Von Winfried Dittrich

Ich habe gehört, dass man im Leben, in jeder Situation, immer mindestens drei verschiedene Handlungsmöglichkeiten hat. Heinz sagte mir das einmal, glaube ich.

 

***

 

 Es ist viertel nach drei. Ich werde durch laute Geräusche aus dem Schlaf geholt. Ein Nachbar poltert herum. In dem siebenstöckigen Haus gibt es achtundzwanzig Wohnungen. Das ist das erst Mal, dass dies nachts vorkommt. Wir wohnen erst seit einem knappen Jahr hier.

 

Möglichkeit 1:

Ich schließe die Augen. Dass bestimmt um die achtzig Menschen unter diesem Dach wohnen und jeder mal einen schlechten Tag oder eine schlechte Nacht haben kann, denke ich, bevor ich mich umdrehe, ein kleines Kissen auf das freie Ohr lege und wieder einschlafe. Ich mag diese Nächte nicht, in denen ich allein bin.

 

Möglichkeit 2:

Es ist wirklich laut. Ich frage mich, woher die Geräusche wohl kommen, setze mich auf. Als ich ein bisschen wacher werde, kann ich die Schallquelle verorten. Sie muss sich in der Wohnung befinden, die unter der unseren liegt. Es ist ein Poltern, das sich mit lauten Stimmen abwechselt oder von ihnen begleitet wird. Schwer zu sagen.

Meine Freundin kann ich nicht wecken, um ihre Meinung einzuholen. Sie ist im Nachtdienst. Ich stehe auf und laufe durch die Wohnung, gehe zur Toilette, trinke einen Schluck und lege mich wieder hin.

Bei der nächsten Gelegenheit werde ich den Nachbarn von unten, Heinz, mal darauf ansprechen, was denn da bei ihm los ist. Ob seine Ex-Frau ihm nun auch unter der Woche seine drei Kinder aufs Auge gedrückt hat, er damit überfordert ist und sie deswegen mitten in der Nacht diesen Radau machen? Der Lärm ist aber irgendwie anders als an den Wochenenden. Und nachts? Egal. Ich rede irgendwann mit ihm.

Möglichkeit 3:

Es ist wirklich ungewöhnlich laut. Ich bin plötzlich hellwach und drehe mich im Bett ein paar mal hin und her. Die Unruhe kommt eindeutig von unten. Direkt von unten. Bestimmt hat er seine Kinder zu Hause. Ich bin mir sicher. Warum schreien sie immer wieder? Klingen diese hohen Stimmen panisch? Sind es überhaupt mehrere Stimmen?

Ich drehe mich zur Bettkante und stütze mich mit meiner Handfläche auf dem Boden ab. Fühlt sich der Bodenbelag warm an?

FEUER! Das kann nur Feuer sein. Unten in der Wohnung! Da sind Kinder drin!

 

Vor meinen Augen läuft plötzlich ein Film ab. Die Kanzlei, in der ich arbeite, hat vor kurzem ein anderes Gebäude bezogen. Kurz nach dem Umzug gab es einen Feueralarm. Natürlich dachten alle Mitarbeitenden, es handele sich um eine Brandschutzübung. Viele meiner Kolleg:innen blieben im Gebäude, weil sie das laute Hupen und Piepen, das Herunterfahren von Rauchschutzvorhängen und das automatische Zufallen der Brandschutztüren nicht ernst nahmen. Mein Chef, beispielsweise, befand sich auf dem Klo und telefonierte dort sogar noch mit einem Mandanten. »Geschäft ist Geschäft«, sagte er hinterher.

Als ich das Gebäude verließ, winkten mir einige Menschen belustigt aus Fenstern oder von Balkonen zu.

Das hätte mich einfach kopfschüttelnd zurücklassen können. Der Alarm an meinem Arbeitsplatz war aber echt. Ein Kabelbrand im Keller.

 

Und nun schon wieder ein Feuer! Ich springe auf und schalte das Licht ein. Unten brennt es und diese drei Kinder sind in der Wohnung! Ich kann ja sogar Schreie hören! Sind zwei von ihnen schon bewusstlos? Nur diese eine hohe Stimme und die des Vaters kann ich ausmachen. Und das Poltern! Immer wieder rummst es. Versuchen sie eine Tür aufzustoßen? Sind sie in einem Zimmer eingeschlossen?

Ich versuche, mich eilig anzuziehen, stolpere in meine Trainingshose. Währenddessen überlege ich kurz, was mitzunehmen ist. Wenn das ganze Haus abbrennt, dann wird von dem, was sich hier oben befindet, nichts übrig bleiben. Reisepässe, mein Handy und das Ladegerät. Draußen ist es kalt. Mit Jogginganzug, einer Winterjacke und einer Mütze am Körper schlüpfe ich barfuß in meine schwarzen, blitzblank geputzten Lederslipper. Das sind die einzigen, die nicht im Schuhschrank verstaut sind.

Oben auf dem Wäschehaufen im Bad liegt meine Shorts von gestern. Ich tränke sie unter dem Hahn gründlich mit Wasser und halte sie mir vor das Gesicht, als ich die Wohnung verlasse. Man soll ja durch nasse Tücher atmen, um sich vor dem heißen Rauch zu schützen. Gut, dass ich noch klar denken kann. Kann ich das?

Die Treppe stürze ich herunter zur Wohnung von Heinz. Ich lege meine Hand auf die Wohnungstür. Fühlt auch sie sich warm an? Das Feuer muss schon im Flur sein! Ich klingele Sturm. Nichts passiert. Mit dem Ohr, das ich an die Tür lege, kann ich nun keine Geräusche mehr hören. Alles scheint still zu sein. Meine Güte, bin ich zu spät?

Ich hämmere gegen das Holz. Wenn ich eine Axt dabei hätte, würde ich das Türblatt einschlagen!

Irgendwann macht Heinz auf. Die Tür öffnet sich nur einen Spalt weit und ist mit dem kleinen Kettchen gesichert. Ich glaube, er denkt, ihm will jemand an den Kragen. Das lese ich ihm an den Augen ab. Sein Blick schwenkt an mir nach unten und erfasst, wie ich da stehe. In meiner dicken Jacke über dem Ballonseidenanzug, ohne Socken in den Lederschuhen, mit der Bommelmütze auf dem Kopf. Die Reisepässe, das Handy und das Ladegerät gucken aus den Jackentaschen. Meine nasse Unterhose presse ich vor meine Atemöffnungen und schnaufe stark und schnell.

Sein Ausdruck wechselt von einem Angespannt-verängstigt zu einem Verwirrt-belustigt.

Er löst die Kette und öffnet die Tür etwas weiter. Es sei alles o.k., meint er, und, dass er Damenbesuch hätte, gerade erst nach Hause gekommen und »busy« sei.

 

***

 

Heinz und ich haben nie jemandem von dieser Begegnung erzählt. Nicht einmal meiner damaligen Freundin.

Panikattacken sind scheiße.

 

Diese Geschichte ist der lieben A.F. gewidmet.

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