von Bruni Braun

Wann immer ich vor unserer Apotheke aus dem Wagen steige, um dort jene Mittelchen zu erstehen, die meine Zipperlein einzudämmen oder sogar abzuwürgen imstande sind, muss ich innerlich schmunzeln und an Shirley McLain denken. Sie spielte einmal eine amerikanische  Präsidenten-Witwe, die es liebte, begleitet von ihrem Bodyguard, zuweilen persönlich in den Supermarkt zu gehen.

 

Bis hierhin ist der Grund meines Amüsements noch nicht erkennbar, jedoch im Moment des Betretens der Apotheke beginnt unsere Gemeinsamkeit.

Im Film fragt der Marktleiter leise den Bodyguard:

 

Will sie heute erkannt werden?“

 

Der Bodyguard flüstert zurück:

 

„Nein, heute will sie nicht erkannt werden!“

 

Sofort wird diese Anweisung wie eine „Stille Post“ unter den Angestellten weitergegeben:

 

„Sie will nicht erkannt werden!“

„Sie will nicht erkannt werden!“

                                         „Sie will nicht erkannt werden!“

 

Die  Angestellten samt Marktleiter wenden sich wieder geschäftig ihrer Arbeit zu, während die Präsidenten-Witwe, scheinbar völlig unbeachtet, ihre Auswahl trifft.

Beim nächsten Einkauf jedoch flüstert ihr Bodyguard auf die Frage des erkannt werden Wollens:

„Ja, heute will sie erkannt werden!“

 

Sofort wird diese Information auch wieder wie eine „Stille Post“ von Mitarbeiter zu Mitarbeiter weitergeflüstert:

„Sie will erkannt werden!“

„Sie will erkannt werden!“

„Sie will erkannt werden!“

 

Augenblicklich konzentrieren die Angestellten samt Marktleiter die ganze Wucht ihrer Freundlichkeit nur auf die Präsidenten-Witwe, die es lächelnd zur Kenntnis nimmt und den Hauch von Wichtigkeit, mit dem man sie umgibt, leutselig reflektiert.

Eine witzige, aber mir sehr vertraute Situation: Es gibt sie, diese Tage der Leutseligkeit und jene, an denen ich am liebsten in einer hohen Mauer unterwegs wäre, um ein Formtief oder meine Mitteilungsunlust nicht erkennen zu lassen.

Da ich keinen Bodyguard habe, muss ich die Entscheidung selbst treffen und frage mich: „Was für einen Tag hast du heute? Möchtest du schweigend dein Rezept über den Ladentisch schieben oder würde dir ein Gespräch gefallen? Nur bitte keinen Small-Talk, das macht mich ärgerlich. Banalitäten sind mir ein Gräuel.“

 

Mein Apotheker ist ein liebenswürdiger, sehr kompetenter und auch humorvoller, junger Mann, der jedoch hoffnungslos  überfordert wäre, sollte er die jeweiligen Befindlichkeiten der „Präsidenten-Witwen“ selbst herausfinden müssen. Schließlich bekam Shirley MacLaines Marktleiter die Anweisung vom Bodyguard …

 

Während der Apotheker mich begrüßt, signalisiert mein innerer Bodyguard:

 

„Sie will angesprochen werden!“

 

Und ruck-zuck sind wir im Gespräch. Es geht um Visa-Card, Euro-Card, Geheimzahl, Verlust und anderes.

Gewöhnlich ist die optische Individualität des Apotheker-Teams durch weiße Kittel stark reduziert, doch jetzt, im Gespräch, fällt mir plötzlich auf, dass der Chef heute auf die weiße Verhüllung verzichtet hat.

 

Und was sehe ich da?

 

Man trägt ihn wieder! Eine Ewigkeit war er verpönt und absolut uncool. Jetzt scheint er offensichtlich seine Renaissance zu erleben! Ich spreche von jenem unvergleichlichen Norweger-Pullover mit den gegenläufigen Elchen auf der Brust!

 

Glücklicherweise ist man als Frau multitaskingfähig. So setzt mein Mund die Unterhaltung fort, während meine Augen in den Geweihen der Elche hängen bleiben. Nebel steigt aus ihnen empor, Nebel der Erinnerung hüllt mich ein, isoliert mich von meiner Umgebung,  sie verschwimmt und Bilder des Jahres 1947 formieren sich. Es ist  das Jahr meiner Einschulung. Der Krieg ist  beendet und durch die große Wohnungsnot leben meine Großeltern, meine Eltern und ich zunächst auf engstem Raum in einer kleinen Küche, in der sich alles abspielt und einem Schlafzimmer. Erst als meine kleine Schwester geboren wird, muss die Hauswirtin uns ein weiteres Zimmer überlassen. Sie tut es ungern, was sie uns durch allerlei Schikane spüren lässt. Mutter sagt, der Grund dafür, dass sie ihr  „nicht grün“ sei, sei zweifellos das Unglück, dass sie mit drei kleinen Buben allein dastehe.  Ihr Mann war gefallen, während mein Vater unversehrt zurückgekehrt war.

 

Ich habe schon als Kind durchaus diese Spannung zwischen den Erwachsenen gespürt. Gerne wäre ich mit meinem kleinen Teddy im Hof oder im großen Garten zwischen den mit Backsteinen eingefassten Gemüsebeeten spazieren gegangen, doch das hatte die Hauswirtin verboten.

 

Trotz dieser Enge gab es für ein Kind meines Alters und meiner Statur noch Nischen der Glückseligkeit. Obwohl fast keine Speisen, so hatten wir doch eine Speisekammer, deren hintere Wand nicht bis zur Decke reichte. Etwa einen halben Meter darunter bildete sie eine Plattform nach hinten, die dann, nach etwa einem Meter, durch die endgültige Rückwand begrenzt wurde, die bis zur Decke reichte, wie Wände das so an sich haben. Zu dieser Plattform hinauf führte eine Metallleiter. Mein Vater hatte sie selbst gemacht: Eine dicke Eisenstange, deren wechselweise links und rechts angebrachte Tritt-Stufen genauso aussahen wie die Fußstücke unserer Stelzen, mit denen wir Kinder damals draußen herumliefen. Das Raufklettern erinnerte mich immer an die Strom-Techniker, die ich im Feld manchmal schon gesehen hatte. Sie trugen flach nach innen gebogene, krallenartige Eisen an den Schuhen, die sie, um nach oben zu kommen und dort etwas reparieren zu können, wechselweise in den Strommast schlugen. Hin und wieder durfte ich diesen Ort erklimmen, z.B. wenn es regnete oder man mich einfach mal aus den Füßen haben wollte. Dann saß ich zusammengekauert dort oben, stöberte in uralten Lexika, die Opa gehörten, deren Papier so hauchdünn wie Pergament war, blätterte in abgelegten Illustrierten, die durch ihre Bilder und Texte in braunem Druck sehr vornehm auf mich wirkten und träumte mich hinaus in die weite Welt.

 

War das Wetter gut, so gab es für mich noch eine weitere Insel des Glücks. Die Hauswirtin besaß im Hof, direkt hinter dem Haus, einen großen Schuppen mit Aluminium-Spitzdach, das mit seiner Längsseite parallel zur Fensterfront unserer Küchenwand  verlief und bündig unter der äußeren Fensterbank abschloss. Stieg ich aus dem Küchenfenster hinaus, so konnte ich mich auf der schrägen Seite dieses Daches gefahrlos niederlassen. Hier sitzend reichte mir Mutter die erste Banane meines Lebens, die ich mit der Schale zu essen versuchte, denn bis dahin kannte ich nur Äpfel, Birnen und Pflaumen, die ich nicht zu schälen brauchte.

Im äußeren oberen Teil des Fensters  hatte Opa quer eine Schnur gespannt, auf der die selbst gezogenen Tabakblätter für seine Pfeife zum Trocknen aufgehängt waren, die ich beim Ein- und Aussteigen durch das Fenster auf gar keinen Fall berühren durfte, denn sie brachen knackend so leicht wie uralte Buchseiten. Von diesem Beobachtungsposten aus blickte ich direkt auf die „Mistkaut“, ein großes, viereckig gemauertes Behältnis, auf dem der kompostierbare, stets von Schwärmen  grün-bunt schillernder Fliegen besuchte  Abfall aufgetürmt war.

Von diesem Platz aus, um wieder den Bogen zum Norweger-Pullover zu spannen, hatte ich auch den Blick auf vier armselige Kaninchenställe, die die Hauswirtin uns zu bauen erlaubt hatte. Hier lebten unsere Angora-Hasen. Die Zeiten waren hart, und wir haben sehr gehungert. So ist mir unvergessen, dass wir die Kartoffelschalen, die wir für die Hasen geschenkt bekommen hatten, ihnen vorenthielten und selbst aufaßen. Dennoch gediehen die Hasen gut, denn eine meiner Aufgaben oder auch Strafarbeiten war das „Hasenfutter-Stechen“. Ausgerüstet mit einem kleinen Spankorb und spitzem Messer, „Hümmelchen“ sagt man hier, zog ich aus, das gewünschte Grünzeug zu stechen, zu sammeln. Nur einmal, als meine Sammellust sehr klein war, hatte ich die Idee, die Grünzeug-Menge des erst halbvollen Spankorbes fülliger erscheinen lassen zu wollen, damit ich fertig wäre. Ich schüttelte und zupfte Gras und Blättchen locker auseinander wie man ein Kopfkissen aufschüttelt und siehe da, der Korb war voll. Zuhause angekommen, warf  Mutter nur einen kurzen Blick auf meine Lieferung, drückte dann mit der flachen Hand alles nach unten und schickte mich erneut los … Man konnte ihr leider nichts vormachen!

 

War das Fell der Hasen dicht genug, wurden sie geschoren. Sonntags, in aller Frühe, stand mein Vater auf, um jene Zeit zu nutzen, in der die übrigen Familienmitglieder die Küche noch nicht bevölkerten, denn die Fellhaare waren so leicht, dass man kaum atmen durfte, geschweige denn  herumlaufen, weil sie sonst überall umhergeflogen wären. Auf den Küchentisch wurde eine wachstuchartige Decke aus Militärzeiten gelegt, die sich später mittels einer uralten Nähmaschine in ein Regen-Cape für mich verwandelte. Die Hasen wurden einer nach dem anderen auf den so vorbereiteten Tisch gesetzt und geschoren, ihre Wolle in Büchsen verpackt und an eine Fabrik geschickt, in der sie gesponnen und gefärbt wurde. Als Bezahlung dafür behielt man dort einen Teil der Wolle ein. Den Rest bekam man zurück in jenen Farben, die man zuvor aus einer Tabelle dieser Firma ausgesucht hatte.

 

Auf diese Weise kam er zu mir, mein Norweger-Pullover in Orange und Schwarz, mit den gegenläufigen Elchen auf der Brust und dem Verschluss oben auf der linken Schulter mit schwarzen, wie Pilze aufragenden Knöpfen auf Stengeln in gehäkelten Schlingen. Mit ihm wurde ich eingeschult, wovon das obligatorische Einschulungsfoto auf ewig Zeugnis ablegen wird: Der Norweger-Pullover, der von Mutter gemachte Prinz-Eisenherz-Haarschnitt und jene unübertroffenen, viel zu langen braunen Wollstrümpfe, – man wuchs ja so schnell –  für die man noch ein Leibchen mit Gummibändern anziehen musste.

 

Manch Wollknäuel unserer Hasen wurde nicht bei uns verstrickt. Man nahm es als Tauschobjekt für Brot und andere Nahrungsmittel. Überhaupt habe ich meine Mutter höchst selten stricken gesehen, denn sie begann, wie sie einmal erzählte, erst spät abends damit, nachdem man mich schon längst ins Bett geschickt hatte.

 

„Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“, hörte ich die freundliche Stimme des Apothekers durch meinen Erinnerungsnebel hindurch, der sofort, wie durch einen Windstoß weggeblasen, verschwand, was mich augenblicklich wieder in die Gegenwart zurückbrachte. Ich löste meinen Blick vom Pullover des Apothekers, versuchte ein Lächeln, sagte: „ Danke, nein! Für heute nichts mehr!“, verabschiedete mich und verließ, als sei nichts geschehen, die Apotheke.

Doch dieser Norweger-Pullover hing mir noch lange nach wie ein Traum, aus dem man sich nicht lösen kann …