Von Beate Fischer

Du glaubst nicht, was mir heute Morgen passiert ist. Nein, Mike hat sich nicht gemeldet und den Unterhalt des letzten Jahres nachgezahlt. Wir leben doch nicht im Märchenland. Sei mal ruhig und lass mich erzählen.

Ich komme gerade aus dem Tafelladen, als mich ein älterer Herr anspricht. Was ich mit älter meine? Naja, vielleicht so 60 oder 70, ich bin ganz schlecht im Schätzen. Auf jeden Fall sagt er mir, dass er eine private Stiftung gegründet hat, mit der er Bedürftige – er sagte wirklich Bedürftige – unterstützen möchte. Ganz direkt und persönlich. Nein, er sah überhaupt nicht aus wie ein Perverser. Eher wie ein netter, altmodischer, farbenblinder Engländer. Braune Cordhose, hellblaues Hemd, graues Jackett mit Lederflicken an den Ellbogen und um den Hals ein blutrotes Tüchlein. Dazu eine karierte Schirmmütze und dann so eine Herrenhandtasche, du weißt schon, aus Leder, mit einer Schlaufe, eine, die man am Handgelenk baumeln lassen kann.

Er wirkte fast ein bisschen schüchtern, auf keinen Fall bösartig. Ich weiß, man sieht es den Leuten nicht an, wie es in ihrem Inneren aussieht. Wolf im Schafspelz und so. Oder vorübergehend weichgespültes Stachelschwein. Godzilla in Engelsgestalt? Das gefällt mir, das werde ich malen.

Aber ich schweife ab. Er hat mich eingeladen in ein Café zu einer Art Vorstellungsgespräch. Ich hab ihm noch nicht zugesagt, ich muss doch erst mal die Kleinen versorgen. Kann sie doch nicht alleine lassen. Ja, du hast mich durchschaut, mein Anruf bei dir war mit Hintergedanken. Das würdest du machen? Tausend Dank, das Treffen ist meine große Chance, das spüre ich deutlich. Nein, ich spinne nicht. Lass mich doch auch mal hoffen, dass mir was Gutes passiert. Nein, ich werde nicht unvorsichtig sein und ich folge dem Onkel nicht beim ersten Date in seine Wohnung. Ich melde mich, wenn der Termin steht.

 

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Vielen Dank für die Einladung. Ich muss gestehen, dass ich ein bisschen nervös bin. Ja, gerne, ein Tee und ein Stück Apfelkuchen sind genau das, was ich jetzt brauche. Erlauben Sie mir eine Frage? Wie sind Sie auf die Idee gekommen, mich auszuwählen? Sie meinen, man hätte mir angesehen, dass in mir Energie schlummert? Ich muss sagen, ich fühle mich eher ausgelaugt und müde. Aber sie haben Recht, ich habe meine Träume nicht aufgegeben, nur aufgeschoben. Meine Familie hat Vorrang, naja, das heißt, meine Kinder haben Vorrang. Drei, es sind drei Mädchen, eins süßer als das andere. Die Zwillinge sind vier, Lilli ist anderthalb. So jung bin ich auch nicht mehr. Fünfundzwanzig, falls es Sie interessiert. Ja, es ist mehr als anstrengend, vor allem, weil sich der Vater gleich nach Lillis Geburt aus dem Staub gemacht hat und ich seither nichts mehr von ihm gehört habe. Die kleine Lilli hat eine schwere Behinderung. Das überfordert ihn, hat er gesagt. Dieser Schlappschwanz. Ein Schönwettervater, mehr war er nicht. Bitte entschuldigen Sie, aber es ist besser, wenn wir ihn nicht mehr erwähnen. Mein Blut fängt an zu kochen, sobald ich nur an ihn denke.

In ein Heim? Kommt nicht in Frage. Unterstützung gibt es von der Pflegekasse, auch über die Krankenversicherung. Und ich bin in einer Elterninitiative, da helfen wir uns gegenseitig. Und im Notfall springen meine Eltern ein, aber die haben eigentlich schon genug um die Ohren mit ihrer Arbeit und der dementen Oma. Wir kommen schon zurecht. Naja, finanziell ist es happig. Hartz vier und so. Sie haben mich nicht umsonst vor dem Tafelladen getroffen. Wo Lilli an diesem Morgen war? Bei der Physiotherapeutin, die ist gleich um die Ecke, da kann ich auch mal eine halbe Stunde verschwinden, um etwas zu erledigen.

Seit die Zwillinge im Kindergarten sind, ist es besser. Aber sie sind sehr anhänglich und ich teile meine Zeit so gut ich kann unter allen Kindern auf. Zeit für mich? Nicht wirklich. Durchschlafen ist nicht, Lilli muss alle paar Stunden gelagert werden. Manchmal bekommt sie auch Anfälle. Sie schläft bei mir im Zimmer, da bekomme ich jeden Schnaufer von ihr mit. Nein, erholsam kann man meine Nächte nicht gerade nennen. Aber ich habe das Gefühl, dass es ihr bei mir am besten geht. Sie ist ja noch so klein. Wo sie jetzt ist? Eine Mutter aus der Elterninitiative passt auf sie auf. Es ist wichtig, in dieser Situation zusammen zu halten. Und in knapp zwei Jahren kann ich Lilli dann auch in den Kindergarten bringen.

Was ich dann mit meiner vielen freien Zeit anfange? Sie haben Humor, es ist ja erst einmal nur vormittags. Außerdem kommen dann die Zwillinge in die Schule, da brauchen sie mich bestimmt noch ein bisschen mehr als jetzt. Zumindest in den ersten Monaten. Ansonsten werde ich schlafen und Kraft tanken für alles, was noch kommt. Und ich werde wieder beginnen zu zeichnen. Comics und Karikaturen, vielleicht auch Kinderbücher illustrieren. Ich hatte gerade mit meinem Kunststudium begonnen, als ich mit den Zwillingen schwanger wurde. Damals war ich jung und dumm und bin auf einen charmanten Windhund hereingefallen. Das schaffen wir zusammen, du bekommst von mir jede Unterstützung, die du brauchst, ich kann auch von zu Hause aus arbeiten, dann kannst du bald weiter studieren, blablabla. Am Ende saß ich zuhause und er trieb sich in der Weltgeschichte rum. Lilli war ein „Unfall“ – wenn ich das mal so sagen darf. Er ist hereingeschneit und hat mich wieder um den Finger gewickelt, ich hätte mir in den Arsch beißen können. Verzeihung. Das ist jetzt sowieso alles vergessen. Lilli ist ein so liebes Kind, aber ihre Arme und Beine haben starke spastische Lähmungen, sie ist Epileptikerin und auch ihr Gehirn ist geschädigt. Sie wird wohl nie sprechen lernen. Aber das haben wir im Griff. Ich bin glücklich, dass ich sie habe. Wenn sie mich anlächelt, schmilzt mein Herz dahin. Wozu brauche ich einen Mann? Nach einer Eingewöhnungszeit waren die Zwillinge ganz vernarrt in sie. Sie ist auch ihr Baby.

Sie wollen, dass ich etwas zeichne? Ich bin etwas aus der Übung. Na gut. Kein Problem, ich habe immer Papier und einen Stift in der Handtasche. Wünschen Sie sich was.

 

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Und dann wollte er, dass ich einen kleinen Comic aus meinem Familienleben male. Nichts leichter als das, denn darüber habe ich schon tausendmal nachgedacht. Weißt du, ich würde gerne kleine Geschichten malen, die Menschen Mut machen. Lustig und aufbauend. Zeigen, dass man auch schwierigen oder chaotischen Situationen mit einem lachenden Auge begegnen kann. Ich bin überzeugt, dass man das kann. Dass ich das kann. Du auch? Ehrlich? Du willst die Zeichnung sehen? Die hat er mitgenommen. Er will sie einem Freund zeigen, der bei einer Zeitung arbeitet. Nein, er möchte dafür keine Gegenleistung. Warum er das macht? Das habe ich ihn auch gefragt. Ist echt kurios, der Kerl, aber total liebenswert. Er war Finanzbeamter. Ein öder Job, hat er gesagt, wenn man nicht gerade die Poesie der Abgabenordnung und des Einkommensteuergesetzes schätzt oder gerne Paragrafen reitet. Aber er hat nicht schlecht verdient. Seit gut einem Jahr ist er im Ruhestand. Hat eine Vier-Zimmer-Wohnung, die schon lange abgezahlt ist und eine ganze Menge Erspartes, das ihm einen angenehmen Lebensabend ermöglicht auf der hohen Kante, wie er sich ausgedrückt hat. Es fehlt ihm also an nichts. Doch eines Tages flattert ihm ein Brief ins Haus und verkündet, dass er bei einer Lotterie eine Million Euro gewonnen hat. Eine Million, stell dir das mal vor! Er hatte vor über zwanzig Jahren ein Dauerlos gekauft, das er aus Trägheit immer weiter laufen ließ. Jetzt ist er also Millionär, braucht das Geld aber eigentlich gar nicht. Er ist zufrieden mit dem, was er hat. Hat keine Frau, keine Kinder, keine sonstigen Verwandten, die er damit beglücken möchte und hat sich etwas ziemlich Spleeniges ausgedacht. Gut die Hälfte des Geldes möchte er verschenken. Aber nicht an irgendwen. Er hat sich vor den Tafelladen und vor das Jobcenter gestellt und sich genau 49 Leute herausgepickt, die er angesprochen hat, so wie mich. Aus diesen Kandidaten wählt er nach den Gesprächen 6 aus, an die er das Geld verteilt, vielleicht werden es auch mehr oder weniger. Wichtig ist ihm, dass sie für eine Idee oder einen Wunsch brennen, sagt er, dass sie sie aber aus Gründen, die nicht allein in ihnen selbst liegen, nicht verwirklichen können. Schräg, oder?

Zum Schluss hat er mich gefragt, was mir helfen würde, meine Pläne umzusetzen. Zeit, habe ich ihm gesagt, ein bisschen mehr Zeit für mich, vielleicht durch jemanden, der mich im Haushalt unterstützt oder so. Und einen Platz, an dem ich arbeiten kann.

Ich war die Vorletzte auf seiner Liste und er hat mir erzählt, dass er einige enttäuschende Unterhaltungen hinter sich hat. Aber er hat auch schon Menschen kennengelernt, mit denen er sein Vermögen gerne teilen möchte. Nein, zugesagt hat er mir nichts. Aber mein Näschen sagt mir, dass ich gute Chancen habe. Drück mir die Daumen.

 

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Oh mein Gott, ich fasse es nicht. Er zahlt mir eine Haushaltshilfe für fünfzehn Stunden in der Woche und die Miete für ein extra Zimmer. Für mindestens drei Jahre. Ich könnte die ganze Zeit singen und tanzen. Ist das zu glauben? Stell dir vor, ein wildfremder Mann. Nein, glaub mir doch, er will nichts dafür. Außer vielleicht, dass er ab und zu vorbei kommen oder mit uns Spazierengehen kann. Nö, er will nichts von mir. Ich bin mir sicher, dass er schwul ist. Er hat so Andeutungen gemacht von einem Freund, einem ehemaligen Rechtsanwalt, aber ich habe nicht weiter nachgefragt. Das geht mich auch nichts an. Natürlich fixieren wir die Vereinbarung schriftlich. Dieser Anwalt sorgt dafür, dass alles legal abläuft und dass mir keine Nachteile entstehen.

Übrigens ist die Zeitung interessiert an meinem Cartoon. Na den, den ich beim ersten Besuch im Café gezeichnet habe. Wie ich das so cool sagen kann? Das hört sich nur so an. Wenn du mich sehen könntest, wüsstest du, dass mir das Glück aus allen Poren sprießt. Wäre das nicht eine gute Idee für ein Bild? Wo sind meine Stifte?

 

 

Version 2