Von Angelika Brox

„Muss ich wirklich zum Jugendbund?“, fragte Willi Wildschwein unglücklich.
Sein Vater, der größte und stärkste Eber im Dunkelwald, grunzte und zeigte drohend die Eckzähne.
„Dort wirst du abgehärtet“, grollte er. „Keine Widerrede, sonst setzt es was!“
Demütig senkte Willi den Kopf. Er wusste nur zu gut, was sein Vater mit es setzt was meinte. Die Narben konnte man bei ihm und seinem Zwillingsbruder Wilbur durch das weiche Jugendfell deutlich erkennen.
Wilbur stand bereits startklar vor ihrem Ruheplatz und deutete zum Himmel.
„Los, Willi, der Mond geht schon auf“, drängelte er. „Sei kein Frosch! Beim Jugendbund Heimattreue machen wir doch jedes Mal tolle Sachen!“
Ja klar, dachte Willi, marschieren, kämpfen, Mutproben …
Seufzend stapfte er an die Seite seines Bruders. Die beiden hoben ein Vorderbein zum Abschied und machten sich auf den Weg.
„So mag ich meine Jungs“, sagte die Mutter und lächelte stolz, während sie ihren Kindern nachsah.
Der Vater rief ihnen hinterher: „Ich bin gespannt, wer von euch heute beim Wettkampf Sieger wird! Macht mir keine Schande!“

Unterwegs begegneten sie Chantal Schwein. Sofort wurde Willi rot. Er bekam immer Herzklopfen, wenn er sie sah, denn sie war nicht nur lieb und klug, sondern außerdem die hübscheste Sau im Wald – und seit kurzem seine Freundin!
Wilbur grinste. „Ich geh schon mal vor“, meinte er und verschwand zwischen den Buchenstämmen.
Chantal lächelte Willi an. „Sehen wir uns heute noch?“
„Das kommt darauf an, wie spät es beim Jugendbund wird.“
Ihr Gesicht wurde ernst. „Mir wäre es lieber, wenn du nicht bei denen mitmachen würdest. Diese Heimattreuen sind brutal. Für die zählt nur ihre sogenannte völkische Gemeinschaft und sie hassen alle Fremden.“
„Ich weiß“, seufzte Willi. „Wie gerne würde ich bei dir bleiben! Aber wenn ich nicht hingehe, bestrafen mich meine Eltern. Die können auch echt brutal sein.“
„Dann wünsche ich dir, dass es heute nicht so lange dauert. Und falls du hinterher noch Lust hast, darfst du mich gerne besuchen.“
„Das mache ich auf jeden Fall. Die Vorfreude wird mir helfen, den Abend zu überstehen.“
Er drückte ihr einen Kuss auf den Rüssel und eilte seinem Bruder nach.

Auf der Großen Lichtung waren schon alle versammelt: Eberhard Eber, Hagen Hängebauch, Knut Keiler, Sonnwinn Schwein, mit erwartungsvoll glitzernden Augen der Nachwuchs Folkward und Frowin Frischling und natürlich Wilbur. Als Mitläufer hatten sich Werner Wolf und Lukas Luchs dazugesellt.
Vor der Gruppe stand breitbeinig Wotan Warzenschwein, ihr Kameradschaftsführer, und hielt eine Ansprache.
„Zu spät, Wildschwein!“, raunzte er Willi an. „Los, einreihen!“
Eilig huschte Willi auf seinen Platz neben Wilbur.
Wotan Warzenschwein fuhr mit seiner Rede fort: „Also diese minderwertigen Dachse, die neuerdings in unserem Wald ihr Unwesen treiben, die wollen sich anscheinend dauerhaft hier niederlassen. Mit ihren seltsamen weißen Streifen am Kopf passen sie nicht zu uns. Überall buddeln sie ihre Höhlen und Gänge und bedrohen unseren Lebensraum. Das muss ein Ende haben!“
Er  befahl seiner Truppe, sich zu zweit aufzustellen und im Gleichschritt um die Lichtung zu marschieren, immer im Kreis herum. Dazu sollten sie in Endlosschleife skandieren: „Dachse aus den Höhlen raus! Weißgestreifte sind ein Graus! Dachse aus den Höhlen raus! Weißgestreifte sind ein Graus!“

Willi konnte schon gar nicht mehr zählen, wie oft sie ihre Parole in die Nacht hinausgebrüllt hatten, und ihm brummte der Schädel, als plötzlich der Späher Sigurd Schwein durchs Unterholz brach.
„Ich hab` die Dachsfamilie aufgespürt!“, keuchte er. „Auf der abgegrasten Weide!“
„Die Bande packen wir uns!“, brüllte Wotan Warzenschwein und stürmte los. Die anderen galoppierten hinterher. Willi folgte mit einigem Abstand; er wusste nicht so recht, was er machen sollte.
Da lichtete sich auch schon der Wald und im blassen Mondlicht sah er die Fremdlinge mit den weißen Streifen, die friedlich im Gras nach Würmern suchten. Durch den Lärm der herantobenden Meute aufgeschreckt, sprangen die Dachse in alle Richtungen davon, machten dann aber eine Kehrtwendung, um sich zur Wehr zu setzen. Die Angreifer rannten quiekend und kreischend auf sie zu, rempelten und stießen mit Schnauzen und Köpfen, die Dachse wichen aus, knurrten und fauchten, die Schweine versuchten sie zu beißen und umzuschubsen, die Dachse schnappten zurück … Es herrschte ein Durcheinander und ein Lärm, als würde die Welt untergehen.
Willi stand hinter einem hohen Farnbüschel und starrte fassungslos auf das Kampfgetümmel. Am meisten entsetzte ihn, dass auch sein Bruder kräftig mitmischte. Gerade versuchte er, einen jungen Dachs mit seinem Körpergewicht umzuwerfen. Plötzlich raste Wotan Warzenschwein mit donnernden Hufen an ihm vorbei und trampelte über den Jungdachs hinweg. Der Kleine blieb reglos am Boden liegen.
Wilbur erstarrte. Vorsichtig stupste er das Opfer an. Vergeblich. Der kleine Dachs rührte sich nicht mehr.
Panisch schaute Wilbur sich um. Als er Willi entdeckte, schrie er: „Das habe ich nicht gewollt!“
Willi rief: „Komm mit!“
Er drehte sich um und rannte los. Erleichtert stellte er mit einem Blick über die Schulter fest, dass sein Bruder ihm folgte.

Sie rannten, bis sie das Brombeergestrüpp erreichten, in dem Chantal mit ihrer Familie lebte.
Während Willi berichtete, was geschehen war, schüttelte Wilbur die ganze Zeit den Kopf und murmelte: „Das habe ich nicht gewollt. Das habe ich nicht gewollt.“
Als Willi alles erzählt hatte, rief Chantal: „Ihr dürft nie mehr bei diesem Verein mitmachen!“
„Ich weiß, wie die drauf sind“, warnte ihr Vater. „Wer aussteigt, gilt als Verräter und wird gnadenlos verfolgt.“
Wilbur begann zu zittern.
„Ich … ich kann da nicht mehr hingehen“, stammelte er.
Chantals Mutter setzte sich dicht neben ihn, grunzte beruhigend und sagte: „Am besten flieht ihr noch heute Nacht in den Raschelwald. Fragt dort nach Schönhilde Schwein. Schönhilde ist eine alte Freundin von mir. Sie hasst die Heimattreuen und wird euch bestimmt aufnehmen.“
Nachdem Chantals Mutter ihnen den Weg beschrieben hatte, verabschiedeten sich die beiden Brüder. Willi gab seiner Freundin noch viele Rüsselküsse, dann wurde es Zeit zu gehen.

Schweigend trabten die Brüder nebeneinander her, jeder in seine Gedanken vertieft.
Nach einer Weile zeichnete sich die Silhouette des Raschelwaldes vor dem Nachthimmel ab. Am Glitzersee legten die beiden eine kurze Rast ein, um zu trinken. Der Mond malte silberne Lichter auf das Wasser. Willi blickte zu den funkelnden Sternen hinauf und sein Herz zog sich zusammen vor Sehnsucht. Wann würde er Chantal wiedersehen?
In diesem Moment raschelte es im Gras. Erschrocken fuhr er herum und konnte kaum glauben, was er sah. Vor ihm stand Chantal, vom Mondlicht übergossen, so schön, als könnte es in dieser Welt nichts Hässliches geben.
Sie schaute ihm ernst in die Augen und sagte: „Ich begleite euch. Mit diesen Heimattreuen gefällt mir der Dunkelwald nicht mehr. Wenn wir bei Mamas Freundin angekommen sind, müssen wir überlegen, was wir gegen Wotan und seine Leute unternehmen können.“
„Das ist eine gute Idee“,  meinte Wilbur und wirkte schon etwas weniger verzweifelt.
„So machen wir es“, stimmte Willi zu. Er lächelte seine Freundin an und gab ihr ein inniges Nasenküsschen.
Zu dritt wanderten sie weiter und hofften, dass sich bald alles zum Besseren wenden würde.

 

 

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