von Marcel Porta

Ich war im Hotel „Bären“ in Stuttgart gelandet. Am 2. April 1760. In SEINEM Zimmer, wenn die Zeitmaschine korrekt gearbeitet hatte. Nackt, wie immer bei dieser Art Reisen.

Diffuses Licht drang durchs Fenster und beleuchtete spärlich die Szene vor mir. Nur undeutliche Schemen, doch was die Personen trieben, war offenkundig.
Eine junge Frau, höchstens 20, der Mann über 30, muskulös, mit schwarzen Haaren und lustverzerrtem Gesicht. Konnte ER das sein? Hinter ihm kniete noch eine ältere Rothaarige, die an ihm herumfingerte.

Es befand sich noch eine Person im Raum. In einem Stuhl vor dem Bett saß ein weiterer Mann. Das musste er sein. Die Ähnlichkeit mit dem Porträt, das ich aus seiner Biografie kannte, war verblüffend. Ich hatte Casanova vor mir. Ich war so verrückt gewesen, ihn besuchen zu wollen. Und das Ergebnis dieser hirnrissigen Idee: Ich platzte mitten in eine Orgie – nackt!

 

Casanova blickte kurz in meine Richtung, lächelte mich an und schaute dann wieder der Szene auf dem Bett zu. Offensichtlich war er nicht erstaunt, mich hier zu sehen. Das Reisebüro DreamZone gewann mir immer mehr Respekt ab.

Warum war ich hierher gekommen? Um zu erleben, wie Casanova Orgien feierte? Er war eine schillernde Persönlichkeit, und ich hatte alle fünfzehn Bände seiner Memoiren gelesen. Ich hatte nicht nur den berühmtesten Liebhaber aller Zeiten vor mir, sondern zudem einen interessanten Menschen. Hatten seine Schilderungen mich so gefangen genommen, ohne dass ich es merkte?

 

Meine Gedanken waren abgeschweift, doch jetzt wurden sie wieder in die Gegenwart zurückgeholt. Erste Worte drangen an mein Ohr. „Fantastisch! Um die Ästhetik perfekt zu machen, fehlt nur noch eine Kleinigkeit. Gnädiges Fräulein Benini, darf ich Ihren liebenswerten Mund benutzen?“, wandte Casanova sich höflich an die Rothaarige. Ohne eine Antwort abzuwarten, stellte er sich vor sie hin und passte sich im Nu dem Rhythmus der drei anderen an.

Sprache ist kein Problem, hatte man mir gesagt, und es stimmte.

 

Diese Selbstverständlichkeit, mit der die vier Personen miteinander agierten, diese Hingabe an die gegenseitige Befriedigung. Keinerlei falsche Scham oder auch nur der Hauch eines Zögerns. Diese Menschen lebten nur ihrer Lust – und das steckte an.

Der Liebesknäuel vor mir näherte sich der Ekstase, die Geräusche ließen es vermuten.

Schwer atmend löste sich Casanova schließlich aus der Gruppe.

„Meine Lieben, ihr müsst jetzt verschwinden, ich muss mich langsam auf meinen Abgang vorbereiten.“

Verflixt, so hatte ich es mir nicht vorgestellt.

„Könnten Sie noch etwas bleiben?“, wandte er sich an mich. „Ich möchte gerne etwas mit Ihnen besprechen.“

Unglaublich, er tat so, als kennten wir uns seit Jahren. Nackt saß ich ihm gegenüber, schämte mich jedoch zu meiner eigenen Verwunderung keinen Augenblick.
Unverhohlen nahm ich ihn in Augenschein. Ich wusste, er wurde heute 35 Jahre alt. Blendend sah er aus. Wohlproportioniert, muskulös, mit einer Haarpracht, wie sie wohl gerade Mode war. Am auffälligsten sein Gesicht. Eine schmale Nase, tief liegende Augen, weiches Kinn und breite Stirn. Keine Schönheit im eigentlichen Sinn, doch außerordentlich faszinierend. Das war er also, der größte Liebhaber aller Zeiten. Und ausgerechnet ihn hatte ich mir als Ziel auserkoren.

 

„Na, wie hat Ihnen unser kleines Schauspiel gefallen?“

„Es hat mich beeindruckt. Sie schienen perfekt aufeinander abgestimmt.“

„Man findet im Umkreis von vielen Meilen keine angenehmere Gesellschaft, wenn man auf erotische Kunstfertigkeit Wert legt, als diese beiden Tänzerinnen.“

Sein Lächeln war betörend. Ich verstand intuitiv, warum er solche Erfolge bei der weiblichen Bevölkerung hatte.

„Es tut mir unendlich leid, aber ich habe Ihren Namen vergessen. Unverzeihlich bei einer solchen Schönheit. Können Sie darüber hinwegsehen und mir Ihren werten Namen verraten?“

„Ich heiße Sonja Kowalskaja, ein Name, der ihren Ohren nicht fremd klingen wird, Sie haben einige Zeit am Hof der Zarin verbracht.“

„Sie sind gut unterrichtet, gnädiges Fräulein, meine Anerkennung. Ja, Katharina ist eine sehr bedeutende und vor allem hochinteressante Persönlichkeit. Darf ich fragen, was Sie hierher führt?“

„Ich wollte Sie kennenlernen, denn man preist Sie als größten Liebhaber des Jahrhunderts.“

Wie konnten mir diese Worte nur herausrutschen?! Ich musste verrückt sein. Doch dann fiel es mir siedend heiß ein: das Kleingedruckte in den Reiseunterlagen. In den Zeitreisen kann man nicht lügen. Wie hatte ich das vergessen können. Jetzt war ich ihm und meinen geheimsten Wünschen hilflos ausgeliefert.

„Hoho, wer hat Ihnen denn das erzählt? Es ist maßlos übertrieben. Ich bekenne, dass ich ein glühender Verehrer der Frauen bin. Ich bin für das andere Geschlecht geboren und opfere ihm Zeit und Leben, befolge meinen Wahlspruch: Das Leben ist dazu da, uns glücklich zu machen, und höchstes Glück erfahren wir durch die Sinneslust. Es gibt nur einen einzigen Wert, den ich noch höher einschätze: die Freiheit.“

„Das ist mir bekannt, Ihre Flucht aus den Bleikammern von Venedig ist legendär.“

„So, man spricht davon? Irgendwann werde ich mal ein Buch darüber schreiben. Es juckt mich in den Fingern. Eigentlich war das nichts Besonderes. Jeder Mensch, der bereit ist, lieber sein Leben zu lassen als eingesperrt zu sein, hätte das vollbringen können.“

Das stimmte sicher nicht, sondern war ein eindeutiger Fall von Tiefstapelei.

 

„Es wird höchste Zeit für mich, diesen ungastlichen Ort zu verlassen. Sicher haben Sie bemerkt, dass ich unter Hausarrest stehe und im Vorraum eine Wache steht. Leider habe ich die Unvorsichtigkeit begangen, mit drei Offizieren des Herzogs Karten zu spielen. Sie haben mich mit vergiftetem Wein betäubt und mehr Geld von mir gewonnen, als ich zu zahlen imstande bin. Herzog Karl Eugen braucht ständig Geld und hat seine Offiziere dazu angehalten, durch Lug und Betrug solches zu beschaffen. Ein Prozess kann also nur so enden, dass ich als Soldat in des Herzogs Dienst gepresst werde.“

„Was werden Sie jetzt tun?“

„Seit einigen Tagen haben die Tänzerinnen meine Wertsachen unter ihren Röcken herausgeschmuggelt, sodass ich nur noch meine Juwelen mitnehmen muss. Mein Diener Leduc steht mit einer Mietkutsche bereit. Die Flucht wird über Tübingen nach Fürstenberg bei Donaueschingen gehen, das außerhalb Württembergs liegt. Dort bin ich sicher. Ich muss lediglich an der Wache im Vorraum vorbei kommen. Wollen Sie mir helfen? Wenn nicht, kann ich den Kerl auch mit einem Messer erledigen.“

„Sicher helfe ich Ihnen, wenn Sie mir sagen, was ich tun muss.“

„Es ist gerade die richtige Stunde, kurz nach Mitternacht, die Straßen sind leer. Bereiten Sie ihm eine süße Stunde, sodass er abgelenkt ist und ich mich vorbeischleichen kann. Danach kommen Sie zu mir in die Kutsche, ich werde unten auf Sie warten. Ich werde Ihnen ewig zu Dank verpflichtet sein und mich revanchieren.“

 

So also war er entkommen, die Fachwelt konnte aufhören zu spekulieren.

Ein Nein kam nicht infrage.

„Ich bin einverstanden, wenn Sie mir danach die Geschichte Ihrer Flucht aus den Bleikammern erzählen.“

Verschmitzt lächelte er mich an, nickte und forderte mich mit Gesten auf, den Worten Taten folgen zu lassen.

Mit wiegenden Hüften schritt ich zur Tür, öffnete sie leise und sah den Soldaten an der anderen Tür des Raums Wache stehen. Ich tänzelte zu ihm hin. Neugierig betrachtete er mich mit großen Augen.

„Was schaust du denn so, hast du noch nie eine Frau gesehen?“

„Doch.“

„Ha, du bist ein Ausbund der Redegewandtheit, mein Lieber. Casanova ist mitten im Liebespiel eingeschlafen, dieser Versager. So steht es also mit der Potenz des berühmten Liebhabers. Wusstest du das?“

„Nein.“

„Das kannst du sicher viel besser. Ich sehe dir an der Nase an, dass du ein Riesending hast. Denn an der Nase eines Mannes erkennt man seinen Johannes.“

„Aha.“

„Kann ich mal nachsehen, ob diese Weisheit auch bei dir zutrifft? Oder hast du etwa Angst vor einer wehrlosen Frau?“

„Ja, ähem, ich meine Nein.“

Ich schenkte ihm mein betörendstes Lächeln.

„Huch, da sehe ich ja eine kleine Beule an deiner Hose. Das wird doch nicht alles sein? Komm, lass mich mal machen.“

Jetzt musste ich den Herrn von der Tür weglotsen und ablenken, damit Casanova durch das Zimmer schleichen konnte.

„Komm mit hier zur Wand. Ich stütze mich mit den Händen ab, und du machst es mir wie einer Hure. Oh ja“, ich klatschte begeistert in die Hände, „schon immer habe ich davon geträumt, als Soldatenhure benutzt zu werden.“

Ich zog ihn zu der Ecke, die dem Fenster gegenüberlag, und ließ ihn machen.

Ich wendete den Kopf, als wollte ich seinem Treiben zuschauen. In Wirklichkeit behielt ich die Tür zu Casanovas Zimmer im Auge. Da, sie bewegte sich in den Angeln. Sofort begann ich, nach Herzenslust zu stöhnen.

 „Ja, du großer, starker Soldat, zeig mir, wie gut die württembergischen Soldaten darin sind, Kinder zu machen.“

Lauter dummes Zeug warf ich ihm an den Kopf, füllte die Pausen zwischen den Worten mit lautem Stöhnen. Sicher kam er sich wie Amor persönlich vor.

Casanova schlich knapp hinter uns vorbei, und aus den Augenwinkeln sah ich, dass er am Ausgang stehen blieb, um uns zuzusehen. Der Mann hatte wirklich Nerven.

Als der Soldat endlich fertig wurde, warf Casanova mir mit einem süffisanten Lächeln eine Kusshand zu und verschwand.

„Das war toll, dafür hast du dir einen Orden verdient. Jetzt brauche ich nicht mehr auf diese Memme Casanova zu warten.“

Mit diesem Spruch brach ich auf, und kaum war ich außer Sicht, stürzte ich die Treppen hinab. Hoffentlich hielt Casanova Wort und wartete unten. Der Wichtigtuer oben hatte nicht einmal bemerkt, dass ich mich ohne Kleider auf den Weg gemacht hatte.

 

Tatsächlich erwartete mich unten ein Mann, der Leduc sein musste. Er komplimentierte mich in eine bereitstehende Kutsche, wo mich Casanova begrüßte.

„Mein Spanier wird uns im Eiltempo nach Tübingen verfrachten. Dort wechseln wir die Pferde und dann endlich raus aus diesem ungastlichen, verfluchten Land. Ihre Vorstellung dort oben war übrigens göttlich. Sie haben schauspielerisches Talent!“

 

© Marcel Porta, 2017

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