Von Florian Ehrhardt

Oma setzt sich neben mir in die Gondel und es geht nach oben. Der Sommer 2019 ist so schön, dass er selbst im Oktober noch für goldene Herbsttage sorgt. Es war eine wunderbare Idee, diesen strahlenden Tag für eine kleine Wanderung im Allgäu zu nutzen.

„Weißt du, Oma, heute Morgen haben wir beim Frühstück über ihn geredet und ich finde, wir sollten ihn nochmal besuchen“, sage ich.

„Über wen?“, fragt sie verdutzt.

„Na, Heinz. Deinen Schwager!“

„Meinst du?“

„Natürlich.“

„Ich würde ihn gern so in Erinnerung behalten, wie er war.“, sagt sie traurig.

„Du kennst ihn ja auch länger.“ Ich kenne meinen Großonkel erst richtig, seit er und seine Frau Karin im Ruhestand von Hessen zu uns ins Allgäu gezogen sind.

„Ohne ihn hätte es Mama viel schwerer mit euch gehabt, weißt du noch, wie er euch immer zur Schule begleitet hat?“

„Das war in der Grundschule! Aber klar, natürlich kann ich mich erinnern!“

„Und die Wanderungen mit ihm?“, fragt Oma, „kannst du dich daran noch erinnern?“

„Klar!“

„Weißt du noch, wie er uns an der einen steilen Stelle bei der Hörnerwanderung die Hand gehalten hat, damit wir nicht stürzen?“

„Ich hab das alleine geschafft!“

„Du schon! Aber ich und Karin hätten ohne seine Hilfe bestimmt umdrehen müssen.“

 

Der Lift kommt an der Mittelstation an und wir steigen in einen kleineren Sessellift um.

„Also, an der Bergstation trennen wir uns, du läufst direkt auf die Hütte und ich nehme den Umweg über den Gipfel, oder?“, frage ich Oma.

„Glaubst du, ich finde den Weg zur Hütte alleine?“

„Natürlich, zur Not fragst du jemanden.“

„Wenn Heinz heute hier wäre, könnte er mir den Weg zeigen.“

„So fit wie der war, könnte er auch mit mir auf den Gipfel gehen!“, meine ich.

„Stimmt“, sagt Oma, „aber ich glaube, er würde lieber für mich und Karin den Wanderführer spielen.

„Kann sein.“ Ich überlege. „Weißt du noch, wie ich damals bei der Wasserfallwanderung einen Purzelbaum auf dem Weg gemacht habe und Heinz mich an den Hosenträgern festgehalten hat?“

„Natürlich! Kannst du dich daran etwa noch erinnern? Da warst du doch höchstens acht Jahre alt!“

„Hey, das ist auch noch keine fünfzehn Jahre her, so alt bin ich nicht!“

„Schau mich an, ich bin 60 Jahre älter als du!“

„Sieht man dir nicht an!“ Ich grinse, was vor allem daran liegt, dass Oma, die irgendwann in einen Jungbrunnen gefallen sein muss, wirklich immer 20 Jahre jünger aussieht, als sie wirklich ist.

„Charmeur!“, gibt sie mit dem gleichen Grinsen zurück.

Ich werde wieder ernst und weise auf eine winzige Narbe an meinem Knie. „Die ist von dem Sturz damals, aber ohne Heinz wäre ich 20 Meter weiter unten gelandet.“

„Möchte ich mir gar nicht vorstellen! Pass heute ja auf!“

„Glaubst du, er kann sich noch daran erinnern, dass er mir damals das Leben gerettet hat?“, frage ich.

„Ich weiß es nicht.“, sagt Oma traurig.

Ich nicke stumm und der Lift befördert uns die letzten Meter nach oben.

 

„Also, dann sehen wir uns in zwei Stunden auf der Hütte, oder?“, fragt Oma beim Ausstieg.

„Passt.“ Der Himmel ist blau und die Luft ist wunderschön klar, wenn ich nicht so viele Fotos schieße, kann ich es sogar in zwei Stunden schaffen. „Wir sehen uns später!“, rufe ich Oma hinterher, die sich bereits auf den Weg gemacht hat. In der Hoffnung, irgendwo in der Ferne ein Murmeltier schreien zu hören verzichte ich auf Rapmusik aus meinen Kopfhörern – was ja eh nicht zu diesem wunderschönen Bergpanorama passen würde – und bin zum ersten Mal seit Wochen wirklich allein mit meinen Gedanken. Sie kreisen sofort wieder um Heinz, der irgendwo in einem Pflegeheim liegt, das ich nie gesehen habe. Eine Erinnerung drängt sich nach vorne: Die von der letzten Wanderung mit ihm. Irgendwie denke ich auch beschämt an diesen Julitag im Jahr 2016 zurück, weil ich nicht dankbar war für die wunderschöne Natur, sondern weil…

 

…, weil ich genervt bin! Vollkommen zurecht, finde ich. Meine nigelnagelneuen Wanderschuhe sind viel zu gut für diese Rentnertour.

Seit 20 Minuten sitze ich vor dieser blöden, halb verfallenen Schäferhütte im Mischwald – im Mischwald! Wir kommen so langsam voran, dass wir noch unter der Baumgrenze sind! – und beiße lustlos in den Wurstwecken, den Oma extra belegt hat. Alleine wäre ich bestimmt schon am Gipfel. Der ist mir eh nicht hoch genug, ich hätte viel lieber den höheren Gipfel auf der anderen Seite des Tals bezwungen.

Mama kommt mir mit Schweißflecken im Gesicht entgegengeschnauft. „Hier steckst du also!“, ruft sie mir entgegen.

„Wo soll ich denn sonst stecken? Der Weg geht hier lang!“ Mittlerweile bin ich richtig sauer. Die Rentnertruppe könnte mich wenigstens mein eigenes Tempo gehen lassen. Ich warte dann schon. Sieht man doch.

Mama kommt mir noch ein paar Schritte entgegen. „Weißt du, du machst es dir hier oben gemütlich, während wir uns den Weg hochquälen müssen!“

„Gemütlich? Ich muss hier fast schon eine halbe Stunde auf euch warten, während ihr nicht vorankommt? Das ist doch bestimmt nur, weil ihr wieder halbe Fotoshootings abhalten müsst!“

Mama sieht mich ernst an. „Heinz kommt nicht mehr weiter“, sagt sie bedrückt.

„Das bildet ihr euch doch nur ein!“, gebe ich zurück. In letzter Zeit macht sich Karin große Sorgen, dass mit Heinz etwas nicht stimmt. Weil er manchmal etwas lange braucht, um den Gurt im Auto zu finden. Oder weil er nicht alle tausend Sachen vom Einkaufen mitbringt, die sie ihm aufträgt. Mit 75 ist das doch kein Grund zur Sorge, oder? Niemand muss da das Wort mit A in den Mund nehmen, richtig? Und vor allem: Karin ist sowieso ein Hypochonder und rennt wegen wirklich jeder Kleinigkeit zum Arzt.

Mama reißt mich aus meinen Gedanken: „Kommst du?“

„Ich?“

„Ja, du!“

„Ich warte hier. Könnt ja nachkommen!“, brumme ich in meinen nicht vorhandenen Bart.

Mama zieht beleidigt ab und kommt fünf Minuten später mit der ganzen Truppe im Schlepptau zurück.

„Na endlich!“, rufe ich, „Können wir jetzt weiter?“

„Brauchen…erstmal…Pause“, japst Karin mir entgegen.

Ich rolle die Augen. War klar. Heinz sieht übrigens aus, als könnte es für ihn sofort weitergehen, während seine Frau komplett außer Puste ist.

 

Nach nochmal zehn endlosen Minuten kann es endlich weitergehen. Wenigstens wird es jetzt interessanter, denn der Wanderweg ist nicht mehr breit und gekiest, sondern schmal und von Wurzeln übersät. Wir müssen also im Gänsemarsch gehen, Mama hat mich nach ganz hinten beordert („Damit du nicht wieder wegrennst!“) und deshalb sehe ich nur aus dem Augenwinkel wie passiert, was diesen Tag für immer in mein Gedächtnis brennen wird:

Heinz läuft einige Meter vor mir – vor Oma und hinter seiner Frau, wie immer – und bleibt plötzlich an einem Grasbüschel im Boden hängen.

Ich will „Vorsicht!“ rufen, doch alles passiert viel zu schnell.

Heinz verliert das Gleichgewicht und beginnt, die Bergwiese zu unserer Linken herunterzurutschen. Jetzt passieren zu viele Dinge gleichzeitig. Karin schreit, Oma tippt absurderweise auf ihrem Handy herum, um das ganze fotografisch festzuhalten, Mama will Heinz festhalten, ist aber zu weit weg.

Ich habe mich unbewusst in Bewegung gesetzt und hechte Heinz mit beherzten Sprüngen hinterher, habe den festen Entschluss gefasst, seinen Sturz mit einer actionreifen Grätsche zu beenden, oder zumindest zu verhindern, dass er mit der knorrigen, riesigen Tanne kollidiert, auf die er zurast.

In diesem Moment schafft es Heinz selbst, zu bremsen, er setzt sich verdutzt auf.

Ich komme keuchend bei ihm an und halte ihm die Hand hin, damit er leichter aufstehen kann.

Er schlägt mir wütend auf die Finger. „Ich schaff das allein!“, raunzt er mich an. „Ist doch alles kein Problem!“, ruft er im breitesten Hessisch.

„Ich glaube, wir sollten umdrehen!“, rufe ich Mama zu.

 

Auf dem Weg zurück zum einfacheren Kiesweg müssen wir Heinz führen. Immer wieder stolpert er, immer wieder verzichtet er auf unsere Hilfe. Wie ein Kleinkind. „Jetzt lass dir doch helfen!“, rufe ich entnervt. „Nicht, dass du wieder fällst.“

Er sieht mich mit großen Augen an. „Wieder? Wann bin ich denn gefallen?“

Mein Herz rutscht in die Hose. Vor meinem geistigen Auge bröckelt das Bild der überängstlichen Karin und fällt in sich zusammen. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass die Diagnose meiner Großtante doch stimmen könnte.

 

Knappe dreieinhalb Jahre später biege ich um eine Kehre und sehe das Gipfelkreuz vor mir. Der atemberaubende Blick über die Alpen katapultiert mich zurück in die Gegenwart. Ich steige die letzten Meter zum Gipfel hinauf. Schon mit 20 ist mir klar, dass ich – katholischer Kindergarten hin oder her – wohl nie ein besonders religiöser Mensch sein werde. Aber: das herbstliche Bergpanorama in allen – ja, wirklich allen – Farben der Natur vor dem blauen Himmel macht es mir dann doch wieder schwer, einen auf Atheist zu machen. Ich schlage sogar ein hastiges Kreuzzeichen, bevor ich kurz das Gipfelkreuz berühre. In der Ferne glitzert die Zugspitze. Es ist ein wunderschöner Tag, um draußen zu sein. Ich genieße den Moment als mein Handy vibriert.

Genervt, dass mir mein Moment der Stille genommen wurde, hebe ich mir das Telefon ans Ohr und melde mich mit einem unfreundlichen „Ja?“.

Mama ist dran. „Bist du es?“ Ihre Stimme ist belegt.

„Wer denn sonst?“, frage ich unsicher.

„Okay. Onkel Heinz ist heute Morgen gestorben.“, sagt sie.

„Shit.“ Mein Atem stockt. Ich setze mich neben dem Gipfelkreuz auf den Hosenboden. Schließe kurz die Augen.

„Bist du noch da?“, kommt es aus der Leitung.

„Ja.“

„Weinst du?“

Ich versuche, die Tränen wegzublinzeln. „Ne…“, sage ich mit belegter Stimme. „Weiß es Oma schon?“, frage ich.

„Ich rufe sie gleich an, du musst sie später trösten. Ist es gut beim Wandern?“

„Ja, ja.“

„Na dann…hab dich lieb“ Mama legt auf.

Ich lege mein Handy weg. Starre in den makellos blauen Himmel.

Ich würde auch gerne sagen, dass ich irgendwo in diesem strahlenden Blau einen Adler oder irgendeinen Vogel sehe, von dem ich mir sicher bin, dass es Heinz ist, der gerade in den Himmel auffährt. Aber das Leben ist keine Geschichte und so bleibt mir nur die leise Hoffnung, dass er doch irgendwie da ist. Er hätte einen Tag wie heute genossen.

V1

 

für Heinz-Günther

1940-2019

 

feh/022022