Von Michael Kothe

»Meine Herren, ich bitte um Ihr Verständnis, dass ich mich aus der Verhandlung zurückziehen muss. Gerade habe ich erfahren, dass sich bei mir zu Hause ein Unglück ereignet hat. Herr Dr. Berg, mein Stellvertreter, wird Ihnen die noch offenen Details erläutern und anschließend den Vertrag zur Gegenzeichnung aushändigen.« Während er sprach, hatte Dr. Hagedorn seinen Sessel von dem Konferenztisch fortgeschoben und stand nun vornübergebeugt vor der aufgeschlagenen Mappe, die die Vertragsausfertigungen enthielt. Zwischen je zwei eilig hingeworfenen Unterschriften hob er den Kopf und suchte Blickkontakt zu seinen Verhandlungspartnern. Leichtes Kopfnicken ihrerseits signalisierte ihm ihr Mitgefühl und die Zustimmung für seinen Aufbruch.

Dr. Berg schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln, als Hagedorn den Füllfederhalter in der Innentasche seines Jacketts versenkte und sich mit einem Nicken in die Runde verabschiedete. Er eilte zu seiner Sekretärin, die in die Verhandlung geplatzt war und, während sie sich über ihn beugte, ihm die schlimme Nachricht zugeraunt hatte. Nun stand sie im Eingangsbereich des Konferenzzimmers und hielt ihm die Türe auf.

»Was ist eigentlich passiert? Wie schlimm ist es?«

Sie zuckte die Schultern. »Genaues kann ich Ihnen nicht sagen. Als ich aus dem Archiv ins Büro zurückkam, blinkte der Anrufbeantworter. Ihre Frau hatte in den Minuten, die ich fort war, darum gebeten, Sie mögen schnellstmöglich nach Hause kommen, es habe ein schreckliches Unglück gegeben.«

»Haben Sie versucht, meine Frau zu erreichen?«

»Natürlich, aber es hat niemand abgenommen.«

Hagedorns Gedanken rasten. Seine Frau nicht erreichbar, ihr gemeinsamer Sohn Thomas war mit drei Jahren noch zu klein für ein Smartphone, und seine Stieftochter Natalie hatte in ihrer Verträumtheit ihres sicherlich irgendwo herumliegen lassen. Hastig hängte er das Sakko über die Lehne seines Bürosessels und schlüpfte in die Lederjacke, fühlte, ob sich Haus- und Autoschlüssel wirklich in der Jackentasche befanden, und war nach einem flüchtigen Gruß zu seiner Sekretärin schon aus dem Büro hinaus. Die Wartezeit vor dem Fahrstuhl und die Fahrt in die Tiefgarage wurden zur Qual. Was ist geschehen? Eine erpresserische Entführung meiner Kinder? Lohnen würde sich das für die Kidnapper schon. Ein Unfall? Hätte ich meiner Sekretärin bloß gesagt, sie solle die Krankenhäuser abklappern! Hinter dem Steuer wurde er ruhiger, der winterliche Straßenverkehr erforderte seine Aufmerksamkeit.

Dennoch schaffte er es, den Vormittag vor seinem geistigen Auge ablaufen zu lassen. Das Frühstück war geprägt von Unruhe. Natalie war elf geworden. Sie drängte, dass die Eltern sie zum Geburtstagsgeschenk führten, was Hagedorn zwar gern wollte, jedoch im Geiste schon bei der Vertragsverhandlung war. Kurz schüttelte er den Kopf, um diese Gedanken zu vertreiben. Wieder entspannt lächelte er seine Stieftochter an in der Hoffnung, dass seine Hinwendung zu ihr zu einem innigeren Verhältnis führten! So legte er ihr das Geburtstagsgeschenk in die Arme und wartete, bis sie das teure Geschenkpapier abgerissen und den aufwändig gestalteten Karton lieblos aufgebrochen hatte. Hilflos hatte er zu seiner Frau geblickt, die mit vor Schreck geweiteten Augen ihre Tochter anstarrte. Natalies Körper war steif, ihre Augen aufgerissen, und mit zusammengebissenen Zähnen hatte sie das Pony aus seiner Formverpackung gezerrt. Mit beiden Händen umfasste sie die Spielzeugfigur um die Körpermitte, die Fingerspitzen konnten sich gerade berühren, und hielt sie an ausgestreckten Armen so weit wie möglich von sich. Das fernsteuerbare Geländefahrzeug mit Pferdeanhänger, Jockey und Sulky – alles im Maßstab zum Pferd passend – würdigte sie nur eines kurzen Blickes.

»Das habe ich nicht gewollt!« Ein Ausruf, den Hagedorn nicht verstand, denn ein Pony hatte sie sich doch gewünscht! Was war der Grund für die Enttäuschung? Nun rückte ihn die Erinnerung an den Ausruf wieder in die Realität. Eine noch schlimmere Erwartung quälte ihn: Hatte seine Tochter sich etwas angetan? Nassgeschwitzt erreichte er endlich seine Wohnsiedlung.

Als er in die Straße einbog, in der sein teurer Bungalow zwischen den übrigen Luxushäusern kaum auffiel, waberte ihm schon das stroboskopartige Blaulicht mehrerer Einsatzwagen entgegen. In den Vorgärten führten die Lichtergirlanden und Weihnachtsbäume gegen das blaue Leuchten einen aussichtslosen Kampf. Bis zu seiner Auffahrt kam er gar nicht durch, ein Polizeifahrzeug hatte gut einhundert Meter vorher die Fahrbahn blockiert. Hagedorn brachte sein Coupé knapp daneben zum Stehen, beim Aussteigen zitterten seine Knie. Im letzten Moment wich er dem Krankenwagen aus, der ihm mit blauem Blinklicht auf dem Bürgersteig entgegenkam. Seine Frau? Thomas? Oder doch Natalie? Er rannte. Auf halber Strecke schon sah er seine Frau am Straßenrand vor der Einfahrt stehen, einen Arm schützend um den Dreijährigen gelegt. Er sah, wie sie immer wieder zusammenzuckte. Also doch Natalie, ihre Tochter aus erster Ehe!

»Halt! Sie dürfen hier nicht weiter.«

Verständnislos gaffte Hagedorn den Uniformierten an, der sich urplötzlich vor ihm aufgebaut hatte und ihm nun beide Hände vor die Brust drückte, damit er stehen bliebe.

»Was ist …? Ich bin … Das ist mein Haus!« Verwundert starrte er auf seinen Arm, den er unwillkürlich ausgestreckt hatte und der auf sein Heim zeigte – oder auf das, was davon übrig war. Nun erst nahm er wahr, dass vor seinem Grundstück und auch auf dem Rasen Löschfahrzeuge standen. Einsatzkräfte in dicken hellbraunen Feuerschutzanzügen, ausgestattet mit neongelben Helmen und mit Atemschutzgeräten, machten sich nur scheinbar behäbig auf den Weg in seinen Bungalow, der aus Tankfahrzeugen mit dicken Wasserstrahlen beschossen wurde. Nur Qualm stieg aus der Ruine, Flammen konnte er nicht sehen. Ihm wurden die Knie weich, er stützte sich an einem der kleinen Edelstahlkästen ab, in denen seine Nachbarn ihre Mülleimer verbargen.

»Herr Dr. Hagedorn, hat man Sie doch erreicht! Ihre Frau war sich nicht sicher, ob die Nachricht an Sie weitergegeben würde.«

Hagedorn blickte auf. Den Einsatzleiter der Feuerwehr kannte er. Von welchem Clubtreffen, fiel ihm nicht ein.

»Was ist …« Er schluckte. »Was ist geschehen? Meine Frau sehe ich, unseren Sohn auch. Aber was ist mit Natalie? Sie ist doch nicht …«

Der Einsatzleiter winkte einen Mann in Zivil herbei.

»Bogel ist mein Name, ich bin Notfallseelsorger.«

Hagedorn rutschte an dem Müllhäuschen hinunter, bis er auf dem Bürgersteig zu sitzen kam.

Bogel fuhr fort. »Wie ich von der Feuerwehr erfahren habe, ist der Brand in einem der rückwärtigen Räume …«

»Die Kinderzimmer!«, entfuhr es Hagedorn.

»… ausgebrochen. Die Einsatzkräfte sind mit Atemgeräten auf dem Weg dorthin. Wenn Sie …«

Hagedorn raffte sich auf, wie ein Traumwandler stakte er auf seine Frau zu, nichts von seiner Umgebung nahm er wahr. Seine Tochter! Als Vater sollte sie ihn akzeptieren. Lieben. Zu viert sollten sie eine Familie sein. Und nun … im Kinderzimmer! Verbrannt, verschüttet, erstickt? Unter Tränen erkannte er das Gesicht seiner Frau, bei der er gerade angekommen war. Fahrig, ohne es selbst wahrzunehmen, strich er Thomas übers Haar, versuchte unbewusst, Trost zu spenden.

»Natalie?« Es fühlte sich an, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen.

»In ihrem Zimmer ist wohl der Brand ausgebrochen. Vorläufige Vermutungen der Feuerwehr. Weil hier vorn noch nicht so viel verbrannt war, als sie kamen.«

Er schlug sich an die Stirn. Hatte sie sich wirklich etwas angetan? War sie wieder einmal nur unvorsichtig gewesen? Schon öfter war Schaden gerade noch abgewendet worden, den ihre Fahrigkeit und Unkonzentriertheit heraufbeschworen hatten. Ein Föhn, ein elektrischer Heizofen? An der Gardine, der Bettdecke? Mit beiden Händen griff er seine Frau an den Schultern und schüttelte sie. »Und Natalie?«

Seine Frau lächelte. »Sie war als erste aus dem Haus. Hat Thomas und mich an der Hand gepackt und nach draußen gezerrt.« Aufgeregt blickte sie um sich. »Aber du hast Recht. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.«

Hagedorn ließ seine Frau stehen. Zwischen den Einsatzfahrzeugen rannte er hin und her. Irgendwo musste Natalie doch stecken! Und dann sah er den hellgrauen Strickpulli, auf dem der Hinterkopf von Mickeymaus prangte. Oder von Minnie? Egal! Er hatte seine Tochter entdeckt. Als Erste draußen? In ihrem Zimmer der Brand ausgebrochen? Oh, Kind, wobei bist du nun wieder unvorsichtig gewesen? Doch Antworten auf diese Fragen waren im Moment gleichgültig. Er schlängelte sich zwischen Fahrzeugen, Schlauchrollen und Menschen hindurch, die ihn aufhalten wollten, und strebte seiner Tochter zu. Gleich würde sie sich umdrehen, ihn erkennen und auf ihn zulaufen. Ihre Arme würde sie um seine Taille schlingen, ihren Kopf würde sie an seine Brust drücken und schluchzen. »Papa, das hab´ ich nicht gewollt«, würde sie ein ums andere mal rufen. Er würde in die Hocke gehen, mit ihr auf Augenhöhe ihre Tränen trocknen, ihr liebe Worte zuraunen und sie trösten. Sie wäre endlich seine Tochter, und er wäre von nun an als ihr Vater akzeptiert! Er blieb stehen, den Moment der Vorfreude wollte er auskosten. Ein Haus konnte man wieder bauen, die Einrichtung wieder kaufen. Die Liebe seiner Tochter jedoch war unbezahlbar.

Da drehte sie sich um. Minnie Maus lachte ihn von ihrem Pullover her an. Natalie kam langsam auf ihn zu, blieb wenige Schritte vor ihm stehen. Er ging in die Hocke, strahlte.

Seine Tochter stellte die Füße schulterbreit auseinander und stemmte ihre Fäuste in die Seiten. Ihre Augen funkelten zornig. Trotzig reckte sie ihm ihr Kinn entgegen. Ihr Mund wurde breiter, die Lippen öffneten sich. Zwischen bloßgelegten Zähnen presste sie hervor: »Wetten, zu meinem nächsten Geburtstag kriege ich ein richtiges Pony!«

 

 

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