Von Dagmar Droste

Sabine schaute auf die Menschenschlange, die sich am Terminal gebildet hatte. Sie warf einen Blick auf die Anzeigentafel. Der Flug nach Boa Vista würde planmäßig abheben. Sie hatte über die Webseite der Airline ihre Bordkarte mit der Platzreservierung ausgedruckt, sodass sie direkt die Gepäckaufgabe aufsuchte. Sie scannte die Karte und die Schranke öffnete sich zur Sicherheitskontrolle.

 

Ihr fiel der Passagier auf, der vor ihr die Torsonde zum Körperscanner passierte. Er zwängte sich seitlich durch den Eintritt. Hochgewachsene Männer gefielen ihr, doch dieser war wabbelig und speckig. Er zog die scheinbar rutschende Hose in Richtung Bauch, was nichts nützte, da die Fülle ihren Weg über den Hosenbund suchte. Das Hemd spannte sich dermaßen, dass zu befürchten war, dass die Knöpfe es nicht mehr lange schafften, die Massen zusammenzuhalten. Auch für korpulente Menschen gab es angemessene Kleidung. In diesem hellen Anzug, zu dem er ein weißes Hemd trug, dessen obere Knöpfe geöffnet waren und die Verlängerung seines Doppelkinns freigaben, sah er ungepflegt aus. 

 

Das Geräusch der Detektoren riss sie aus ihren Gedanken. „Haben Sie metallische Gegenstände am Körper?“, fragte der Beamte ihn. „Ähm … nein, ja, doch ja.“ Sabine reckte aufmerksam den Hals und versuchte, einen Blick in sein Gesicht. Schweißflecken registrierte sie unter seinen Armen und, wenn sie sich nicht irrte, standen Schweißperlen auf seiner Stirn. „Treten Sie bitte heraus.“ Der Beamte kontrollierte ihn manuell. Zwischen seinen Beinen schlug der Handscanner an. „Haben Sie ein Intimpiercing?“, schallte die Frage in die Runde. Sabine kicherte, was ihr einen grimmigen Blick aus zusammengekniffenen Augen von ihm einbrachte. Er folgte dem Beamten zur genaueren Begutachtung. Die Kontrolle wurde fortgesetzt. Sabine suchte den Weg zum Gate und wartete auf das Boarding.

 

Es war ihre dritte Reise zu den Kapverden. Diesmal freute sie sich auf Boa Vista. Die Insel, die Afrika am nächsten lag und deren Landschaft von Sand und Dünen geprägt war. Ein Eldorado der Strandläufer und Wassersportler. Sie hatte für die Semesterferien in einer Pension als Hilfskraft angeheuert. So blieb der Aufenthalt für sie erschwinglich.

 

Das Boarding startete. Sie hielt die Bordkarte bereit und suchte ihren Fensterplatz. Die Blondgelockte aus dem Mittelgang schenkte ihr mit ihren kirschrot geschminkten Lippen ein Lächeln, das makellose Veneers freigab. „Schade, dass die Mittellehne feststeht, sonst könnten Sie sich auf den Sitz legen, zierlich wie Sie sind.“ Sabine zuckte mit den Schultern. „Ja, das wäre schön, wenn der Sitz frei bleiben würde.“ „Eigentlich ist es mir immer zu eng, aber die knapp sieben Stunden bis Rabil schaffe ich in der Economy“, plauderte die Blonde und strich sich eine Locke aus der Stirn. „Ich buche gerne den Platz am Seitengang, dann kann ich meine Beine mal ausstrecken.“ Zur Demonstration setzte sie sich Sabine zugewandt, mit den Füßen zum Gang, als der letzte Passagier herbeieilte, um den freien Platz neben Sabine einzunehmen. 

 

Sabine sah das Unglück auf sich zukommen. Seitlich, im Krebsgang, versuchte er, den Gang zu durchlaufen. Die Blondgelockte schrie auf. „Aua, passen Sie auf, wo Sie hintreten“, fuhr sie ihn an, zog ihre Pumps aus und rieb sich die schmerzenden Zehen. „Entschuldigung“, beugte er sich zu ihr herunter und brachte mit seinem Hinterteil die Tasche zum Wanken, die Sabine auf den Sitz gestellt hatte und nun an sich riss. Die Stewardess folgte ihm. „Ich bin noch nie geflogen“, krächzte er mit aufgeregter Kopfstimme. Seine in der Luft wedelnden Arme erzeugten Geräusche an der Gepäckablage. „Setzen Sie sich“, wies sie ihn freundlich an, indem sie ihn an den Arm fasste, um ihm Richtung und Sicherheit zu geben. Er drehte und wendete sich, bis er es geschafft hatte, ein Bein in die Sitzreihe zu bekommen und das andere im Seitengang beließ. Die festgestellten Armlehnen ließen ein entspanntes Sitzen nicht zu. Er atmete schwer, Schweiß rann von seiner Stirn. „Versuchen Sie bitte, beide Beine in die Reihe zu stellen.“ Das Lächeln der Stewardess schien eingefroren. Die Blondgelockte rollte mit den künstlich bewimperten Augen und fragte forsch: „Haben Sie für den Herrn keinen anderen Platz? In der Business- oder First Class?“ „Leider nicht“, erwiderte die Flugbegleiterin, „dieser Platz ist so gebucht.“

 

Sabine verschwand hinter ihm. „Bitte anschnallen!“ Verzweifelt zog er an seinem rechten Bein, um es in die Reihe zu bekommen. Die Knie kräftig an den Vordersitz gedrückt, ermöglichte der Stewardess, ihn festzuschnallen. „Drücken Sie nicht meinen Sitz nach vorne.“ Der Vordermann reagierte grantig. Sabine, auf Höhe seiner Achselhöhle sitzend, empfand einen Würgereiz. Das Flugzeug hob ab, begleitet von seinem Gewimmer. „Hilfe! Hilfe.“ Er hatte die Hände zum Gebet gefaltet, „ich sterbe.“ 

 

„Wie heißen Sie?“ Sabine legte die Hand auf seinen Arm. „Ich heiße … ich heiße Heinz.“ Er knetete seine Hände, dass die Knöchel knackten. „Heinz, ich bin Sabine. Warum suchen Sie sich einen Urlaubsort, den Sie nur fliegend erreichen können, wenn Sie Flugangst haben?“ „Ich wollte gar nicht fliegen, als ich beim Preisausschreiben mitgemacht habe. Das Geld wollte ich gewinnen, aber das wurde nicht ausgezahlt, ich musste den Flug nehmen.“ Langsam beruhigte sich Heinz. 

 

Sie hatten die Flughöhe erreicht. Die Stewardess half Heinz, sich des Anschnallgurtes zu entledigen. Sabine hatte sich eng ans Fenster gedrückt, um Abstand von der Armlehne zu halten, die Heinz belegt hatte. Sie beobachtete ihn aufblickend von der Seite. Die schmalen Lippen fest aufeinandergepresst, seine Haut hell und feinporig, babyhaft weich. Blonder Bartflaum gab ihm etwas Pubertäres. Seine dünnen, aschblonden Haare schweißnass. Das Jackett knittrig. Abwehrend hob sie ihre Hände. Ein Schütteln durchlief ihren Körper. „Ist Ihnen kalt?“, erkundigte sich Heinz, mit einer angenehmen, melodischen Stimme, die so gar nicht zu seinem Aussehen passte. „Sie haben auch nichts auf den Rippen.“ Wie schaffte sie sieben Stunden auf diesem Platz, fragte sich Sabine. Sie könnte die Toilette aufsuchen, aber wie sollte er aufstehen, wo er gerade seinen Körper in den Sitz gezwängt hatte? „Meine Gummistrümpfe zwicken.“ Er zog über der Anzughose, soweit es möglich war, an seinen Gummistrümpfen. „Sabine, tragen Sie Kniestrümpfe? Meine gehen bis in die Leiste, das zwickt.“ Sabine schloss die Augen. Nur nichts mehr sehen und hören. Sie stützte den rechten Arm auf den angewinkelten linken und bedeckte mit der Hand ihre Augen. „Ist Ihnen nicht gut, Sabine?“, hörte sie Heinz besorgte Stimme. Er schien sich zum Kümmerer zu entwickeln. „Bitte stehen Sie auf.“ Energisch richtete Sabine sich auf, das gab ihr die Möglichkeit, ihm direkt ins Gesicht zu schauen. Wässrig blaue Augen hatte er. Ein No-Go stellte sie fest. 

 

Heinz zerrte mit seinen Händen sein rechtes Bein in den Gang, ruckartig folgte das linke. „Hören Sie mit dem Randalieren auf, das ist ja unerträglich. Können Sie beide sich nicht einigen, was Sie wollen?“ Beim Vordermann keimte erneut Ärger auf. Vorsichtig erhob sich Heinz, drängte sich stehend in den Gang und ließ Sabine passieren. „Setzen Sie sich wieder hin“, befahl die Blondgelockte und gestikulierte mit den fein manikürten Händen, „ich sehe nichts.“ Heinz gehorchte anstandslos. Nach bekanntem Prozedere klemmte er sich erneut in den Sitz.

 

Sabine stand auf der Toilette, ließ sich Wasser über Hände und Gesicht laufen. Sie hätte nicht angenommen, dass dieses ihr Lieblingsort werden könnte. Am liebsten würde sie den Flug hier verbringen. Dreißig Minuten waren ihr vergönnt, dann klopfte die Flugbegleiterin, um sich nach ihrem Wohlbefinden zu erkundigte. „Alles okay“, Sabine trat den Weg zurück an. Schon routiniert erhob sich Heinz. „Sie sehen käsig aus“, stellte er besorgt fest und krauste die Stirn, bevor er wieder Platz gefunden hatte. 

 

Der Imbiss wurde serviert. „Was wünschen Sie für ein Getränk?“, richtete die Stewardess das Wort an Heinz. „Ein Bier!“, kam die prompte Antwort. „Wir haben alkoholfreie Getränke, Bier gehört leider nicht dazu.“ „Ach, dann eine Cola.“ Sabine orderte ein Mineralwasser. „Kein Wunder, dass sie immer frösteln“, konstatierte Heinz und schüttelte den Kopf. Sabine klappte den Tisch aus dem Vordersitz und stellte ihr Getränk und den Burger ab. Ihre Hände zitterten. Heinz trug das Tablett auf den Knien und parkte die Cola auf Sabines Tisch. Mit Genuss biss er in den Burger. Eine Extraportion Mayonnaise vervollständigte sein Gericht. „Sabine, Sie essen ja nichts.“ „Ich habe keinen Hunger.“ Sie sah zur Decke, als käme von dort Hilfe. „Geben Sie mir den Burger, das wäre schade, wenn er zurückginge“, schlug er vor und griff, ohne eine Antwort abzuwarten, freudig mit seinen fleischigen Fingern den Burger. Ein genüssliches Schmatzen erreichte Sabines Ohr. Sie setzte den Kopfhörer auf und suchte nach Entspannungsmusik. Tränen rannen ihr aus den Augen. Die Wimperntusche hinterließ Spuren der Hilflosigkeit auf ihren Wangen. Sie drückte die Handflächen an die Schläfen. Hoffentlich war dieser Albtraum bald vorbei! Sie verspürte den Drang, Gebete, wohin auch immer, zu senden.

 

„Sabine, Sie haben mir die Angst genommen“, äußerte Heinz im Landeanflug auf Rabil. „Sie sind so zauberhaft! Verbringen wir den Urlaub gemeinsam?“ 

 

 

Version 1

9339 Zeichen