von Andreas Schröter

„Ich kann es nicht leiden, wirklich *partout* nicht leiden, dass du die Fernbedienung immer auf deiner Seite bunkerst. Wie kommst du dazu zu glauben, dass du das Recht hast, über das Fernsehprogramm zu entscheiden? Ich schaue mir diesen Schrott nicht an. Gib her das Ding, verdammt noch mal!“

Karin war schlecht gelaunt, mal wieder schlecht gelaunt, musste man leider sagen, denn dieser Zustand schien sich zu ihrem Dauerbefinden auszuwachsen. Scheiße, ich hätte wirklich gerne „Underworld: Awakening“ mit dieser geilen Schlampe Kate Beckinsale als Obervampirin gesehen. Jetzt würde es wieder auf die Tagesthemen oder den ewigen Günther Jauch hinauslaufen, den Karin anhimmelte. Und ich würde eine weitere Flasche Rioja öffnen müssen, um wenigstens etwas Drive in diesen verkorksten Abend zu kriegen.

Doch erstmal musste ich aufs Klo. Ich öffnete die Tür …
… und prallte zurück. Auf dem Klo saß jemand. Auf *meinem* Klo in *meiner* Wohnung.

„Was zum Teufel …“, setzte ich an, doch das Wesen – es war eine Sie, die vielleicht sogar gut ausgesehen hätte, wenn sie nicht so verheult gewesen wäre – unterbrach mich: „Ja glaubst Du vielleicht, ich bin freiwillig in deiner scheiß-bescheuerten Welt hier. Nicht mal fliegen geht hier.“ Sie betätigte zum Beweis etwas, das sich auf ihrem Rücken befand und riesigen Flügeln zum Verwechseln ähnlich sah. Wer war das? Was wollte dieses Wesen auf meinem Klo? Und was sollte überhaupt die ganze Karnevals-Verkleidung?

Ich holte Luft, wurde aber unterbrochen, noch ehe ich das erste Wörtchen hervorbringen konnte: „Ich hätte niemals – und ich betone NIEMALS – dieses verdammte Billigding kaufen dürfen.“ Sie fuchtelte mit etwas herum, das aussah wie das, was Harry Potter und Co. bei Ollivanders in der Winkelgasse kaufen.

„Ist das etwa …?“, begann ich.

„Ich weiß selbst, was es ist. Sag‘s nicht auch noch. Ja, es ist ein Billig-Schrott-Müll-Piss-Zauberstab aus dem Kaugummiautomaten, den mir der gemeine Sirin als edles Stück verkauft hat. Er hat einst dem großen Hamses gehört, hat er sogar noch gesagt. Alles Quatsch. Und ich blöde Nuss falle auch noch drauf rein“.

Falls sie auf eine Reaktion meinerseits wartete, dann vergebens. Es kann sogar sein, dass mein Mund ein Stückchen offenstand.

„Oder wäre ich sonst in dieser minderwertigen Welt gelandet?“, fuhr sie fort. „Ich habe wirklich nur diesen kleinen Pizza-und-Cola-Mittagessen-Zauber versucht. Du weißt schon: CULINARIBUS …“ Wieder fuchtelte sie mit dem Stab herum.

Doch das konnte ich nur noch halb sehen, denn die Umgebung drehte sich plötzlich um mich und ich versank in einem wilden Strudel.

* * *

Es dauerte ein Weilchen bis ich zu mir kam und realisierte, wo ich war. Ich musste bewusstlos gewesen sein. Ich lag auf dem Gehweg vor der „Soundbar“, einer Mischung aus Disko und Kneipe in meiner Heimatstadt. Aber hatte die nicht vor Jahren zugemacht? Neben mir entdeckte ich einen Mülleimer, aus dem eine Zeitung hervorsah. Ich griff hinein und sah oben auf die Seite, wo das Datum stand. 3. September 1992. Ich spürte, wie sich mein Magen verkrampfte. Das war über 24 Jahre her. Ich schaute mich um und entdeckte Autos, wie sie zu dieser Zeit modern gewesen sein mochten. Auch die Klamotten, die die Leute trugen, entsprachen nicht mehr ganz der aktuellen Mode. „Na, bisschen viel gesoffen?“, meinte jetzt ein Jugendlicher im Vorbeigehen. Ich rappelte mich hoch und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Bei dem Datum 3. September 1992 klingelte etwas in mir – und auch bei der Soundbar.

Scheiße, es war der Tag und der Ort, an dem ich Karin kennengelernt hatte!

Der Kneipe näherte sich jetzt ein Mann, der mir bekannt vorkam. Aber konnte das sein? Aber ja, es musste sogar so sein. Das war ich selbst – aber genau 24 Jahre jünger. Der Mann – ich – war im Begriff die Kneipe zu betreten. Ich musste etwas tun. Fieberhaft überlegte ich. Vor was hatte ich früher Angst gehabt?

* * *

Ich zog die Kapuze meines Hoodies tief ins Gesicht, ging auf den jungen Mann zu, packte ihn am Arm und sagte mit verstellter Stimme: „Ich würde an deiner Stelle nicht da rein gehen.“
„Warum nicht?“
„Matze Schumann und seine Gang sind drin – und sie sind immer noch verdammt sauer auf dich. Das haben sie eben laut herumposaunt.“
Matze Schumann war der Alptraum meiner Jugend. Er war ein paar Jahre älter als ich und hatte mir mehrmals herbe Abreibungen verpasst. Ich hatte mal mit seiner Schwester geknutscht, sie aber dann nicht weiter beachtet. Und das fand er nicht in Ordnung. Wenn Matze Schumann mitsamt seiner Gang, die aus allen möglichen Speichelleckern bestand, in dieser Kneipe war, würde ich sie garantiert nicht betreten, so meine Hoffnung.

Ich ließ den Arm des jungen Mannes – meinen Arm – los und entfernte mich. Doch nach einigen Metern drehte ich mich um, um zu beobachten, wie sich mein jüngeres Ich verhielt. Meine Prognose ging auf: Nachdem ich als junger Mann unschlüssig ein wenig vor der Kneipe gestanden hatte, ging ich denselben Weg zurück, den ich gekommen war. Kurz bevor sich die Welt wieder um mich zu drehen begann, glaubte ich noch Karin als junge Frau zu erkennen, wie sie gerade die Soundbar betrat.

* * *
Im Fernsehen lief tatsächlich „Wer wird Millionär“ mit Günther Jauch. Doch von Karin war weit und breit nichts zu sehen. Ich öffnete vorsichtig die Tür zum Klo. Doch auch dort war niemand. Auf dem Boden entdeckte ich eine Feder. Sie hätte von dem stammen können, was sich dieses seltsame Wesen als Flügel auf den Rücken geschnallt hatte.
Ich zuckte mit den Schultern, holte die Tüte Chips und den Rioja aus dem Schrank, setzte mich vor den Fernseher und schaltete auf „Underworld: Awakening“ um.