Von Valentina Vahle

Mein Telefon klingelte. Da mich mittlerweile fast alle meiner Freunde und Bekannten auf meinem Smartphone anrufen, konnte es sich eigentlich nur um meine Hausärztin, um Christa oder um einen der aufdringlichen Call Center – Mitarbeiter handeln, die mir regelmäßig Zeitschriften Abos andrehen wollten. Dass ich denen ständig versichere, dass ich alle wichtigen Nachrichten direkt über eine praktische App auf mein Smartphone bekomme und ich diese Klatschzeitschriften nicht ausstehen kann – zugegeben, beim Arzt lese ich die auch mal ganz gerne, aber im Grunde taugen die doch nur für die Kreuzworträtsel! – scheinen sie geflissentlich zu überhören. Mit meinen stolzen 71 Jahren gehöre ich offenbar zur Hauptzielgruppe.

Wie dem auch sei, das Klingeln hatte etwas Dringliches und ich beeilte mich zum Gerät zu kommen. Das konnte nur Christa sein. Mein Sohn behauptet, dass das technisch nicht möglich ist, aber ich bin mir sicher, dass ich Christa an ihrem Klingeln erkennen kann. So auch dieses Mal.

„Gertrud, bist du es?“ „Nein, ich bin es nicht.“ Jedes Mal diese alberne Frage, sie weiß doch, dass ich allein wohne.

Ohne auf meine Antwort einzugehen, legte sie los. Etwas atemlos, wie mir schien. Und ziemlich aufgeregt. „Gertrud, Planänderung. Wir treffen uns heute alle bei mir um Punkt 15 Uhr.“

„Aber heute ist doch Erika an der Reihe“ sagte ich verdutzt, „und sie hat doch auch bestimmt schon den Apfelkuchen…“

Christa unterbrach mich ungehalten. „Ja ja, den soll sie mitbringen. Ich habe vorher ohnehin keine Zeit mehr zu backen. Ich rufe Gabi und Erika an und du sagst Renate Bescheid. So, ich muss Schluss machen, bis später.“

„Moment!“, rief ich in den Hörer, „nun warte doch mal! Was ist denn passiert?“

„Das erzähle ich später, seid einfach um 15 Uhr da.“

Ich seufzte auf. Das letzte Mal, als Christa uns ähnlich aufgeregt außer der Reihe zu sich zitiert hat, wollte sie uns die Freundin ihres neuen Nachbarn zeigen, von der sie wusste, dass sie an besagtem Nachmittag zu Besuch kommen würde. Sie hatte heimlich ein Auge auf Rudi geworfen, aber nie getraut ihn zum Kaffee einzuladen, weil sie dachte, dass er jüngere Damen bevorzuge. „Schaut sie euch an!“ flüsterte sie damals empört, während wir alle hinter den Wohnzimmergardienen versuchten, einen unauffälligen Blick auf die ältere Dame zu erhaschen, die sich der Haustür näherte. „Seine letzte Freundin war gerade mal 60 Jahre alt, aber diese hier, die hat doch sicherlich schon die 75 geknackt!“

„Aber es geht nicht wieder um die neue Freundin von Rudi, oder?“ fragte ich nun vorsichtig, die Dame ist noch immer ein rotes Tuch für Christa.

„Nein, nein“ hörte ich sie schmunzeln. „Es ist etwas viel Größeres. Es ist eine Sensation!“ flüsterte sie fast schon beschwörend in den Hörer.

„Na gut“, antwortete ich nach kurzem Zögern, „aber das Herumtelefonieren können wir uns sparen. Du weißt doch, wir haben eine Gruppe, in der wir solche Dinge kurz und knapp absprechen können, und wenn du dir auch endlich ein Smartphone…“

„Und du weißt, dass ich kein Smartphone will!“ unterbrach sie mich erneut. „Dann muss ich ständig darauf schauen und alle erwarten immer sofort eine Antwort, ich will mich doch nicht abhängig machen! Aber das ist jetzt egal, dann schreib das eben in diese Gruppe. Tschüss!“

„Moment noch!“ warf ich ein, „Gabi kannst du vielleicht doch besser anrufen, die macht ihr Handy zuhause immer aus, wer weiß, wann sie die Nachricht liest.“

Ich musste mir eingestehen, dass ich schon etwas neugierig war, was Christa so derartig aufgewühlt hat. Pünktlich um 14.55 Uhr schellte ich an ihrer Tür.

„Gertrud, endlich“, begrüßte sie mich ungehalten, „das wurde aber auch Zeit!“

Auch Heinz kam zur Tür gerannt, um mich freudig schwanzwedelnd zu begrüßen. Bis ich Christas kleinen Rauhaardackel kennenlernte, mochte ich Hunde nicht sonderlich, aber Heinz ist ein wahres Goldstück. Ich bückte mich und tätschelte unserem Liebling den Kopf, bevor ich in die gute Stube ging. Alle saßen schon um den gedeckten Kaffeetisch, offenbar war ich die letzte. Renate zwinkerte mir zu, Erika und Gabi blicken auf ihre Armbanduhren und schauten mich strafend an. Peinlich berührt, denn ich bin sehr ungern die Letzte, setzte ich mich auf meinen angestammten Platz.

Christa blieb stehen und räuspert sich.  „Ich freue mich, dass ihr alle hier seid, an diesem großen Tag.“, begann sie feierlich. „Erika war so lieb ihren Kuchen mitzubringen. Wem darf ich ein Stück auftragen? Der Kaffee ist sofort durchgelaufen.“

Alle starrten sie ungläubig an. Heinz scharwenzelte um den Tisch herum, er hätte offensichtlich nichts gegen einen Bissen Apfelkuchen einzuwenden gehabt.

Renate brach das Schweigen. „Jetzt mach es doch nicht so spannend! Wir haben hier wie auf heißen Kohlen gesessen und auf Gertrud gewartet und jetzt willst du erst in aller Seelenruhe Kuchen essen?!“

„Das finde ich aber auch“, stimmte Erika zu, „eigentlich wäre ich heute dran gewesen und wir sind alle zu dir gekommen, weil du uns unbedingt hier haben wolltest. Ich platze vor Neugier!“ Ich hätte es nicht besser ausdrücken können.

Langsam begann Christa zu nicken und ein schwärmender, andächtiger, ja fast verklärter Blick trat auf ihr Gesicht. „Wartet hier, ich bin sofort zurück“, erklärte sie und verschwand, mit Heinz auf den Fersen, in die Küche. Wie immer erhoffte er sich eine Leckerei zwischendurch.

Wir sahen uns an, gespannt auf das, was nun kommen würde. „Jetzt bin ich aber ungeduldig, die sah ja aus, als ob ein Wunder geschehen wäre!“ lachte Renate. Wie nah sie damit an der Wahrheit lag, sollten wir im nächsten Moment sehen.

Christa trat wieder ein, eine Käseglocke auf der linken Hand balancierend. Vor ihrem Stuhl blieb sie stehen und schaut in unsere neugierigen Gesichter. Sie atmete tief durch und sagte mit respektvoller, ja gar verehrender Stimme: „Ich habe ein göttliches Zeichen erhalten.“ Während sie das sagte, hob sie die Käseglocke hoch, griff das, was sich darunter verbarg und hob es, mit beiden Händen vorsichtig umfassend, über den Tisch. Sah ich richtig? Eine Scheibe Toast?

Wie auf Kommando reckten alle ihre Köpfe nach vorne.

„Das gibt es nicht“, staunte Erika, „das ist ja die Jungfrau Maria!“

Ein triumphierendes Lächeln breitete sich auf Christas Gesicht aus. „Richtig. Heute morgen habe ich Heinz und mir unser Frühstück gemacht und gerade, als ich seine Leberwurst auf die Scheibe schmieren wollte, habe ich sie glücklicherweise noch rechtzeitig entdeckt.“  

„Ihr spinnt doch. Wo seht ihr denn da bitte die Jungfrau Maria?“ fragte Renate, legte den Kopf schief, erst in die eine, dann in die andere Richtung.

Gabi kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. Dann holte sie ihre Brille aus dem Etui, stand auf und trat neben Christa. „Leg das mal zurück auf die Platte.“ Dann beugte sie sich darüber, bis ihr Gesicht nur noch wenige Zentimeter über der Scheibe schwebte. Langsam richtete sie sich auf und schaute überrascht in die Runde. „Kein Zweifel, das ist die Jungfrau Maria.“

Ich stand nun ebenfalls auf, um mir die Toastscheibe genauer anzusehen, auch Renate und Erika traten nun zu uns. Meine Güte, ganz schön dunkel, ich wusste nicht, dass es Menschen gibt, die ihr Toast wirklich so dunkel essen. Ich sah Flecken, hellere und dunklere, aber für mich sah es aus wie eine normale, geröstete Scheibe Weißbrot.

Wenn ich da etwas erkennen sollte, dann sah es eher aus wie….“Eine Qualle. Eine Qualle mit Augen“, konstatierte Renate in diesem Moment. Interessant, genau das dachte ich auch.

„Quatsch“, entgegnete Erika. „das ist doch keine Qualle. Das ist eindeutig die Jungfrau Maria!“

Eine heiße Diskussion brach los. Keiner interessierte sich mehr für den Kaffee, der längst durchgelaufen war, oder für den Kuchen, bis auf Heinz. Immer wieder sprang er am Tisch hoch in der Hoffnung, wenigsten einen Blick auf das gute Stück zu erhaschen.

Der Toast wurde gedreht und gewendet, es wurden Umrisse mit dem Finger nachgefahren, Vergleiche gezogen. Aber schließlich waren sich alle einig: Auf dem Toast war tatsächlich die Jungfrau Maria zu erkennen. Gabi war sich sicher, dass es groß in die Medien kommen würde, Erika sah es schon in den heiligen Hallen des Vatikans hängen, Renate wollte es für eine große Summe versteigern.

„Ich habe erst einmal unsere Tageszeitung angerufen, morgen kommt ein Journalist vorbei“, berichtete Christa stolz. „Und was dann passiert, das werden wir sehen.“ Sie legte das Brot vorsichtig wieder unter die Glocke. „Ich hole schnell den Kaffee und dann gibt es erst einmal Kuchen.“

Andächtig trug sie die Glocke durch das Wohnzimmer, doch just in dem Moment, als sie an der Küchentür ankam, quetschte sich Heinz zwischen ihre Füße, Christa kam ins Straucheln und konnte sich gerade noch am Türrahmen festhalten. Die Käseglocke jedoch fiel samt Toast zu Boden. Heinz stürzte sich, noch bevor Christa sich auch nur wieder halbwegs gefangen hatte, auf das Brot und nun – „Heinz, aus, pfui ist das!“ brachte sie gerade noch heraus – war das Brot auch schon in Heinz‘ Maul verschwunden. Betreten sahen wir auf die kläglichen Reste, wenige Krümel, die vom Brot übriggeblieben waren, bevor Heinz auch diese aufleckte.

 Traurig seufzte Christa auf, es klang fast wie ein schluchzen und mit bebender Stimmt schimpfte sie: „Heinz, Du verfressender Hund. Jetzt hast du einfach die Jungfrau Maria verschlungen!“

Die Sache mit Heinz hatte aber auch etwas Gutes. Zusätzlich zu unserem wöchentlichen Kuchenessen treffen wir uns nun an einem weiteren Tag, dann nämlich zum Frühstücken. Dort gibt es viele Leckereien, Wurst und Käse, Marmelade, Honig, Eier und Obst. Einzig die Brotauswahl begrenzt sich auf Toastbrot. Christa bringt ihren Toaster zu jedem Frühstück mit und wir haben schon viele interessante Bilder und Figuren auf unseren gerösteten Scheiben entdeckt, Elefanten und Blumen, Sonnenuntergänge und Schneemänner. Christa meinte sogar einmal, dass Sie Rudi im Profil erkennen würde, aber für mich sah es eher aus wie ein Kerzenständer.

Nur die Jungfrau Maria, die kam uns nicht mehr auf‘s Brot.

 

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