Von Vanessa Wedekämper

Die Sache mit Heinz lässt mich nachts noch immer nicht schlafen. Ich weiß, es war meine Schuld. Trotzdem gab ich die auch der Polizei. Vielleicht einfach, weil ich noch zu jung war und mein Rücken zu klein, um die ganze Schuld auf sich zu laden. Vielleicht arbeite ich deshalb bei der Polizei. Weil ich genau weiß, dass ich noch etwas gutmachen muss.

 

***

 

Es war kurz vor neun, als der Anruf kam. Mareike, die Tochter meines besten Freundes, war dran. Ich kannte sie, seit sie ein kleines Mädchen war, aber ich hatte sie noch nie so aufgelöst erlebt. „Ralf, du musst mir helfen! Leon ist nicht nach Hause gekommen. Um sieben muss er zu Hause sein muss. Sonst kommt er nie zu spät.“

Leon war erst acht, aber für sein Alter sehr zuverlässig. Das wusste ich. „Kann es sein, dass er beim Spielen einfach die Zeit vergessen hat? War er mit anderen Kindern unterwegs?“, ging ich die Standardfragen durch.

Sie schluchzte noch einmal laut, fasste sich dann aber genug, um die Fragen zu beantworten. „Sein Freund Max sagte, er musste schon früher nach Hause kommen und Leon wollte wohl noch bleiben.“

Mareike atmete einmal tief durch, bevor sie fortfuhr. Und ich versuchte, die verblassten Bilder, die sich mir aufdrängten, bei Seite zu schieben. „Auf dem Spielplatz war er nicht mehr. Ich bin dann den Park abgelaufen, aber keine Spur von ihm.“

Sie hatte den Satz kaum beendet, da hatte ich mir schon Jacke und Schlüssel geschnappt. „Ich ruf meine Kollegen an und bin gleich bei dir“, sagte ich und ließ die Haustür hinter mir zufallen.

 

Als Mareike mir die Tür öffnete, war sie unnatürlich blass und hatte rote Flecken im Gesicht. Es versetzte mir einen Stich, sie so zu sehen. Auch wenn ich selbst keine Kinder habe, glaube ich, dass es kaum etwas Schlimmeres gibt, als die Ungewissheit darüber, ob man sein Kind jemals wiedersehen wird. Schnell schüttelte ich den Gedanken wieder ab.

Ihr Mann und eine junge Frau, die sich als Mutter von Leons Freund Max vorstellte, waren bei ihr. „Ist ihr Sohn nicht mitgekommen?“

Die Frau schüttelte den Kopf. Schade, ich hätte ihm gerne einige Fragen gestellt. „Ich versuche, ihn nicht damit zu belasten. Aber ich habe vielen Müttern aus der Schule geschrieben. Sie wollen sich alle an der Suche beteiligen.“

Ich konnte ihren Wunsch, Max da rauszuhalten, gut verstehen, aber aus eigener Erfahrung wusste ich, es gibt Schlimmeres. 

Es klingelte an der Tür und in Mareikes Blick flackerte Hoffnung auf. Doch statt ihrem Sohn stand eine Gruppe Polizeibeamter vor der Tür.

Gleich nachdem der Einsatzleiter sich ein ausführliches Bild über die Situation gemacht hatte, wandte er sich an mich. „Ich hoffe Ihnen ist klar, dass sie als Kollege aus dem Raubdezernat und Freund der Familie hier keinerlei Befugnisse haben.“

Ich nickte. Es war nie eine gute Idee, den Einsatzleiter gegen sich aufzubringen. Und in meiner Position schon gar nicht. Trotzdem fragte ich vorsichtig: „Haben Sie vor, mit dem Jungen zu sprechen, der Leon als Letztes…“

Forsch unterbrach er mich. „Ich werde auf dem Weg zum Park dort vorbeifahren.“

Dann wandte er sich an alle. Inzwischen waren viele freiwillige Helfer eingetroffen und das große Wohnzimmer, kam mir auf einmal winzig vor. „Ich werde Sie jetzt Suchtrupps und den jeweiligen Gebieten zuteilen. Außerdem habe ich drei Spurensuchhunde angefordert, die sollten in circa zwanzig Minuten dort eintreffen.“

Dann öffnete er seinen Laptop. Ich ärgerte mich, denn viel Zeit für das Gespräch mit Max würde ihm nicht bleiben, wenn er schon in zwanzig Minuten am Park sein wollte.

 

Die Nacht war finster. Selbst der Mond verbarg sich hinter dicken Wolken. Durch die sonst so prägnante Stille hallten immer wieder Rufe, auf die es keine Antwort gab. Hier im Park durchbrachen unzählige Lichtkegel das Dunkle. Die Männer und Frauen, die hinter den Taschenlampen standen, waren kaum zu sehen. Nur hin und wieder, wenn der Lichtstrahl einer anderen Lampe sich verirrte, konnte man sie erkennen. Ich fühlte mich wieder wie ein kleiner Junge. Einer, der verängstigt am Küchenfenster stand und den Erwachsenen hinterer sah, wie sie in der Dunkelheit immer kleiner wurden und dann mit ihr verschmolzen. Angestrengt versuchte ich, mich auf den Boden vor mir zu konzentrieren. Doch die Rufe hallten in meinem Kopf wieder und wieder, bis es fast nach Heinz klang.

 

Es waren schon einige Stunden vergangen und noch immer gab es keine Spur von Leon. Dann sah ich im Schein der Taschenlampen die Spürhunde. Doch etwas stimmte nicht. Alle drei Hunde liefen nebeneinander und hatten die Nase nicht tief am Boden, sondern schienen mit ihren Herrchen einfach nur spazieren zu gehen. Kurzerhand rannte ich zu ihnen. „Was ist los? Haben Sie etwas gefunden?“, fragte ich, noch bevor ich wirklich bei ihnen stand.

„Nein, es hat keinen Sinn mehr. Keiner der Hunde konnte die Fährte des vermissten Jungen aufnehmen“, sagte einer der Hundeführer. Einen Moment stand ich einfach so da, während sich die Gedanken in meinem Kopf drehten. Wir mussten diesen Jungen unbedingt finden. Wusste Leons Freund Max etwas, dass er uns verschwieg?

 

Max saß verängstigt in seinem Spidermanpyjama auf dem Sofa und starrte angestrengt auf einen Fleck im Teppich. Obwohl es schon weit nach Mitternacht sein musste, wirkte er nicht so, als hätte er geschlafen. „Hallo Max, ich hab gehört, du bist ein guter Freund von Leon.“

Max nickte und fügte leise hinzu: „Der beste.“

Ich lächelte kurz und überlegte, was ich sagen sollte. „Als ich so alt war wie du, hatte ich auch einen besten Freund. Er hieß Heinz. Und wie alle besten Freunde, haben wir immer die tollsten Abenteurer erlebt.“

Max hob den Blick. „Was denn für welche?“, fragte er und vergaß für einen Moment seine Scheu.

„Bei uns zu Hause gab es einen kleinen Fluss und wir haben uns ein Boot gebaut, um darauf zu segeln. Aber wir sind schon nach ein paar Metern gekentert.“

Eigentlich war es nur ein breiter Graben, der uns damals riesig vorkam, trotzdem musste ich bei der Erinnerung lächeln. Und auch Max lächelte. „Ein anderes Mal haben wir ohne zu Fragen Holz und Werkzeug von unseren Eltern genommen und versucht im Wald ein Baumhaus zu bauen…“

Erwartungsvoll schaute Max mich an. „Es sah ziemlich gut aus, aber als wir fertig waren, musste ich direkt nach Hause. Heinz wollte es noch unbedingt ausprobieren. An dem Abend kam er nicht mehr nach Hause.“

Ich brauchte einen Moment, bis ich weiterreden konnte. „Ich durfte meiner Mama nichts davon erzählen. Wir hätten bestimmt ein Jahr lang Hausarrest bekommen. Und ich hatte Angst, dass Heinz mir das nicht verzeihen würde. Er war doch mein bester Freund.“

Wieder schluckte ich kurz. Der Schmerz, der tief in mir vergraben lag, war noch immer kaum erträglich. „Aber das war ein Fehler. Unser Baumhaus war zusammengestürzt und Heinz hatte sich verletzt. Er konnte so nicht laufen, aber außer mir wusste auch keiner, wo er war. Er hatte meine Hilfe gebraucht und ich hab ihn im Stich gelassen.“

Max hatte seinen Blick wieder gesenkt „Aber man darf seinen besten Freund nie im Stich lassen“, murmelte er.

„Nein, darf man nicht“, antwortete ich leise und versuchte die Tränen zu unterdrücken.

„Vielleicht braucht Leon auch meine Hilfe“, sagte Max.

„Ja, die braucht er jetzt ganz dringend“, versicherte ich ihm.

Max zögerte lange, doch dann sagte er endlich: „Wir waren nicht im Park, sondern im Wald. Dort war eine kleine Höhle, die haben wir erforscht“, flüsterte er, ohne den Kopf zu heben.

„Max, es ist jetzt ganz wichtig, dass du uns sagst, wo die Höhle ist.“

 

Die Höhle schien eine Art unterirdischer Bunker zu sein, selbst der Eingang lag inzwischen halb unter der Erde. Er war so stark bewachsen, dass ich ihn fast übersehen hätte. Außer mir war noch keiner hier. Trotzdem zwängte ich mich durch die viel zu kleine Öffnung und schon nach ein paar Metern konnte ich geradestehen. „Leon!“, schrie ich, aber ich bekam keine Antwort.

Ich lief so schnell wie möglich den Gang entlang. „Leon!“, schrie ich immer wieder.

Dann stoppte ich an einer Abzweigung. Links oder rechts? Ich ihn erneut, aber außer meinem Echo kam nichts zurück. Links oder rechts? Links oder rechts? Ich entschied mich für Links. Schnell stand ich vor einer verschlossenen Tür. Ich wollte schon umdrehen, als ich endlich den leisen Hilferuf hörte.

„Leon?….Leon, ich bin hier. Geht’s dir gut?“, rief ich durch die verschlossene Tür. Er schniefte. „Die Tür ist zugefallen. Ich bekomm‘ sie nicht auf.“

 

***

Stunden später lag ich in meinem Bett und starrte die Decke an. Wir hatten drei Mann gebraucht, um die verklemmte Stahltür wieder zu öffnen. Leon war geschwächt, aber ansonsten unversehrt. Aber nicht nur das machte mich glücklich, sondern auch, dass Max nicht denselben Fehler wie ich gemacht hatte. Er musste nicht für den Rest seines Lebens diese erdrückende Last tragen. Ich weiß, dass ich damit nicht wieder gut machen konnte, dass ich damals geschwiegen habe. Heinz, musste Stunden unter den Teilen des Baumhauses begraben gewesen sein, bevor er seinen Verletzungen erlag. Dennoch fielen mir meine Augen langsam zu und ich schlief tief und traumlos bis zum nächsten Morgen. Das erste Mal seit vielen Jahren.

 

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