Von Gabriele Lengemann

Nach der Trennung von meinem Mann im August 2012 wohnten mein Sohn Lukas und ich noch einige Jahre in dem hübschen Reihenhaus in Oldenburg, das mein Mann einst für uns drei gemietet hatte.

Es geschah an einem sonnigen Oktobernachmittag. Ich saß auf der grünen Holzbank unter dem Apfelbaum im Garten. Die Sonne schien seit Tagen immer noch sehr warm und ich trug die schicken Riemchensandalen, die mir Matthias im Sommerurlaub in Italien gekauft hatte. Da hatte er sich bereits in eine Arbeitskollegin verliebt und ein Verhältnis mit ihr begonnen.  Am Ende unserer Reise hat er es mir dann gebeichtet und kaum waren wir aus Italien zurück, zog er aus.

Ich war verletzt, zornig und traurig und ich schlief kaum noch. Dabei musste das Leben von Lukas und mir neu organisiert werden. Ich musste meine Arbeitszeit aufstocken, damit ich die Miete weiter aufbringen konnte und ein Betreuungsplatz für Lukas musste her, er war damals ja erst 8 Jahre alt. Ich machte mir Sorgen um Lukas, er war so still und in sich gekehrt, seit sein Papa fort war und er litt zusehends darunter, dass Matthias so wenig Zeit für ihn hatte.

An diesem Oktobertag fühlte ich mich zum ersten Mal etwas besser. Ich genoss die Sonne und ein Gefühl von Zuversicht begann sich in mir auszubreiten. Ich würde zum 1. Januar eine Ganztagsstelle bekommen. Bis dahin sollte doch für die Betreuung von Lukas eine Lösung zu finden sein. Heute hatte er nach Schulschluss einen Klassenkameraden zum Spielen mitgebracht und die beiden hatten sich nach dem Essen in Lukas` Zimmer zurückgezogen. Nun stürmten sie in den Garten und auf mich zu. Lukas voran, mit dem Fußball unter dem Arm. „Mama kannst du dich ins Tor stellen?“ bat er mich. Ich konnte. Und ich hielt, trotz der Sandalen an meinen Füßen, den ersten Schuss. Der Fuß, mit dem ich den Ball abgewehrt hatte, brannte heftig und ich hüpfte, übertrieben jammernd, auf einem Bein herum.  Das führte zu lauten Heiterkeitsausbrüchen bei den Jungen.

„Junge Frau, es ist Mittagsruhe, lassen sie die Gören woanders spielen, sonst komme ich Ihnen mal darüber“, brüllte auf einmal der Nachbar von nebenan. Wir schreckten zusammen und ich bat die Kinder ins Haus zu gehen und dort auf mich zu warten.

Seit Matthias ausgezogen war, benahm sich Herr Schäfer noch ruppiger und schroffer mir und Lukas gegenüber und maßregelte uns, wo es nur ging. Flog ein Federball in seinen Garten, kassierte er ihn einfach ein. Letzten Sonntag trocknete ich die Trikots von Lukas` Fußballverein draußen auf der Wäschespinne und er gab mir lautstark zu verstehen, dass sich so etwas an einem Sonntag nicht gehöre.

Jetzt war aber Schluss. Ich trat an die kleine Hecke, die unsere Grundstücke voneinander trennte.         „Ich verstehe gar nicht, wie ihre Frau es mit ihnen aushält“, rief ich. „So eine nette Frau und so ein Unsympath.“ Normalerweise trete ich nicht so aggressiv auf, aber nun platzte alles an Frust aus mir heraus, was sich die letzten Wochen angesammelt hatte. Ich war fest entschlossen, mir nichts mehr gefallen zu lassen. Es dauerte eine ganze Zeit, bis ich aufhören konnte, Herrn Schäfer zu beschimpfen. Ich glaube „Miesepeter“ und „Kinderschreck“ gehörten noch zu den harmloseren Bezeichnungen, die ich ihm an den Kopf warf.

Er entgegnete nichts und verschwand im Haus.

Danach ging es mir besser. Ich rief nach den Kindern und schlug einen Ausflug zu McDonald`s vor. Wir amüsierten uns prächtig bei Hamburgern, Pommes und Eis. Als wir wieder in unsere Straße bogen, stand ein Notarztwagen vor dem Haus des Ehepaares Schäfer.

Das beunruhigte mich sehr und abends, als Lukas schlief, rief ich drüben an. Es war schrecklich. Frau Schäfer berichtete mir, dass ihr Mann einen Herzinfarkt erlitten habe und auf der Fahrt ins Krankenhaus verstorben sei.

Ich war schockiert und hatte wochenlang ein furchtbar schlechtes Gewissen.  Frau Schäfer, die meinen Zornesausbruch gegenüber ihrem Mann ja gehört hatte, versuchte es mir zu nehmen.

„Mein Mann war schon lange herzkrank“, sagte sie, „aber er hat jegliche ärztliche Behandlung abgelehnt. Er war auch immer schon schnell aufbrausend und wirklich ein Miesepeter, aber nach dem frühen Asthmatod unseres Sohnes ist das noch viel schlimmer geworden. Eine Operation zur Erweiterung seiner Herzkranzgefäße hat er auch kategorisch abgelehnt.  Unser Hausarzt hat sich im Nachhinein gewundert, dass sein Herz das solang mitgemacht hat und er so alt geworden ist“.

Ich war trotzdem untröstlich und fühlte mich schuldig. Frau Schäfer tat mir unendlich leid. Erst hatte sie den einzigen Sohn und nun auch den Ehemann verloren. Wie schrecklich das war. Ich übte Wiedergutmachung, indem ich für sie einkaufte, sie in die Stadt und zum Arzt fuhr und mich ein wenig um ihren Garten kümmerte. Lukas und ich holten sie an den Feiertagen, zu Weihnachten und Ostern zu uns und im Sommer luden wir sie zum Grillen ein.

Aber eigentlich hat sie mir weitaus mehr geholfen. Sie hat sich oft um Lukas gekümmert, wenn ich arbeiten musste, hat für ihn gekocht und ihn bei den Hausaufgaben unterstützt. Ja und sie hat sich sogar ins Tor gestellt, wenn er es von ihr verlangte. 

Christa Schäfer ist mir eine richtig gute Freundin geworden und für Lukas war sie eine Ersatzoma. Lukas und ich lebten uns ein in unserem neuen Alltag und dass es so gut klappte, war auch Christa zu verdanken.

Im letzten Jahr entschloss sie sich dann, ihr Haus zu verkaufen und zog in eine Betreute Wohnanlage. Alle zwei Wochen besuchen Lukas und ich sie dort. In letzter Zeit wirkt sie gesundheitlich sehr angeschlagen. Sie sieht zunehmend schmal und zerbrechlich aus, aber sie lächelt immer, wenn sie uns sieht, obgleich es manchmal etwas dauert, bis ihr unsere Namen einfallen.

„Es wurde eine leichte Demenz bei mir festgestellt“, erklärte sie uns bei unserem letzten Besuch.  Sie wirkte teilnahmslos, als wir uns verabschiedeten und zum ersten Mal begleitete sie uns nicht nach draußen.

Lukas ist mittlerweile einen Kopf größer als ich, er legte seinen Arm um meine Schulter, während wir schweigend zurück zum Auto gingen. „Vergessen kann auch ein Segen sein, sie hat so viel Schreckliches erlebt“, begann ich. „Mit mir nicht“, entgegnete Lukas, „wir hatten es immer schön und ich werde nichts davon vergessen und ihr auch immer wieder davon erzählen.  So oft hatte sie nach dem Mittagessen noch ein Eis oder einen Donut für mich und sie hatte auch viel mehr Geduld als du, wenn ich in Mathe mal wieder auf dem Schlauch stand“, erinnerte er sich. 

„Beim Fußball hat sie allerdings an deine Fähigkeiten als Elfmeter-Killer nicht herangereicht“, fügte er lächelnd hinzu.

Ich sah meinem großen, wunderbaren Sohn an und eine Welle von Zärtlichkeit durchflutete mich. Für einen Moment lehnte ich den Kopf an seine Schulter und drückte mein Gesicht in die weiche Wolle seines Pullovers.

 

 

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