Von Ingo Pietsch

Es war ein schwerer Gang für die drei jungen Männer, denn sie wussten, welchen Blödsinn sie veranstaltet hatten.

Trotzdem würden sich Christian, Frederic und der kleine Niermann dem stellen müssen, weil gerade hier auf dem Dorfe die Geschichte schnell die Runde machen würde.

Und wahrscheinlich schon gemacht hatte.

Die drei hatten schon die vergangenen Jahre als Erntehelfer ausgeholfen und gutes Geld dabei verdient. Sie waren zuverlässig und hatten Spaß an der Arbeit gehabt.

Jeder kannte die Brüder Christian und Frederic und den Nachbarsjungen, den kleinen Niermann, der in Wirklichkeit nicht klein, sondern knapp zwei Meter maß und jeden mindestens um einen Kopf überragte.

Sie waren beliebt und stets gut gelaunt gewesen.

Bis gestern jedenfalls …

 

***

 

Es war ein perfekter Tag für die Ernte – sie Sonne schien, das Korn war trocken und Heinz hatte einen zusätzlichen Traktor und den Mähdrescher von der Genossenschaft geliehen bekommen.

Christian und Frederic hatten schon ihren Führerschein gemacht und durften die Erntemaschinen fahren. Der kleine Niermann war noch nicht 16 und hinkte den beiden etwas hinterher, konnte aber auch schon Trecker fahren. Jeder konnte das hier auf dem Dorfe quasi schon nachdem man laufen gelernt hatte.

Christian fuhr mit dem Trecker und Frederic den Mähdrescher direkt daneben.

Der kleine Niermann lief ungefähr 50 Meter voraus am Feldrand entlang und spähte immer wieder in die Kornreihen, ob sich dort nicht irgendwelche Tiere oder Leute versteckt oder verlaufen hatten.

Es war schon öfter vorgekommen, dass ein Schützenfestbesucher seinen Rausch im Feld ausgeschlafen oder ein Pärchen das selbige für ein Schäferstündchen genutzt hatte.

Bisher war es meistens glimpflich verlaufen – zumindest für Menschen.

Tiere hatten leider nicht immer so viel Glück gehabt.

Außerdem fanden die Landwirte in letzter vermehrt technische Geräte alle Art auf ihren Feldern, die die Maschinen erheblich beschädigen konnten: abgestürzte Drohnen, Modellflugzeuge und Haushaltsgeräte wie Kühlschränke, Fernseher oder Waschmaschinen, die wild entsorgt worden waren.

Die Fahrzeuge tuckerten in Schrittgeschwindigkeit dahin, Heinz zog die Plane über den ersten vollen Anhänger und achtete nicht weiter auf seine Helfer, denen er vertraute.

Der kleine Niermann ging langsam immer wieder ins Feld hinein, um die Reihen zu inspizieren und entdeckte mit einem Mal ein rundes Metallobjekt. Erst hielt er es für einen alten Topf, halb vom Rost zerfressen. Doch als er näher darauf zuging, bekam er es mit der Angst zu tun. Das Ding sah aus wie eine Tellermine, wie er sie schon oft in Filmen gesehen hatte.

Die Gegend hier war weitestgehend vom Krieg verschont geblieben gewesen, aber trotzdem fand man ab und an doch mal eine verirrte Fliegerbombe aus dem 2. Weltkrieg.

Der kleine Niermann rannte auf die aberntete Fläche zurück und schwenkte seine rote Flagge, die an einem Holzstiel hing und die er für solche Fälle immer bei sich trug.

Christian blieb mit seinem Trecker sofort stehen, doch Frederic hatte Kopfhörer auf und starrte auf einen Punkt in weiter Ferne. Natürlich kannten alle das Signal, doch Frederic fuhr völlig verträumt immer weiter.

Der kleine Niermann rief immer wieder, er solle stehen bleiben, doch Frederic hörte es nicht.

Das Korn fiel aus dem Füllrohr schon mehrere Meter lang zu Boden.

Der kleine Niermann nahm seine Beine in die Hand und lief dem Mähdrescher entgegen, wobei er weiter seine Fahne schwenkte und laut rief.

Dann stolperte er und fiel genau vor die Haspel, die sich unentwegt weiter drehte.

Der kleine Niermann hielt reflexartig seine Arme schützend vor den Kopf, was in dem Moment eigentlich völlig sinnfrei gewesen war.

Im letzten Moment zogen Heinz und Christian den kleinen Niermann von der Maschine weg und Heinz kletterte mit geübten Bewegungen in die Führerkabine und trat so abrupt auf die Bremse, dass er und Frederic gegen die Frontscheibe schlugen.

Entsetzt blickte Frederic auf.

Zum Glück war noch einmal alles gutgegangen und die Tretmine entpuppte sich schließlich als alte Wärmpfanne.

 

***

 

Die drei gingen weiter mit gesenktem Blick auf das Krankenhaus zu und betraten den Eingang. Sie wussten genau, wo sie hin mussten, denn sie hatten sich schon zuvor telefonisch erkundigt.

Sie würden sich bei Heinz entschuldigen müssen und wahrscheinlich war ihr Ferienverdienst wohl dahin.

Und ob sie jemals wieder für ihn arbeiten würden, stand auch in den Sternen.

Sie fanden das Krankenzimmer ziemlich schnell und stritten kurz, wer anklopfen sollte.

Auch wenn der kleine Niermann nur indirekt an dem Vorfall beteiligt gewesen war, machte er den ersten Schritt und als die Stimme von Heinz ein krächzendes „Herein“ von sich gab, gingen sie zusammen in das Zimmer.

Jeder hatte einen Blumenstrauß dabei – den man üblicherweise mit ins Krankenhaus nahm.

Heinz blickte sie mit blutunterlaufenen Augen an und in Gedanken ließ er den gestrigen Abend Revue passieren …

 

***

 

Die weitere Kornernte war ohne Zwischenfälle verlaufen, das Getreide zum Raiffeisenmarkt verbracht und den Mähdrescher hatten sie nach dem Auftanken und Reinigen zum nächsten Hof gefahren.

Es war schon spätabends; es begann zu dämmern und Christian und Frederic stapelten mit den Treckern Rundstrohballen.

Der kleine Niermann hatte mal versucht einen zu rollen. Aber Heinz hatte nur gemeint: „Fünf Zentner, da musst du noch ein bisschen mehr trainieren.“

Mit den Gabeln vorne am Traktor waren die Ballen ruckzuck verstaut.

Heinz hatte nach dem Schrecken am Nachmittag einen kleinen Korn spendiert.

Und so fiel der Rest der Arbeit etwas entspannter aus.

Der kleine Niermann hockte auf einem Autoreifenstapel, ließ seine Beine baumeln, tippte auf seinem Smartphone herum, hielt es gelegentlich hoch in den Himmel und beschwerte sich lautstark über den fürchterlichen Empfang.

Die beiden anderen Jungs hatten die letzten Ballen auf den Zinken.

Heinz war kurz ins Haus gegangen, um noch einen Feierabendschnaps zu holen.

Christian und Frederic waren mit den Ballen kurz gegeneinander geprallt und die Traktoren waren dabei durchgeschüttelt worden.

Der kleine Niermann schaute auf.

Die beiden fuhren ein Stück zurück und wiederholten das Ganze, diesmal absichtlich.

Es sah so aus, als spiele ein Kind mit Spielzeugautos, die es ständig zusammenkrachen ließ.

Und dann passierte das Unglück.

Heinz kam gerade mit einer Flasche und ein paar Pinnchen aus dem Haus zurück, als sich einer der Ballen von den Zinken losriss und die über Zweihundert Kilo genau auf Heinz zuflogen …

 

Heinz war vom Krankenbett aufgestanden. Sein rechter Arm steckte in einer Schlinge und seiner weißen Gesichtsfarbe nach zu urteilen, ging es ihm nicht gut.

Die drei Jungs hielten ihre Blumensträuße hin.

„Wir wollten uns für unserer Benehmen nochmals bei dir entschuldigen“, stotterte Frederic.

Heinz zeigte auf den Schrank: „Vielleicht sind da Vasen drin. Das ist nett von euch. Und eigentlich ist es meine Schuld. Ich hätte euch vor dem Feierabend keinen Alkohol geben dürfen. Danke, dass ihr der Polizei nicht die ganze Wahrheit gesagt habt. Es hätte viel schlimmer ausgehen und jemand getötet werden können.“ Seine Stimme klang traurig.

Die drei nickten nur stumm.

„Lasst uns rausgehen. Es riecht hier so nach Krankenhaus. Das mag ich nicht.“ Heinz ging noch einmal zum Bett zurück und küsste seine Frau auf die Stirn. „Ich komme gleich wieder.“

 

Draußen im Park gingen sie ein bisschen spazieren.

Heinz zückte seine Geldbörse und zahlte den dreien ihren Lohn aus.

Er war am Vorabend, als der Ballen auf ihn zuflog, geistesgegenwärtig zur Seite gesprungen. Hinter ihm kam gerade Ingrid, seine Frau, mit einem vollen Tablett beschmierter Stullen aus dem Haus. Sie hatte nur einen Schatten wahrnehmen können, als die Wucht des Ballens sie durch die offene Tür ins Haus zurück katapultierte.

Zum Glück, denn wenn sie gegen die Hauswand geprallt wäre – nicht auszudenken.

Jetzt lag sie mit „nur“ einer Gehirnerschütterung, gebrochenen Rippen und Gliedern im Krankenbett und schlief.

„Wisst ihr Jungs“, die Farbe in Heinz Gesicht kehrte zurück, „ich liebe Ingrid. Aber sie kann auch so furchtbar anstrengend sein. Ich bin echt sauer auf euch. Meine Frau wird wohl länger im Krankenhaus bleiben müssen. Den Hof schaffe ich in der Zeit auch irgendwie alleine oder ihr helft mir dabei und wir könnten die Fußball-WM gucken – denn ihr wisst ja, Ingrid hasst Fußball.“

 

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