Von Maria Lehner

Im Gemeindebau gibt es 53 Wohnungen und einen begrünten Innenhof. Es ist ein Frühlingstag in Ottakring, wie man ihn sich nur wünschen kann: Strahlend blauer Himmel über der Brüßlgasse, es weht frisch vom Wilhelminenberg herunter – schon mit einer Ahnung von April. Heinz aber trägt Maske. Immer noch: Was man da alles einatmen könnte! 

„Na, ist dir unter der Maske das Gesicht abhandengekommen?!“ fragt einer seiner Hawara, wie sie die guten Freunde hier nennen, im Park. „Das nicht, aber…“:  Er setzt gerade dazu an, zum x-ten Mal von seinem Problem zu erzählen, doch die einstige Empathie ist blankem Hohn gewichen: „Gru-gru-Grundgütiger, hat das etwa immer noch nicht aufgehört?“ sagt einer und alle lachen. Nein, der stottert nicht und er imitiert auch keinen Stotternden. „Gru-gru-Gruppensex schon wieder auf dem Balkon über dir?“ fragt ein anderer und alles grölt. „Gru-gru-Gruber-Reisen und alles wird sich weisen“ verballhornt ein dritter einen Werbeslogan; sie wiehern vor Lachen. Immer die gleichen Sprüche. Die Hawara können ihm auch nicht helfen. 

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Er schlendert heimzu. Um die Töne, diese schrecklichen Töne zu „maskieren“ – sind sie vielleicht nur in seinem Kopf? – schaltet er das Radio an. Was er hört, faltet seinen inneren Grauschleier zu blickdichtem Gram. Georg Kreisler singt:

Schau, die Sonne ist warm und die Lüfte sind lau. Gehn wir Tauben vergiften im Park!
Die Bäume sind grün und der Himmel ist blau./ Gehn wir Tauben vergiften im Park!

Die Wohnung über Heinz steht leer. Tauben nisten auf dem Balkon. Hunderte, meint Heinz. Sieben, meint die Hausmeisterin und: „Die wollen doch nur turteln“ meint sie auch. Ihm ist das Turteln längst vergangen. Die ruckelnden Geräusche schon frühmorgens. Das Gurren mit geschlossenem Schnabel und aufgeblasenem Kropf. Und das ist längst nicht alles, was die Viecher tun.

Auf dem Balkon sitzen oder etwa gar Wäsche aufhängen, geht gar nicht. Vom Gestank und Geräusch abgesehen ist kein Platz mehr: Rechts ranken sich Plastikspikes die Wand entlang, am Balkongeländer sind Windräder und Geräuschklappern montiert. Der Plastikrabe war ein Geburtstagsgeschenk seiner Hawara-Partie. Er war einst schwarz; jetzt ist er weißgrau und auf bizarre Art modelliert durch zu Stalagmiten aufgetürmten Taubenkot. Auf der linken Seite blinkt im Sonnenlicht eine an einem Plastikfaden aufgehängte CD („La Paloma“, ein Lied über eine weiße Taube!). Das Glitzern sollte die Tauben vertreiben. Abhilfe sollen auch die Katzenhaare bieten, die die Hawara für ihn sammeln, weil er auf Grund seiner Katzenallergie keine Katze in der Wohnung haben kann. Ein Grund mehr, dass er den Balkon nicht benutzt kann und es ihm die Tränen in die Augen treibt, wenn er bloß die Tür öffnet. Da ist auch die Wasserpistole von seinem Großneffen, stets schussbereit… Sinnierend steht er vor all dem. 

Er ruft in ein paar Ämtern an und erfährt, dass man zum Abschießen von Tauben in Wien „Jagdausübungsberechtigter“ sein müsse und dass die Vorbereitungskurse zur Erlangung der Jagdkarte zwischen zwölf und vierzehn Wochen dauern. Dass es ohne die Jagdkarte nicht erlaubt sei, Tauben zu töten. Kurz geht ihm durch den Kopf, dass er Jagdkartenbesitzer einladen könnte: „Jagen Sie in der Mittagspause bequem in Ottakring! Sie müssen dazu nicht nach Ungarn!“ so würde er sie locken. Dann fällt ihm ein, dass er solche Leute ohnehin nicht kennt und verwirft die Idee mit der Jagdgesellschaft. 

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Als eine Feder, eine zarte Feder bloß, an seiner Balkontüre vorbeisegelt, ist jener Punkt erreicht, in dem sein Kopf ganz leer ist. Nein – da ist noch etwas ganz hinten in der Großhirnrinde: Wie war das? „Gruber-Reisen“? Er lässt sich beraten. „Venedig ist schön um die Jahreszeit“ sagt die ahnungslose Bedienstete. Sein Blick wird eiskalt und sein „Nein!“ hackt durch die Luft wie ein Taubenschnabel. Die Entscheidung fällt für einen Küstenort in Istrien. Dort war er als Kind mit seinen Eltern. Er kann sich erinnern, dass sein Vater gesagt hatte “Ich sehe gar keine Tauben!“.  

Ein paar Tage vor seiner Abreise tippt er in die Suchmaschine: „Tauben töten“. Er scrollt, abgelenkt durch einen Telefonanruf von seiner Mutter und unterbrochen, weil die Hausmeisterin an der Tür klingelt. Das lenkt ab. Neben allerlei Treffern wie „Taubengiftrezept“ und „Gerichtsurteil“ kommt er an eine Reihe von Bildern von Dosen. Auf einer ist eine sterbende Ratte abgebildet. Widerwärtig. Auf der anderen eine Taube. Gut. Unter der Abbildung steht: „Lieferung in Österreich innerhalb von 24 Stunden“. Mit fünf Klicks ist die Bestellung erledigt. Der bestellte 5-Kilogramm-Sack wird tatsächlich am Tag vor seiner Abreise spätabends geliefert. Was Heinz jetzt tun muss, ist ihm unangenehm und er bringt es schnell hinter sich. Er füllt kleine Tiegelchen und stellt diese auf seinen, mittlerweile von anderem Unrat befreiten, Balkon. Jetzt ist er Schädlingsbekämpfer in Eigeninitiative. 

***

Am Meer ist es schön. Kilometerlang schlendert er die Promenade entlang. Er hält sein – jetzt maskenloses – Gesicht in die Sonne und stellt sich vor, dass weit weg hinter all den Bergen und Staatsgrenzen Tauben sich verendend in Krämpfen winden. Möwen, scheints, kreisen ihn ein. Ihr Rufen klingt wie „Mord! Mord! Mord!“. Sie kacken auf seinen schönen neuen Strohhut. 

Nicht nur der Hut, der ganze Tag ist verdorben. Abends sitzt er in einem kleinen Restaurant, abseits vom Meer. Hierher kommen hauptsächlich Einheimische und keine Möwen. Er gönnt sich eine köstliche Pastete, dazu ein Glas vom kroatischen Muskatwein, trocken. Zart ist das Fleisch in der Pastete, neben Trüffel nimmt er leichten Wildgeschmack wahr. Auf seine Frage hin sagt der Wirt „Pasteta od goluba“, schwenkt die angewinkelten Arme auf und ab und macht „Gru-gru“. Nach kurzem Ekel überwiegt bei Heinz der Triumph, seinen Feind gegessen, ihn sich einverleibt, zu haben. 

Nachts hat er seltsame Träume: Von Möwen, die menschliche Stimmen haben und ein Tribunal abhalten, in dem er sich verteidigen will, aber nur „Gru-gru“ herausbringt. Sie formieren sich zu einem Chor und schreien „Heinz ist ein Mörder, Heinz ist ein Mörder!“ – es klingt wie der Walkürenritt. Ach nein: Da hat sich der Anrufton seines Smartphones in den Traum gemischt. „Ja“ krächzt er halbwach. Er erschrickt: Ich krächze?! „Heinz, Oida, was auf deinem Balkon los ist… na warte, wenn du zurückkommst!“ Im Hintergrund hört er noch „Gru-gru-gruselig!“, dazu das meckernde Lachen von Peter und das prustende von Gerd. Genervt legt er auf, eigentlich aber doch froh, aus diesem Traum geweckt geworden zu sein. Wahrscheinlich meinen die Hawara die massenhaft toten Tauben, die übereinanderliegen und vor sich hin modern. Möglicherweise klettern Ratten die Hauswand hoch. Fressen Ratten Tauben?  Draußen vor dem Fenster schreien die Möwen immer noch, dass er ein Mörder ist. Unsicher sieht sich Heinz im Frühstücksraum um – haben es die anderen auch gehört? 

Am Buffet spricht ihn ein Mann an: „Sie sehen so besorgt drein – kann ich Ihnen irgendwie helfen?“. Heinz fasst Vertrauen, sie setzen sich nach draußen und trinken einen Kaffee. Heinz erzählt. Er hat das Glück, nicht nur an einen guten Zuhörer, sondern möglicherweise an einen Rechtsphilosophen geraten zu sein. „Man muss sich Ihre Absicht genau anschauen“, der Zuhörer wiegt den Kopf „Ihre Zielvorstellung waren ja nicht die toten Tauben, sondern ein benutzbarer Balkon“; er erklärt ihm etwas über den „Eventualvorsatz“ im Strafrecht. Heinz versteht das zwar nicht ganz, fühlt sich aber besser. Er verbringt noch zehn schöne Tage. Einen neuen Sonnenhut hat er gekauft. Die Möwen ignorieren ihn schließlich irgendwann. 

*****

Als er die Koffer zur Abreise packt, hat Heinz den wunderbaren Satz dieses gescheiten Herren vergessen. Dabei wäre der wichtig, falls er sich verteidigen muss. Auf der Heimfahrt wächst das Unbehagen. Nun sind es nur noch ein paar Schritte von der Busstation zur Brüßlgasse. Seine Hawara winken ihm zu. Einer von ihnen, Herbert, setzt an: „Gru-gru-gru-…“, doch Gerd macht „Pscht!“ und der Redner spricht nicht weiter. Das ist unheimlich. Sie lachen verhalten (hämisch, denkt Heinz). Er meint, wenige Meter vor dem Hauseingang schon den Geruch des Todes zu wittern. Die Hausmeisterin grüßt ihn, als er vorbeigeht mit einem kryptischen: „Ah! Wieder da?!“ Es klingt nicht freundlich. Von Turteln ist keine Rede mehr.

Heinz steht vor dem Haus und wagt nicht, hinaufzusehen. Er schließt die Tür zur Wohnung auf. Es ist still, nur wischende Geräusche hört er: Die Tauben haben den Balkon über Heinz verlassen und – sind zu ihm übergesiedelt. Als er an die Balkontür tritt, flattern sie nicht auf, sondern scheinen ihn mit zärtlich-sanftem Gurren zu begrüßen. Elegant sehen sie aus! Grüngrauviolett changierend ist die Halskrause; das prächtige Gefieder glänzt mit ihren Augen um die Wette. Was wuselt da herum? Jungtauben mit zierlich braun besäumten Deckfedern, richtige Schönheiten.

Heinz muss sich setzen. Auf dem Tisch vor ihm liegt die leere Dose, aus der er das Tötungsmittel in die Näpfchen geschüttet hat. Gedankenverloren nimmt er sie in die Hand und liest: „Elektrolyt–Energie-Präparat mit natürlichem Vitamin E, speziell auf die Bedürfnisse der Brieftaube während der Flugsaison angepasst“. 

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