Von Marie Masse

Der halbstündige Marsch vom Büro nach Hause belebte Frank wie immer nach dem langen Sitzen am Schreibtisch. Heute war die verschneite Landschaft zauberhaft, der Schnee glitzerte in der hereinbrechenden Nacht. Da er weiter fiel, blieben die Straßen weiß und Frank hatte Spaß, seine Spur zu hinterlassen, besonders nachdem es letztes Jahr keinen Schnee gegeben hatte. Die Kälte machte ihm nichts aus, schön in seinen Parka eingemummt und mit Winterstiefeln ausgerüstet. Jetzt freute er sich auf die warme Stube und eine gemeinsame ruhige Zeit vor dem Kamin mit seiner Familie.  

 

Kaum war er über die Türschwelle getreten, da kam schon Lea angerannt.

„Papa, ich wollte das nicht!“, schrie die knapp Vierjährige und warf sich in die Beine ihres Vaters. Sie umklammert ihn so fest, dass er Mühe hatte, sich hinzuknien, um sie in die Arme zu nehmen. Sie versteckte das Gesicht in seiner Jacke und weinte herzzerreißend. 

„Was ist passiert?“, fragte Frank bange. „Wo ist Mama?“

„O…o…ben, aa…m Com…pu…t…t…ter.“

Frank verspürte Erleichterung: Klara war, wie meistens zu dieser Uhrzeit, noch bei der Telearbeit, ihr war nichts geschehen. Einen Augenblick lang hatte er etwas Schlimmes befürchtet, denn seine Tochter war kein Kind, das leicht in Tränen ausbrach. Oft bewunderte Frank, wie hart sie im Nehmen war. Sie hatte einen weichen Kern, konnte aber für eine Vierjährige mit Schwierigkeiten gut umgehen.

„Er… i…ist t…tot!“, schluchzte sie jetzt in seinen Armen.  

Ach, es ging anscheinend um eins der Tiere, die in dem von Lea gegründeten Hauszoo Zuflucht fanden. Das könnte nur eins bedeuten: Sie gab sich die Schuld an dem Tod ihres Schützlings. Weil sie Tiere über alles liebte und sich selbst schon als angehende Tierärztin sah, hatte sie aus Erfahrung gelernt, dass es Tiere gab, die sie nicht retten konnte. Sie war immer traurig, aber selten steigerte sie sich in solch einen Zustand. Der Lernprozess vor circa einem Jahr war tränenreich gewesen, aber nun zeigte sie meistens eine gewisse Vernunft. Nur wenn sie dachte, einen Fehler bei der Pflege gemacht zu haben, war sie untröstlich.

„Wer ist tot?“, fragte Frank. „Weiß Mama davon?“

Lea schüttelte schniefend den Kopf. „N…nicht … sagen!“ 

„Warum nicht?“ 

Seine Frau war meistens für alle Versuche ihrer Tochter offen. Auch die Spinne, die seit zwei Monaten ganz oben in einer Ecke von Leas Zimmer ein gemütliches Leben genoss, hatte sie akzeptiert. Frank fragte sich manchmal, ob es der Spinne bewusst war, wie viel Glück sie gehabt hatte, als sie sich nichts ahnend gerade bei ihnen einquartiert hatte. 

Aha, ging es vielleicht eben um diese Spinne – auf den Namen Leo getauft, d.h. es könnte auch zu dem „er“ passen! –, die sich auf den Boden verirrt hätte? War Lea unabsichtlich auf sie getreten? 

„Wollte nicht!“ Mit dem Gesicht fest an seine Schulter gepresst, war ihre Stimme kaum hörbar. 

„Wer wollte nicht? Du? Mama?“ Frank beugte sich nach hinten, um Lea anzuschauen. 

Endlich konnte sie ein paar zusammenhängende Worte sagen.

„Ich wollte nicht, dass er tot ist! … Und Mama wollte nicht, dass ich ihn im Haus pflege.“

Ups, die einzige Tierart, bei der sich Frank vorstellte, dass sie keine Gnade in Klaras Augen fand, wäre eine Ratte. Schlangen gab es seines Wissens hier nicht, und größere Tiere hätte die Kleine nicht allein hereintragen können. 

„Ein neues Tier?“, schlussfolgerte Frank. „Wie heißt es?“

Zu seiner Überraschung schüttelte Lea den Kopf: „Ben“. Bei der Erwähnung des Namens überwältigte sie ein neuer Tränenausbruch. 

„Und wo ist Ben jetzt?“

„Beim Ka…min. Aber er ist tot!“

Langsam dämmerte es Frank: „Und Mama wollte ihn nicht?“

„Sie hat gesagt, er wird sterben. Aber ich wollte doch, dass er es warm mit uns hat und nicht allein im Garten … Und jetzt ist er tot, ich wollte das nicht!“

„Ben … so wie im Bilderbuch gestern?“

Lea nickte. 

„Gut, dann zeigst du mir den Ben.“ Frank stand auf, nahm seine Tochter bei der Hand und ging ins Wohnzimmer.

Wie er vermutet hatte, lag vor dem Kamin ein nasser Pappkarton. Darauf hatte Lea wahrscheinlich den nachgebauten Helden getragen, den sie seit dem Vorlesen des Buches am gestrigen Abend so bewunderte, mit seinem süßen Aussehen und seinem Mut, den größeren Schneemännern zu trotzen und auf Reisen zu gehen … Von Ben blieb nur noch eine Pfütze. 

 

Bilderbuch „Ben der Schneemann“, 1.Band, Guido van Genechten, Aracariverlag

 

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