Von Claudia Lüer

Das fehlende Frühstück trieb meine Laune in den Keller. In finstere, muffige Gewölbe, die ungeahnte Abgründe offenbarten. Mein leerer Magen, in sich zusammengekauert und auf die Größe einer Glasmurmel geschrumpft, zwang mich schonungslos dazu, meine Aufmerksamkeit auf ihn zu richten. Wie ein ausgehungerter Löwe lauerte er im Dunkel meiner Bauchhöhle und ließ, hinter maximaler Angriffslust versteckt, auf meiner Haut spitze Stacheln wachsen. Gereizt erhöhte ich das Tempo und suchte ihren Windschatten. Um keinen Preis wollte ich zulassen, dass mir der Hunger wertvolle Energie abzapfte. Zu sehr steckte mir der Galibier vom Vortag noch in den Knochen.

Ruhig und rund trat sie in die Pedale und gab ein gleichmäßiges Tempo vor. Zum ersten Mal störte es mich, dass sie wie selbstverständlich voranfuhr. Dass dich nichts aus dem Tritt bringt, kein früher Start, kein knurrender Magen, kein Galibier, dachte ich und bemerkte die aufkeimende Wut im Bauch, die sich freundschaftlich zu meinem rebellierendem Löwen gesellte.

Unsere Gegensätzlichkeit hatte mich stets inspiriert, hatte ungeahnte Stärken in mir wachgerüttelt. Türen zu noch verschlossenen Räumen geöffnet, hinter denen sich Aufregendes verbarg, von Herzen dankbar dafür, endlich entdeckt zu werden. Sie hatte noch unberührte Saiten meiner Seele angestimmt. Hatte hartnäckig den Finger in Wunden gelegt, die ohne ihre Hilfe niemals verheilt wären. Doch in diesem Moment empfand ich es als Last, dass wir so unterschiedlich waren, während ich angestrengt versuchte, den hungrigen Löwen in mir auf später zu vertrösten, mich auf meinen Atem zu konzentrieren und die Gedanken in meinem Kopf durch gleichmäßiges Treten in Schach zu halten. Sie in schusssichere Westen zu verpacken, damit sie nicht mehr rasen konnten, sich nicht mehr verrannten.

Jetzt komm mal runter, versuchte ich mich zu beruhigen. Schließlich kann sie auch nichts dafür, dass es in dem Gasthof heute Morgen noch kein Frühstück gab. Sicher, sie war es, die auf diesen frühen Start bestand. Mit der gewohnten Vehemenz, die keine Widerworte zuließ. Doch zugegeben war es vernünftig, vor der glühenden Mittagshitze den größten Teil des Anstiegs geschafft zu haben. Wieder einmal hatte sie recht. War die Erfahrene, Wissende, die alles im Griff hatte und mich fürsorglich an die Hand nahm.

Der ersehnte Flow wollte sich nicht einstellen. Heute nicht. Es blieb harte Arbeit. Bis wir nach einer Stunde und zwanzig Minuten den Gipfel erreichten, den Col d’Izoard. Die aufgehende Sonne entschädigte für unsere Mühen. Tief tunkte sie ihre Strahlen in ihren unerschöpflichen Farbvorrat, um dann mit langen, satten Pinselstrichen die umliegenden Berggipfel in ein leuchtendes Orangerot zu verwandeln.

Verzaubert hielten wir inne und ließen der wohltuenden körperlichen Erschöpfung freien Lauf, sich in uns auszubreiten wie ein süßer Duft, der, leicht und unsichtbar, bis in die hintersten Winkel wabernd, eifrig sein Aroma verströmte. Die angenehme Morgenfrische machte den Geist hellwach, erschuf in uns eine besondere Aufnahmebereitschaft, das majestätische Leuchten zu absorbieren, bis tief in die Lungen einzuatmen und in die Seele zu brennen, mit einer Klarheit und Kraft, wie ich sie bis dahin nie kennengelernt hatte. Die Stimmung war magisch, wollte schon jetzt, da die Intensität des Gegenwärtigen noch Bestand hatte, flüchten, eingefangen und sofort wiederbelebt werden. Die Sinne durch harte Anstrengung auf höchste Empfangsbereitschaft getunt, um dann mit fantastischen Ausblicken und funkensprühenden Herzen belohnt zu werden.

Es war der sechste Tag unserer gemeinsamen Radtour, die am Genfer See begann und morgen in Gap enden sollte. Ich hatte die Radtour-light gewählt: Eine Woche creditcard-biking durch die französischen Alpen. Mit Gepäck und der Gewissheit, jeden Abend eine warme Dusche und ein weiches Bett zu haben. Für Charlotte, die sich mit unserer Tour nur warmmachte, ging es mit ihrem Mann in Gap dann erst richtig los. Natürlich kam für sie nur die Hardcore-Variante in Frage. Mit Zelt und kompletter Camping-Ausrüstung auf den Hinterrädern, wollten sie durch den Süden Frankreichs radeln. Sie waren ein über viele Jahre eingespieltes Team. Wie Stefan und ich. Beide liebten sie diese Art des Reisens, bei der man jeglichen Comfort entbehrt und die Bereitschaft zeigen sollte, seinem Rücken aus freien Stücken eine Dauerbelastung zuzumuten, die vor allem bei den Halswirbeln keine Partylaune aufkommen lässt. Dafür hat man jedoch, wenn das Wetter einigermaßen mitspielt, ein unvergessliches Genusserlebnis der besonderen Art, bei dem man Land und Menschen ungeschminkt kennenlernen kann.

Etwas wehmütig dachte ich an die abenteuerreichen Radreisen mit Stefan zurück, als wir mit hohem Tempo und einem eisigen Wind im Gesicht bergab fuhren, bevor wir uns in Le Veyer endlich über ein leckeres Frühstück hermachten. Noch vor einem Jahr wäre eine Radtour wie diese undenkbar gewesen, hätte sie mich doch zu sehr an das Vergangene erinnert. Der Sog des Trauerns und Bedauerns war noch zu stark, die Wunden zu frisch und die Angst vor Berührung zu groß. Die Seele zusammengerollt wie ein Igel, der Blick nur ins Innen, das aufgeräumt und geheilt werden wollte. Ich war unendlich dankbar, dass es heute, ein ganzes Jahr später, wieder ein Außen gab, das ich fühlen und genießen konnte. Das meine wiederbelebte Seele beeindruckte.

Durch ein reichhaltiges Frühstück gestärkt, machten wir uns auf in Richtung Guillestre, wonach uns der zweite knackige Anstieg an diesem Tag erwartete. An unserem Zielort auf 1830 Metern Höhe, Vars les Claux, hatten wir eine vielversprechende Unterkunft reserviert, bevor wir dann morgen mit frischer Kraft die letzten 300 Höhenmeter auf den Col de Vars, den letzten Gipfel unserer Tour, klettern wollten.

Der Anstieg war steiler als wir dachten, zudem knallte die Mittagshitze unerbittlich auf unsere Helme. Jedes Mal, wenn ich dachte, meinen Tritt gefunden zu haben, zwang sie mich wieder zum Anhalten. Diese Marotte von ihr war mir vertraut, fast hatte ich sie lieb gewonnen, aber heute brachte sie mich zur Weißglut. Wieso muss man sich ständig das Gesicht nachcremen, fragte ich mich genervt. Beim nächsten Stopp drückte die Hosennaht, der Helm saß zu locker, die Brille war verschmiert oder das hübsche Blümelein am Wegesrand musste unbedingt fotografiert werden. All das störte mich heute maßlos. Warum?

Mit gut zehn Jahren Abstand betrachtet, fügten sich die Puzzleteile zu einem Gesamtwerk. Seitdem wir damals in Lausanne starteten, schwängerte es die glasklare Luft. Wir schleppten es mit die Berge hoch, strampelten dagegen an. Es war wie Rosenkohl essen. Man macht es, weil es gesund ist und nimmt den leicht bitteren Beigeschmack in Kauf. Ich hatte Charlotte viel zu verdanken. Sie war da, als Stefan ging. War mein Rettungsanker, als sich alles Dagewesene umkehrte. Ihre selbstvergessene Fürsorge, die langwierigen Gespräche zur Klärung der Frage Warum?, in denen sie mir stets ein wertvolles Gegenüber war, taten gut. Spiegelten, befreiten und rückten ins rechte Licht. Trugen dazu bei, mich nach und nach aus den klebrigen Trauer- und Bedauertentakeln zu befreien. Ohne sie hätte ich es nicht geschafft.

Und doch war da von Anfang an diese leise Ahnung. Dass sie es nicht nur für mich machte. Dass all ihr Bemühen einem grauenhaften Selbstzweck zum Opfer fiel, der sich, unerschrocken und rücksichtslos, vorgenommen hatte, während unserer Radtour seinen Höhepunkt zu finden. Der täglich Höhenmeter vorweisen wollte, sich vollstopfte mit Gipfeln, bis er sich schließlich auf dem letzten entladen konnte. Alle Last ausspuckte, sich freisprach von Schuld, die wie tosendes Geröll den Abhang herunterkrachen konnte. Ins Nichts. Wo sie niemals von Menschen gefunden werden würde und auf ewig verschüttet blieb.

Ihr Blick und der Klang ihrer Stimme verrieten, dass sie sich heute, während wir auf unseren letzten gemeinsamen Gipfel kletterten, mit einem Geständnis reinwaschen wollte. Aus einer falschen Gewissheit heraus. Vielleicht wünschte sie sich, die gesammelten Höhenmeter der letzten Tage hätten nicht nur meine Muskeln gestärkt. Hätten einen gestählten Rahmen geschaffen, der verlässlich standhielt, falls das Innere zu brechen drohte. Gemeinsame Höhenmeter, die zusammenschweißten und ein solides Fundament bildeten, um die Wahrheit auszuhalten.

Nur zwei Worte von ihr genügten, und die leise Ahnung in mir nahm Gestalt an. Ein riesengroßes Monster mit weit aufgerissenem Maul griff mich an, wollte mich niederreißen und mit einem Biss zerstören, was ich mir in den letzten Monaten mühsam aufgebaut hatte. Mir brannten die Sicherungen durch, weil ich spürte, dass ich noch nicht so weit war. Vielleicht gab es auch niemals den richtigen Zeitpunkt dafür. Mit betäubten Sinnen und glühenden Synapsen drehte ich kurzerhand um und fuhr rasant bergab. Immer fester trat ich in die Pedalen und ließ den Fahrtwind in meine Ohren blasen, sie ausfüllen und betäuben mit kalter Luft. Die Flucht ergreifen und nur noch Geschwindigkeit spüren. Weg von dieser Frau, die mich aus dem Elend zog und nur mit einem Wort davon entfernt war, mich wieder hineinzustürzen. Von dem erniedrigenden Gefühl, enttäuschen zu müssen.

Stefan hatte mich mit vielen Frauen betrogen. Aber ausgerechnet sie – das wollte mir nicht in den Kopf. Das Herz schützte sich, schoss mit blutenden Pfeilen, und der Schmerz pochte bis zum Hals. Unaufhörlich. Wie schnelle, laut dröhnende Kanonenschüsse. Bis mich ein dunkles, dämpfendes Gewand umhüllte. Dann war endlich Stille.

Und ich durfte traurig sein. Über meine Schwäche, dich nicht ent-last-en zu können. Als Ausgleich für dein Ent-last-en, das mich am Leben hielt. Nur nehmen, nicht geben. Grausame Gewissheit, dass die Höhenmeter noch nicht ausreichten. Um tiefe Dankbarkeit empfinden zu können. Dir im Starksein nicht  das Wasser reichen zu können. Vielleicht niemals. Doch am meisten darüber, dich an diesem Tag verloren zu haben. Meine wunderbare Seelenfreundin.