Suppe, stören sich schon am kleinsten Tippfehler kommafehler, Grammatikfehler und anderen Klainichkaiten. Aber das ist gut so. So lernt man was. Eigentlich schätze ich sehr, was Sara für mich tut. Müsste sie eigentlich nicht.

Na ja. Und was ist jetzt mein eigener Anspruch? Eigentlich nur Spaß an der Freude! Aber diesmal auch, dass ich Sara etwas unter die Nase reiben kann…

Und wenn die Geschichte nicht gut ist, dann fange ich einfach wieder von vorne an.«

Arthur setzte sich an den Schreibtisch, spannte ein neues Blatt in die Schreibmaschine ein, und fing an zu tippen:

„Gefällt mir nicht, fang nochmal von vorne an, Arthur“, waren die ersten Worte von Sara als sie durch die Eingangstür trat.

„Was ist es denn diesmal?“, fragte Arthur mit einer Mischung aus Enttäuschung und Neugierde in seinem Bauch, während er den Abendbrottisch für Sara und sich selbst deckte.

Beim Abendbrot spezifizierte Sara ihre Kritik dann etwas: „Irgendwie langweilig…

 

Version 3