Von Dilan Canbaz

Es ist absolut still, der 31. Dezember. Ich liege endlich nach einer erholsamen Nacht, die ich seit Tagen nicht mehr hatte, gelassen im Bett. Erste Feststellung: Die Zeit. Ich stelle gleich die Zeit am Handy fest, die 6 Uhr 10 anzeigt. Acht Stunden lang war ich vom Schlaf übermannt. Eine gute erste Feststellung. Wie üblich mache ich damit Schritt für Schritt weiter. Raum: Der Körper lebt, fühlt sich frisch an, verursacht keine bedenklichen Schmerzen und das Allerwichtigste, das System, der Kopf ist intakt und gerade besonders gutmütig. Alle Voraussetzungen für ein gelungenes Silvester und einen guten Rutsch ins Neujahr sind somit gegeben: Die Welt ist in Ordnung.

Seit Tagen und Nächten bestürmen mich sonst zu unbestimmten Zeiten hartnäckige Gedanken über die Natur, Welt und diese Menschen, die mich ringsum umgeben, die keinerlei Ahnung von jeglicher Freiheit haben und keine systemkritische Meinung zulassen, aus Angst, sich damit etwa zu beschweren und deshalb nur dahinleben, weil sie wirklich glauben, sie könnten nur so als Mitläufer mit sich und der Allgemeinheit solidarisch bleiben. Kaum möchte sich mein Verstand auch anschließen, protestiert mein stiller, ungezähmter Wille: „Lass uns doch zumindest in der eigenen Meinung wild und frei bleiben.“ Der Kopf wehrt sich: „Mag aber kein Hin und Her. Lass uns leicht ohne Mühe mit der Flut dahinfließen, wir könnten sicher auch ohne Abenteuer oder etwas zu meinen, irgendwie existieren.“

Das ist eine der Schwächen meines Willens. Er ist empfindlich, unbewandert, weiß meist versteckt in der Tiefe gar nichts über diese Außenwelt oder nur so viel, wie er die Welt wild und frei von innen kennt. Daher steht er meistens in keinem guten Verhältnis zum Kopf und hat dauernd Angst vor ihm. Ich will aber endlich Frieden, ein Ausgleich muss dringend her, dieser ständige Krieg ist aber trotzdem noch hier. So ist vielleicht die ganze Welt, dieser Gedanke tröstet und beruhigt mich hin und wieder. Vertieft in dieser Fantasie – ich möchte eine Lösung finden –  klingelt plötzlich das Telefon…

Kopf: „Warum auch nicht? Einen so guten Tag hatte ich letztens selten. Die Freude lässt sich leicht teilen.“

Eine sanfte, unbekannte Stimme sagt mit gewisser Vorsicht: „Ich werde Ihre Zeit nicht allzu lang in Anspruch nehmen.“

„Ich bin aber heute nicht im Dienst.“ Zugleich ist der Kopf von der Zartheit der klaren, warmen Töne dieser tiefsten Stimme derart gefesselt, dass er und alles, was sich in ihm dagegen wehren will, schnell entmachten lässt. Vielleicht waren ihm die eintönigen Feiertage zu lang oder die Sehnsucht nach einem tiefgründigen Gespräch viel zu groß.

„Ich hätte nur eine einzige Frage. Können Sie mir vielleicht sagen, was ich tun kann, wenn gar keine Lust mehr zum Leben vorhanden ist, aber auch kein Mut, dieses selbst zu beenden? Ich hoffe jeden Tag, dass das einfach von selbst passiert. Mir bleibt nur die Hoffnung. Diese ist mir inzwischen reine Zeitverschwendung.“

 „Warum wollen Sie nicht mehr leben?“

 „Warum sagen Sie mir nicht einfach, wie ich das Ende am besten veranlassen könnte?“

„Erzählen Sie mir ein bisschen von sich selbst, vielleicht kann ich Ihnen dann in etwa sagen, warum Sie so unwillig sind.“

Heimlich muss ich immer lachen, wenn ich daran denke, dass ich als Psychologe Menschen trotz all meiner Defizite helfen kann. Aber so ist das vielleicht allseits.

„Alles ist verstellt. Nichts bleibt echt, was menschlich greifbar ist. Ich suche dennoch etwas Fundamentales, Wahrhaftiges, was mich endlich beruhigen könnte und dass ich nicht so hartnäckig auf meinen Abgang beharren würde. Ich finde aber gar nichts, bleibe weiter in meinem Versteck. Ich bitte nun um eine ehrliche Antwort. Helfen Sie mir, man behauptet allseits, dass Sie überaus fähig und intelligent sind.“

Der Kopf ist überrascht, denkt und denkt und fragt sich: „Woher weiß sie das alles? Der Geist dieser Sprache taucht genau wie aus meiner Tiefe auf. Das Gefühl, augenblicklich alles zu geben, um diesen Geist womöglich, und überhaupt das Leben vor seinem Ende zu bewahren, ist enorm stark. Die Macht ihn von seinem Vorhaben abzubringen, ist momentan in den meisten Szenarien enorm klein. Der Wille ist eben meistens so.“

Der Kopf beginnt einmal sanft und ehrlich zu philosophieren: „Wenn der geistige Wille schwach ist, ist man unzurechnungsfähig. Nur ein starker Geist, ich meine das Unbeeinflussbare im Körper, kann aufnehmen, sich überzeugen und schließlich die Entschlossenheit erlagen. Dieser ist nur dann auch mutig und macht das, was dem geistigen Körper entgegenkommen würde.“

„Schön, dass Sie sich auch so gut auskennen. Der Kopf ist aber trotzdem allzeit dagegen, obwohl er das alles genau weiß und dass der Mensch nicht nur aus Körper und Verstand besteht.“

„So kann er besser überleben“. Ich weiß noch etwas: „Kein gesunder Geist will sich beenden. Ich vermute, Sie brauchen mehr Hilfe als eine ehrliche Antwort auf Ihre Frage.“

„Dann helfen Sie mir doch. Jeder will nur schön reden. Ich will nicht mehr so denken, wie alle sprechen und mich auch nicht mehr belügen und einfach akzeptieren, dass alles so ist, wie es ist. Ihre Wahrheiten können doch nur dann stimmen, wenn der Kopf aufhört, überall einzugreifen und alles zu seinem Zweck zu zerstören. Glauben Sie mir nun etwas. Das Vernünftige macht vielmals schwach und leidend. Nichts, kein Geist wird von selbst krank.“

„Wir sind aber nun hier. Wir könnten etwas Großartiges aus uns machen oder uns lebenslang mit all den Überlegungen belasten. Ich muss auch viel leiden, am Ende muss ich mich aber anpassen.“

„Mir ist das alles zu viel. Jeder will das Beste. Niemand denkt mit, dass man dieses Beste aber dann ständig schützen muss.“

Es ist mir ein Genuss, einmal nicht heuchlerisch zu reden. Ich habe auch eine Frage: „Wie könnte ich Sie besser kennenlernen, ohne viel von meinen Idealen zu verlieren?“

„Man kann doch nicht alles haben. Ich will ebenso nicht viel von mir aufgeben. Ich will aber auch nicht mehr leben. Es ist aber nun schön mit Ihnen zu reden. Ich könnte vielleicht ein wenig auf meine Wildheit verzichten.“

„Ich könnte versuchen, möglichst mein vorurteilsbehaftetes Benehmen nicht in Anspruch zu nehmen. Wir können viel voneinander lernen. Ich mag Ihre direkte Art und Ihr mutiges Wesen. Ich will Sie sehen.“

„Ich werde mir das überlegen. Ich glaube, wir könnten sogar gute Freunde werden. Machen Sie sich trotzdem keine allzu große Hoffnung, ich habe lange schon keine ausreichend große Kraft mehr.“

 

Dilan Canbaz

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