Von Ricarda Köhler

„Theo!“, schreit Philine, noch während ihr Schrei von den Wänden widerhallt, lässt sie sich auf die Knie neben ihren Mann fallen, der in einer ungewöhnlichen Haltung am Boden liegt. Verzweifelt versucht sie, ihren Mann zu wecken, rüttelt an seinen Schultern, schlägt ihm leicht ins Gesicht. Keine Regung. Tastet am Handgelenk nach einer Bewegung – kein Puls, hält ihre Hand vor die Nase, keinen Hauch nimmt sie wahr. Wütend hämmert sie mit ihren Fäusten auf den Körper ein, reißt sich dann zusammen, um mit beiden Händen und mit all ihrer Kraft auf den Oberkörper ihres Mannes zu drücken. Dreimal drücken, einmal pusten oder so ähnlich. Wie war das noch – der Erste-Hilfe-Kurs ist Jahrzehnte her. Zitternd sucht sie nach ihrem Handy in der Tasche. 112 anrufen oder war es 110? 

„Mein Mann!“, schreit sie die Frau am anderen Ende an. 

„Beruhigen Sie sich, schildern Sie bitte, was los ist.“

„Mein Mann“, wiederholt Philine „liegt verkrampft und regungslos am Boden! Er atmet nicht mehr! Seine Haut – sie ist irgendwie grau. Helfen Sie mir!“

„Nennen Sie mir bitte ihren Namen.“

„Philine Lorenz! Helfen Sie mir! Ich fühle keinen Puls mehr.“

„Wo sind Sie!“

„Lilienweg 3, Münster.“

„Versuchen Sie bitte ruhig zu bleiben. Legen Sie den Kopf ihres Mannes in den Nacken und pusten Sie in den Mund. Wir machen das gemeinsam. Ich bleibe bei Ihnen, bis der Rettungswagen da ist.“

Angeleitet durch die Frau am anderen Ende kämpft Philine weiter. Aber nichts verändert sich bei Theo. Keine Regung.

Mit Erleichterung nimmt sie das Martinshorn des Krankenwagens wahr. Die Rettungssanitäter stellen jedoch nüchtern fest – es ist zu spät. Theo ist tot. 

Der Notarzt stellt eine vorläufige Todesbescheinigung aus. Er vermutet, dass Theo bereits seit mindestens einer halben Stunde tot ist. 

„Ihr Mann wird jetzt ins Leichenschauhaus gebracht. Dort wird man dann eine ausführliche Leichenschau machen. Denn eine eindeutige Todesursache kann ich hier auf die Schnelle nicht feststellen“, informiert der Notarzt Philine. 

Vor drei Tagen haben sie erst Theos Geburtstag gefeiert. 48 Jahre alt ist er geworden. Täglich war er morgens joggen, lebte seit zwei Jahren vegetarisch und war immer kerngesund. Nicht mal eine Grippe hatte er in den letzten Jahren. Das Müsli von ihrem Mann steht noch auf dem Küchentisch, der Löffel liegt auf dem Boden, der Stuhl ist umgekippt, auf dem Theo gesessen hat. Dies registriert Philine erst jetzt.

„Wer ist Ihr Hausarzt?“

„Dr. Martens, Münster. Warum bin ich heute Morgen nur weggefahren? Eine Freundin rief vor dem Frühstück an, weil ihr Auto nicht ansprang, und ich wollte helfen. Wäre ich hier gewesen, wäre das bestimmt nicht passiert.“

„Frau Lorenz, machen Sie sich keine Vorwürfe.“

„Wieso hab ich ihm nicht Bescheid gesagt? Wahrscheinlich wäre es dann auch viel schneller gegangen. Zwei Stunden war ich weg, weil wir beide zu blöd waren, die Batterie zu überbrücken. Zwei Stunden bis ich wieder nach Hause fuhr. Ich wollte doch nur helfen und hab dafür alles stehen und liegen gelassen.“

„Benötigen Sie ein Beruhigungsmittel, Frau Lorenz?“

„Nein, danke. Ich ruf gleich eine Freundin an.“

 

Nachdem der Leichenwagen Theo mitgenommen hat, versucht Philine die Küche aufzuräumen. Vorsichtig stellt sie den Küchenstuhl wieder hin, kurz ruht sie sich darauf aus mit den Gedanken an Theo. Tränen strömen über ihre Wangen, salzig schmecken sie auf ihren Lippen, zusammengesunken denkt sie an die schönen gemeinsamen Zeiten, den Humor, den sie beide geteilt haben und ihre Zukunftspläne, die seit gestern im Nirwana verschwunden sind. Lange betrachtet sie die kleinen Pfützen, die sich neben dem Löffel am Boden gebildet haben. Sie wischt sich die Tränen ab und nimmt die Müslischüssel vom Tisch. Irgendetwas im Inneren der Schale erregt ihre Aufmerksamkeit, sie betrachtet den Inhalt und stellt sie ordentlich an die Seite. Zu ihrer Sicherheit zieht sie sich Handschuhe an, um die Arbeitsplatte aufzuräumen. Akribisch wischt sie alles intensiv ab, schmeißt den Lappen in einen Müllsack und reinigt mit einem sauberen Lumpen nochmals ordentlich nach. Jeder kleinste Krümel wandert in den Sack. Die Mülltüte stellt sie nach draußen auf ihre Terrasse. Sie rutscht auf Knien in der Küche rum, ob ihr irgendetwas entgangen ist. Inzwischen hat sie bereits eine halbe Flasche Spülmittel verbraucht.

Die Türklingel unterbricht ihre Arbeit. 

„Hallo Philine, hast du meine Salbe schon fertig? Oh, mein Gott, wie siehst du aus?“

„Hey, Ilse. Ist ein wirklich schlechter Zeitpunkt. Warte kurz. Ich hol sie eben.“

Philine lässt die Frau des Bürgermeisters vor der Haustür stehen und betritt ihren Vorratsraum. Auf engstem Raum hängen überall Kräuter von der Decke, volle Dosen, Tinkturen und Salben füllen die Regale, die an allen Wänden in dem Zimmer stehen. Suchend streift sie den Blick von Regalboden zu Regalboden, um dann vor einem der Schränke stehenzubleiben. Mit einem Griff hat Philine die gesuchte Creme „Aconitum napellus“ hat sie handschriftlich darauf geschrieben. Eine weitere Dose, in der sich eine zerriebene Wurzel befindet, nimmt sie ebenfalls mit.

„Philine, kann ich dir irgendwie helfen?“

„Entschuldige bitte, ich ruf dich die Tage an, ich kann grad nicht! Bezahlen kannst du auch später. Es wird die letzte Salbe sein, die ich für dich herstellen werde.“

„Das kannst du mir nicht antun! Nichts hilft bei meinen Neuralgien – nur deine Rezeptur.“

„Es tut mir wirklich leid, aber die Heilpflanze hat den Winter nicht überlebt.“

„Schade, vielleicht pflanzt du im Herbst eine Neue an.“

„Vielleicht, Ilse, vielleicht.“

 

Bevor Philine durch die hintere Tür ihre Terrasse betritt, stellt sie die Dose mit der zerriebenen Wurzel neben die Müslischale. Tief und bewusst atmet sie die immer noch klare Morgenluft ein. Bevor sie ein wichtiges Telefonat führen wird, muss sie etwas erledigen. Breitbeinig steht sie auf der Terrasse und lässt ihren Blick über ihren Garten streifen. Obwohl es Anfang Juli ist, blüht es in jeder Ecke, die noch bevorstehende Sommerhitze wird bei vielen ihrer Pflanzen die Köpfe schnell hängen lassen. Ihre Augen ruhen auf den Kräuterbeeten. Hier hat sie viel Arbeit, Herzblut und Zeit investiert. Einige seltene Wildkräuter konnte sie hier in ihren Garten integrieren. Tränen der Wut bahnen sich wieder ihren Weg zur Freiheit. Theo hat ihre Kräuter immer als Firlefanz und Unsinn bezeichnet, hat sie belächelt. Jedes Kraut wurde sorgsam platziert, jedes Beet wurde mit Namen versehen und kann durch einen eigenen Bogen betreten werden. Philine atmet noch einmal tief ein, schlüpft in ihre Clogs, schnappt sich ihren Erntekorb und geht durch den Rosenbogen, der um diese Jahreszeit vor Blüten fast zusammenbricht, in ihren Kräutergarten. Dort konnte sie schon immer die Gedanken fließen lassen, vergaß alle Sorgen. Selbst heute wandert wie automatisch direkt am Anfang etwas Labkraut in ihren Korb, davon will sie eine Labkrautbowle ansetzen, mit ihrem Geschmack überrascht sie immer wieder die Kinder der Nachbarschaft. Nach fünf Metern ist sie nicht nur am Ziel angelangt, sondern ihr Korb ist gefüllt mit einer bunten Mischung aus Blüten und Blättern. Traurig blickt sie auf die wunderschöne, blaue Blüte, die in voller Pracht vor ihr steht. Drei kräftige Pflanzen mit dicken Kelchblättern rund herum, zwei Hummeln streiten sich um den Nektar der größten Blüte. Philine lässt den Korb stehen, geht zum kleinen Schuppen direkt neben dem Beet und kehrt mit einem Spaten zur Pflanze zurück.

„Es tut mir leid, es muss leider sein! Nur ein kleiner Löffel, wer hätte das gedacht. Das hab ich nicht gewollt.“, flüstert Philine. Mit einem tiefen Spatenstich entfernt sie die Wurzeln der drei Blumen. Für ihre Arbeit streift sie sich ein Paar Handschuhe über und entsorgt die Überreste nicht wie sonst auf dem Komposthaufen, sondern versenkt sie tief in dem Müllsack bei den Lappen. 

Aus ihrer Hosentasche kramt sie nach den Fetzen eines Papiers. Gestern Abend hat sie es bereits in tausend Stück gerissen, auf einem der Stücke ist noch der halbe Satz „…Verkauf“ und auf einem anderen das Wörtchen „verlassen“ zu erkennen. Ein neues Leben beginnen und ihr den Rücken zuwenden. Sie hätte das Haus verkaufen müssen, ihre Kräuter im Stich lassen. Sie wirft die Reste in die Feuerschale und sieht zu wie der Brief in Flammen aufgeht. Den letzten Absatz des Briefes hebt sie auf „Es tut mir leid. Dein Theo“.

Langsam bewegt sie sich Richtung Haus. Den Brieffetzen platziert sie neben Dose und Müslischale auf dem Tisch, dann endlich wählt sie die Nummer der Polizeistation Münster. 

„Heute Morgen ist mein Mann mit unbekannter Todesursache abgeholt worden. Ich weiß, woran er gestorben ist. Theo hat sich geriebene Eisenhutknolle auf sein Müsli gestreut. Ich befürchte Selbstmord.“

Das so wenig tatsächlich zum Tod führt, das hätte sie nicht gedacht. 

 

„All Ding sind Gift und nicht ohn´Gift, allein die Dosis macht, das ein Ding kein Gift ist.“ (Paracelsus)

 

V3