Von Jochen Ruscheweyh

Sam hätte gedacht, es würde sich anders anfühlen. Größer, gewaltiger, erhabener, was auch immer. Den ganzen Sommer über war er jeden Morgen um Punkt fünf Uhr aufgewacht, hatte versucht, sich in den Tag zu blinzeln und in diesem merkwürdigen Zwischenstadium zwischen Traum und Wirklichkeit seine Hand ein Geldbündel umschließen sehen, das ich sich immer dann in Luft auflöste, wenn er die Finger bewegte oder reflexartig eine Faust machte. Er wußte nicht, was er diesmal anders getan hatte, aber er fühlte sich ziemlich wach und das Bündel in seiner Hand verdammt real an. Sam hatte bestimmt eine halbe Stunde damit verbracht, seinen ausgestreckten Arm anzustarren und darauf zu warten, dass entweder das Geld verschwand oder sich Herzrasen, zumindest aber ein beschleunigter Puls einstellte. Fehlanzeige.

Selbst als er Richtung Bettkante rutschte, die Füße von der Matratze schwang und sich aufrecht hinsetzte, den Arm immer noch ausgestreckt, löste sich das Bündel nicht auf. Mittlerweile konnte er sogar dessen physisches Gewicht spüren: schwerer als ein Paket Tabak, aber leichter als ein halber Liter Milch, stellte er fest, als er die Hand hin und her wog. Der nächste Schritt, überlegte er, wäre zu gucken, was passierte, wenn er das Geld aus der Hand legte. Noch immer wunderte es Sam, dass er so abgeklärt, nüchtern und analytisch an die Sache herangehen konnte. Andererseits, vielleicht war der Sommer ein gutes Training gewesen, ein Boot Camp für den Teil seiner Psyche, der bis dato noch an das Prinzip Hoffnung geglaubt hatte. Und vielleicht war jeden Morgen mit dem Sich Auflösen des Geldes auch ein Stück Hoffnung gestorben, sich jemals aus seinem Arbeitsvertrag herauskaufen zu können.

 

Nachdem er das Bündel abwechselnd auf dem Bettlaken, dem Tisch, dem verrosteten Containerboden und abermals auf der Tisch platziert hatte, fuhr er zusätzlich noch einmal mit der Hand über den obersten Schein, zog ihn aus der Banderole, hielt ihn sich ans Ohr und knüllte ihn. Augenblicklich stellte sich das erwartete cellophanpapierartige Knuspern ein, das beim Aufreißen von Folienverpackungen entstand. Während er den Schein wieder glattstrich, überlegte er, ob er vielleicht tot sein könnte, wie in einem dieser Filme, in denen der Antiheld bizarren Situationen ausgesetzt war und sich erst am Schluss herausstellte, dass dessen Isolation in seinem nicht gezeigten Ableben begründet war. Aber Sam hörte Geräusche von draußen, von außerhalb seines winzigen Wohncontainers. Und er war hungrig. Tote hatten sicher keinen Hunger, außer, es handelte sich um Zombies. Ein Blick in den Spiegel über der kleinen Küchenzeile verriet ihm, dass seine Haare zwar zerzaust, seine Augen jedoch weder untot umrandet noch blutunterlaufen waren.

 

Sam rasierte sich, weil Peking es so wollte, zog seine Arbeitskleidung über, versteckte das Bündel unter der Spüle und griff sich drei Scheiben Weißbrot, aus denen er gleichzeitig ein großes Stück herausbiss.

Hoffmann.

Hoffmann würde Rat haben. Wenn einer, dann Hoffmann.

 

Sam nickte Sandoval zu, der wie er die Leiter von seinem Wohncontainer hinunter in die Halle stieg. Sandoval war schon vierzig, aber immer noch gut in Form. Manchmal fragte sich Sam, was mit denen passierte, die ihre Arbeit nicht mehr schafften. Schmitty zum Beispiel, ein ausgemergelter, ständig hustender Lette, war von einer Schicht auf die andere verschwunden gewesen, sein Container geräumt. Es hatte schnell die Runde gemacht, dass kein Neuer kommen würde. Das Einzige, was geschehen war, bestand darin, dass die Richtlinie für Gruppenarbeit nun für jeden ein höheres Pensum vorsah.

 

Die ersten Stunden waren immer die Schlimmsten. Erst, wenn man einen gewissen Grundstock an Aufträgen abgearbeitet hatte, war Luft. Im Abschnitt B konnte niemand Hoffmann das Wasser reichen. Die Lagerstruktur erwies sich einfach immer wieder als zu komplex, zu viele Sonderfächer und Sublager, eben ein gewachsener, kein geplanter Bereich.

An diesem Tag loggte sich Sam ab spätem Vormittag entgegen seiner Gewohnheiten konsequent für jeden B-Auftrag ein, der in seinem Display angezeigt wurde. Zwei Stunden später hatte er bereits so viel von seinen Zeitboni aufgebraucht, dass sein Zeitpanel den roten Bereich ankündigte. Sam lief nicht mehr, er sprintete durch das Sublager. Er musste durchhalten. Nur noch eine halbe Stunde.

Eine Drohne folgte ihm jetzt. „Ihre Arbeitseinstellung ist nicht teamorientiert. Überprüfen Sie Ihre Arbeitseinstellung“, hörte er über sein Headset, gefolgt von einem ersten leichten Taser-Shock, der sich an seinem Hinterkopf entlud. Sam taumelte.

„Verbessern Sie Ihre Arbeitseinstellung und passen Sie sie der Richtlinie 58498/11a an.“ Ein zweiter Shock. Sam fiel der Länge nach hin.

Fast gleichzeitig erfüllte das Pausenzeichen, eine alte Mandarin-Volksweise, das Sublager.

 

Vollkommen außer Atem und schweißüberströmt wurde er – von Hoffmann gestützt – in den Pausenraum des B-Abschnitts geführt. „Was hast du auf dem Herzen, Junge?“, seufzte Hoffmann, während er Sam einen Grüntee-Papaya-Shake, das einzig genießbare Getränk aus den Convenience-Terminals, hinüberschob. „Niemand verirrt sich in den B-Abschnitt, es sei denn, er will was vom alten Hoffmann.“

„Es gibt da tatsächlich was“, begann Sam.

 

Am weiteren Nachmittag loggte sich Sam wieder im A-Abschnitt ein, um sich seine verlorenen Zeitboni zurückzuholen. Hoffmann hatte ihm nicht helfen können, ihm nichts außer ein paar väterlichen Floskeln und Schulterklopfen mit auf den Weg gegeben. Sam konnte nicht glauben, dass dies derselbe Hoffmann sein sollte, von dem man sich erzählte, er habe sich bei der Lagerleitung für ihre Rechte eingesetzt, dort mit Streik und Aufstand gedroht. Sam war also auf sich selbst gestellt. Aber was fing man mit Geld an, das man nicht haben durfte, weil man nicht darlegen konnte, wo man es her hatte? 10000 Euro Scheine besaß man nur, wenn man einen Betrieb oder ein Werk führte. Und erst recht konnte Sam nicht das Bündel nehmen, zur Lagerleitung gehen, mitteilen, er habe das Geld aus einem Traum mitgebracht und sich freikaufen. Außerdem, vielleicht täuschte Sam sich ja, aber ihm war, als beobachtete Sandoval ihn, seit er in den A-Abschnitt zurückgekehrt war. Als Sams Display wieder grün zeigte, ergriff er die Gelegenheit und stellte Sandoval am Eingang zum A-Sublager zur Rede „Was soll das, warum folgst du mir?“

„Ich weiß nicht, was du meinst“, drängte sich Sandoval an ihm vorbei.

Sam griff Sandoval an die Schulter. „Du lügst doch!“

Statt zu antworten, schlug Sandoval Sam das Headset vom Kopf. Fast augenblicklich tauchten zwei Drohnen über Sam auf: „Sie sind nicht befugt, Ihr Headset während Ihrer Arbeitszeit abzunehmen.“ 

Noch bevor Sam das Headset wieder aufheben konnte, war der Sicherheitsdienst da.

 

„Wo ist das Geld?“, schrie ihn der Sicherheitsvorsteher an.

Sam spürte erneut den harten Schlag einer Faust gegen seinen Bauch.

„Ich hab doch gesagt, unter der Spüle!“, presste er hervor.

Der Vorsteher griff in Sams Haare und riss seinen Kopf hoch. „Da ist nichts. Also, wo hast du es versteckt?“

 

V2