Von Yvonne Tunnat

“Guck mal, da ist Veronika!”, rief Frank und zeigte auf das andere Ende des Nichtschimmerbeckens.

Uwe folgte Franks Blick zu einem Mädchen in schwarzem Bikini. Veronika tauchte und blieb sehr lange unter Wasser. Uwe war fast versucht zu schauen, ob ihr etwas zugestoßen wäre. Dann aber tauchte sie auf, kletterte heraus und sprang vom Rand wieder hinein. Füße zuerst.

“Keine Haare heute”, brummte Frank.

“Was?”

“Frag nicht immer ‘Was?’! Dabei klingst du irgendwie…” Frank zögerte.

Dösig. Schwerhörig. Total bescheuert. So oder so ähnlich hätte Frank das vermutlich im letzten Sommer noch vollendet. Aber seit seinem Wechsel aufs Gymnasium dachte Frank länger über seine Wortwahl nach und sagte schließlich “Minderbemittelt.”

Minderbemittelt? Uwe wusste nicht, worüber er mehr rätseln sollte: über Franks Wortwahl oder über die Haare. Er entschied sich für die Haare.

“Aber sie hat Haare. Sehr viele. Echt lange.”

“Klar, die auf’m Kopf. Aber letzte Woche ist sie hier im Freibad herumgelaufen, mit einem rosa Bikini. Wenn der nass wurde – na, du weißt schon.”

Uwe sah Frank nur an, und war versucht, erneut ‘Was?’ zu fragen, als er kapierte, was sein Freund meinte.

Frank zuckte nur mit den Schultern. “Also, wie gesagt, das ist Veronika. Sie ist in meiner Parallelklasse.”

Veronika war inzwischen aufgetaucht, und sah ihn und Frank und winkte.

“Sieht nett aus”, meinte Uwe. “Seid ihr befreundet?”

Für einen Moment sah Frank ihn mit einem Ausdruck an, als sei er selber minderbemittelt.

“Sie ist doch ‘n Mädchen!”, antworte Frank dann.

Das Mädchen näherte sich. Uwe sah sich um. Offenbar waren nur ein paar Frauen im mittleren Alter und Kinder unter zehn hier. Kein Wunder, dass Veronika sich ihnen anschließen wollte. Sie war inzwischen auf Hörweite herangekommen und fragte: “Na, wie geht’s?”

Frank ließ seine Mundwinkel hängen. Uwe konnte genau sehen, wie er sie von oben bis unten musterte.

Uwe hätte gern etwas gesagt, aber er schien seine Zunge irgendwo in seinem Hals verloren zu haben. Das letzte Mal, dass er mit einem Mädchen gesprochen hatte, mit dem er nicht blutsverwandt war, musste irgendwann im letzten Frühjahr gewesen sein.

“Geht OK”, erwiderte Frank.

Für einen Moment hörte man nur den Wind. Die drei standen in dem Bereich des Nichtschwimmerbeckens, in dem das Wasser ihnen nur bis zum Bauch ging und die kalte Luft, die plötzlich vom Norden kam, legte eine Gänsehaut über ihre Oberkörper. Uwe rieb sich die Arme, Veronika glitt bis zum Hals ins Wasser, Frank schaute nur mit zusammengekniffenen Augen in Richtung des Windes, als könne er ihn überzeugen, für heute Feierabend zu machen.

“Ich hab letztens ‘der weiße Hai’ gesehen”, sagte Frank dann. “Das könnten wir irre gut nachspielen, wenn wir uns diese dicke blaue Matte da schnappen.” Die Matte war sonst fast nie frei, sie war sehr begehrt und konnte, wenn man das Gleichgewicht gut hielt, auch mal gern zwei oder drei Kinder gleichzeitig tragen. Doch heute war es so leer, dass sie keine Konkurrenz hatten.

Es dauerte nicht lange, da waren die drei vertieft in ihr Spiel. Zuerst war Veronika der Hai. Sie tauchte unter die Matte und stieß sie von unten so heftig an, wie sie konnte, während Uwe und Frank versuchten, sich oben drauf zu halten. Sie tauschten recht bald. Irgendwann kam ihnen eine Variation des Spiels in den Sinn, bei dem Frank bäuchlings auf der Matte lag, Uwe ihn schob und sie so Veronika verfolgten, die durchs Wasser lief. Auf ihrem Rücken konnte Uwe genau die weißen Streifen sehen, die ihr alter Bikini hinterlassen haben musste. Der Bikini aus hellem Stoff. An ganz anderen Stellen als der neue, schwarze. Wie lange es wohl dauert, bis die nachbräunen?, fragte sich Uwe. Ob der Rest des Sommers dazu noch ausreichte?

Er fragte sich, warum sie sich einen neuen Bikini gekauft hatte. Hatte sie gemerkt, dass man durch den anderen ihre Haare sehen konnte? Er schaute an sich selbst herunter, betrachtete seine blaue Badehose. Könnte man durch die auch Haare sehen? Er hatte ja jetzt noch keine. Uwe schüttelte den Gedanken ab, und schob Frank kräftig weiter Richtung Veronika. Ihr Haar war durch die Sonne und den Wind schon fast trocken und begann, sich zu kräuseln. Leicht lockige Haare mochte Uwe, das erinnerte ihn an alte Fotos seiner Oma. Sie hatte damals als Straßenbahnschaffnerin gearbeitet, die schwere Wechselkasse umgehängt, mit Röhren für Münzen jeder Art. Da hatte sie solches Haar gehabt. Wie nun Veronika. Inzwischen war das Haar seiner Oma sehr kurz, dauergewellt und fast völlig weiß. Die Frau auf den alten Fotos konnte man nur noch mit sehr viel Fantasie erahnen. Damals war sie jung gewesen, so jung wie Veronika. Und Veronika würde eines Tages alt sein, uralt, jedenfalls wenn ihr nichts zustieße, und dann könnte sich niemand mehr vorstellen, dass sie mal so jung gewesen war wie heute, ausgelassen weißer Hai spielte und die Chlorwassertropfen auf ihrem Rücken glitzerten.

“Sag mal, pennst du da hinten?”, rief Frank. “Komm nach vorne, wo ich sehen kann, ob du deinen Job auch machst.”

Uwe schob sich an der Matte entlang nach vorn, und zog Frank hinter sich her. So konnte er Veronikas Rücken und ihr Haar besser betrachten.

“Schnapp sie!”, befahl Frank hinter ihm, als Uwe Veronika fast eingeholt hatte.

Zaghaft berührte Uwe sie an der Schulter, fast war er versucht: ‘Tick, ich hab dich’, zu sagen, doch er war unsicher, ob er eigentlich nun die Rolle des weißen Hais hatte und der konnte ja schließlich nicht sprechen.

“Ach, du Memme,” rief Frank und Uwe konnte vor seinem inneren Auge förmlich sehen, wie sein Freund die Augen verdrehte. “Na, schnapp sie!, hab’ ich gesagt. Komm schon! Massier’ ihr die Titten!”

Seit Jahren befolgte Uwe Franks Vorschläge wie ein loyaler Soldat und war immer gut damit gefahren. In der Regel gewannen die Dinge dadurch an Schärfe, Klarheit und Bedeutung. Außerdem gab es von Frank Tipps, die schon zu neuen Freundschaften, besseren Schulnoten und weniger Ärger mit den Eltern geführt hatten. Auf Franks Worte war Verlass. Immer. So dachte Uwe nicht nach, bevor er tat, was Frank gesagt hatte. Er griff Veronika links und rechts unter die Arme, und legte seine Hände auf ihre Brüste, und spürte ihre Körperwärme. Ihre Brüste passten locker in seine Hände. Kurz drückte er zu, ‘Das muss als Massieren gelten’, dachte er, dann ließ er los und zog seine Hände und Arme wieder weg.

“Ah!”, schrie Veronika. Sie drehte sich nicht um. Sie sagte nichts zu ihnen. Sie rannte einfach, so schnell es in dem Wasser ging, zum Rand, kletterte heraus und lief fort, vermutlich zu ihrer Decke. Sie drehte sich auch beim Weglaufen nicht mehr zu ihnen um.

“Upps”, machte Frank.

Uwe wandte sich zu ihm, fragend, auf eine Erklärung, einen Ratschlag hoffend. Doch Frank sah Veronika nur hinterher, und in seinem Gesicht fand sich keine Antwort. Das war also eine Situation, in der auch Frank nichts zu erwidern wusste. Das war neu.

Zu Hause dachte Uwe an Veronika. An die glitzernden Punkte auf ihrem Rücken. Ihr Haar. Daran, wie ihre Brüste sich angefühlt hatten in seiner Hand. Wie sie geschrien hatte und geflüchtet war. Etwas wuchs in seinem Bauch. Etwas stumpfes, graues, das sich dehnte und mehr und mehr Platz einnahm. Er stellte fest, dass er nichts essen konnte. Nicht einmal Kaugummi, dabei blieb das ja im Mund und kam nie bis zum Magen. Doch es schmeckte zäh und blieb an den Zähnen kleben, ganz anders als sonst. Er spuckte es aus und trank eine Sprite hinterher, aber auch die schmeckte nicht, sie hinterließ nur ein taubes Gefühl auf seinem Gaumen. Er setzte sich vor den Fernseher, aber der schien komisch eingestellt zu sein. Die Bilder wirkten farblos und die Stimmen dumpf, als ob die Schauspieler allesamt nuscheln würden.

Das Ding in seinem Bauch wuchs hoch bis zu seiner Brust, seine Kehle hoch und würde jeden Moment aus seinem Mund herauswachsen, wenn er nicht etwas unternähme.

“Und wenn ich sie nie mehr wiedersehen würde?”, fragte er halblaut sein Spiegelbild im Hausflur. Einfach nie mehr ins Freibad. Nicht mehr ins Jugendheim. Einfach Zuhause bleiben. Ihr nicht mehr in die Augen schauen müssen. Nein, das war keine Lösung.

Sein Vater kam nach Hause. Als er die Tür hinter sich abschloss, stand Uwe direkt vor ihm im Flur und sah ihn an.

Der Vater hielt inne, sah auf seinen Sohn und wartete. Wartete ziemlich lange, doch er schien zu spüren, dass etwas kommen würde, wenn er nur die rechte Geduld aufbringen würde.

“Sag mal”, fing Uwe an und schaute auf die Schuhe des Vaters. “Kannst du nochmal losfahren? Kannst du mich zu einem Mädchen fahren? Es heißt Veronika. Ich möchte mich für etwas entschuldigen. Frank kennt sicher ihren Nachnamen. Dann finden wir ihre Adresse im örtlichen Telefonbuch. Ich lauf kurz rüber zu ihm. Bringst du mich dann hin?”

Der Vater betrachtete seinen Sohn, der den Blick nicht von seinen Schuhen löste. Die rechte Hand rieb die linke. Der schlaksige Körper, in dem er noch nicht so ganz angekommen zu sein schien. Ein kaum sichtbarer Flaum auf der Oberlippe, den er vor nächstem Sommer vermutlich nicht würde rasieren müssen. Die ersten Fragen, die eigentlich längst hätten kommen müssen. Antworten, die er hätte geben müssen, vielleicht sogar, ohne gefragt zu werden. Uwes Vater widerstand den Fragen, die er nun gern gestellt hätte. ‘Warum entschuldigen? Was habt ihr angestellt?’ Er sagte nur: “Ja. Lauf rüber zu Frank. Ich lege meine Tasche ab und warte dann vor dem Haus auf dich.”

Uwe schoss an ihm vorbei, fast, als hätte man ihn aus einer Zwille gefeuert. Er atmete schwer, als er nur Sekunden später vor Franks Tür stand und klopfte. Immerhin war das Ding in seinem Bauch nun so weit zurückgewichen, dass er problemlos sprechen konnte.

Frank öffnete mit einem Becher Joghurt in der Hand, aus dem er trank. Seine Mundwinkel waren voller pinker Creme.

“Weißt du Veronikas Nachnamen?”, fragte Uwe.

“Möhlenkamp, wieso?”

Uwe zögerte, dann sagte er: “Ich will im Telefonbuch ihre Adresse nachschlagen. Dann fährt Papa mich hin. Ich will mich entschuldigen.”

Er befürchtete, Frank würde nun etwas fragen wie: ‘Wofür denn?’ oder sagen ‘Die soll sich nicht so anstellen’ oder auch ‘Ist halt ihr Pech‘.

Doch er wischte sich den Joghurt aus den Mundwinkeln und sah Uwe an, direkt in die Augen.

“Ja”, erwiderte er. Und dann, nach kurzem Überlegen: “Ich komme mit.”

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