Von Kerstin Rückert

Nur noch wenige Tage in dieser ständigen Anspannung. Seine Fingernägel waren bis aufs Fleisch heruntergekaut, seine Bewegungen mehr und mehr fahrig, die Gedanken stets darum kreisend, welche Möglichkeiten sich ihm endlich eröffnen würden.

Mark nahm einen langen Schluck aus seiner Flasche Cola, in Gedanken schon bei der Cola-Zapfanlage, die er sich in seinem Haus installieren lassen würde. Cola, sein Lebenselixier. Allem voran aber: sein Haus. Die Flunsch, die seine Freundin immer zog, würde er nicht mehr ertragen. Noch musste er, denn ihr gehörte das Haus, in dem sie lebten. Sie konnte ihn rausschmeißen, auch wenn er ihr das nicht zutraute. Er hatte Anna und ihre Situation gut im Griff. Mit ihrem geringen Verdienst würde sie den Kredit fürs Haus nicht alleine abzahlen können – und die restlichen Kredite schon gar nicht. Die kleine Tochter schließlich hatte ihre Abhängigkeit von ihm perfekt gemacht.

Die nächste Haltestelle war erreicht. Er musste den Anschlussbus abwarten, sofern dieser nicht mehr als zwei Minuten Verspätung hatte. Sein Smartphone vibrierte, eine Nachricht von Anna. Sie wollte wissen, ob er pünktlich nach Hause käme. Das würde er ignorieren. Nur weil er sie mehrfach betrogen hatte, musste er ihr mittlerweile Einsicht in seinen Dienstplan gewähren. Sie kontrollierte jeden seiner Schritte.

Die zwei Minuten Toleranz für den Anschlussbus waren verstrichen. Es war ihm ein Rätsel, wie die Kollegen ständig solche Verspätungen einfahren konnten. Sie warteten, bis sich die wackelige Oma auf dem Sitz niedergelassen hatte, oder erwiesen ähnlich überflüssige Freundlichkeiten. So ein kleiner Ruck beim Anfahren zeigte den etwas langsameren Herrschaften sehr schnell, dass sie sich in Sicherheit bringen mussten.

Am Horizont tauchte der Bus auf. Noch mindestens fünf Minuten, bis er angekommen und die Fahrgäste umgestiegen wären. Mark schloss die Türen und trat aufs Gaspedal. Fünf Minuten für das Gutmenschentum, nein.

Sollten sie doch sehen, wo sie bleiben. Wen interessiert es?

Bis heute hatte nicht mal jemand nach der Million gefragt, die vor ein paar Jahren auf seinem Konto aufgetaucht war. Fehlbuchung, ganz klar.

Niemand schuldete ihm Geld.

Im Gegenteil. Er hatte Schulden bei Onlineshops, Banken und nicht zuletzt seinen Kindern aus früheren Beziehungen. Wozu sollte er Unterhalt zahlen? Bei den arbeitsfaulen Ex-Freundinnen, die am Tropf des Staates hingen, würde sein schwer erarbeitetes Geld sowieso nur wieder zurück in die Staatskasse fließen und er wäre der Depp. Den Kindern mal so ein wenig Geld zustecken, für einen Ausflug oder ein paar neue Sportschuhe? Nein, niemals. Er durfte sie ja nicht mal sehen. Die Mütter stellten sich quer. Die eine war sogar weggezogen, raus aus seinem Einflussbereich. Ohne ihn um Erlaubnis zu fragen. Die andere behauptete, die Kinder wollten nie wieder zu ihm, weil er seinen Sohn im Winter barfuß nach draußen gesperrt hatte. So ein Gejammer, Erziehung musste schließlich sein.

Egal. Ein anderes Leben würde beginnen. Er müsste sich kein Gelaber mehr anhören. Die Arbeitszeiten wollte er deutlich reduzieren und nur noch Schichten übernehmen, die er mochte. Sein geplagter Rücken würde es ihm danken.

Der Kollege im entgegenkommenden Bus zeigte ihm den Vogel. Sollte er doch. Bald wäre Mark diese ganzen Gutmenschen los. Das einzig Nützliche, was er jemals von einem Gutmenschen erhalten hatte, war der Tipp durchzuhalten; von Dike, einer ehemaligen Bekannten, einer Kumpeline, naja, wie auch immer. Er hatte mit ihr viel lachen können, doch auch schnell erkannt, wie gut man mit ihr reden konnte und welch tolle Tipps und Ideen sie auf Lager hatte.

Als die Fehlbuchung einging, hatte er ihr einen Screenshot geschickt im Glauben, der Betrag würde sofort zurückgebucht werden. Genau aus diesem Grund warnte Dike ihn auch, etwas davon auszugeben.

Als nach einer Woche immer noch nichts zurückgebucht war, sprach er ernsthaft mit ihr. Sie behauptete, er könne nach Ablauf einer bestimmten Frist das Geld behalten. Dike hatte zwar meistens Recht, doch er fragte sicherheitshalber noch einen Anwalt. Seitdem hatte er geschwiegen und niemandem von der Fehlbuchung erzählt. Nicht einmal Anna. Der schon gar nicht.

Von all dem wusste als einzige Person Dike, mit der er jetzt zum Glück schon länger keinen Kontakt mehr hatte. Sie war anstrengend. Immer hatte sie verlangt, er solle zu seinen Fehlern stehen und vor allem Klartext mit ihr reden. Mit jeder popligen kleinen Lüge konfrontierte sie ihn und nahm es ihm dann auch noch übel, wenn er versuchte, sich herauszureden, den Spieß umzudrehen und ihr stattdessen Vorwürfe zu machen. Bei den meisten Leuten funktionierte das. Bei ihr nicht.

Warum sie sich mit ihm abgegeben hatte, kapierte er nicht. Anfangs war es spielerisch leicht gewesen, doch nach und nach forderte sie von ihm immer mehr mit der Moralkeule. Er solle für seine Kinder einstehen und nicht über sein Einkommen lügen, um keinen Unterhalt zahlen zu müssen. Was ging sie das an? Es waren weder ihre Kinder, noch hatte sie selbst welche, als dass sie ein Interesse daran haben könnte. Warum mischte sie sich in sein Leben ein?

Er war von Dike hin- und hergerissen. Sie hatte auf alles eine Antwort. Und wenn sie keine hatte, so wusste sie immer, wo sie nachschauen musste oder wen sie fragen konnte, um eine Erklärung zu erhalten. Sie interessierte sich auch für einige seiner Hobbys, wodurch Gespräche mit ihr häufig zu richtigen Ideenfeuerwerken wurden.

Das hatte er mit seiner Freundin so gar nicht. Die interessierte sich außer für ihre Tochter gerade mal noch fürs Stricken. Das einzige gemeinsame Hobby war Fernsehen.

Doch auf die Dauer nervte Dike mit ihren moralischen Ansprüchen. Furchtbar. Und wenn er ihr nicht antwortete, dann ließ sie es nicht gut sein, sondern bohrte nach. Manche Leute kapieren einfach nicht, wann sie überflüssig sind und nerven. Daher war es nicht das Schlechteste, als sie den Kontakt abbrach.

Seitdem hatte er wieder seine Ruhe, und das war auch gut so. Nur manchmal vermisste er es, neue Ideen mit ihr zu besprechen oder auch den Arbeitsfrust rauszulassen.

 

„Mark, warum hast du schon wieder nicht auf den Anschlussbus gewartet? Du hattest den letzten Bus über die Dörfer“, blaffte ihn sein Chef auf dem Betriebshof an.

„Zwei Minuten warten. Das ist deine Vorgabe, nicht meine!“

„Das diskutieren wir nicht noch mal. Wir mussten ein Taxi für die Leute einsetzen, weil unser Hochwohlgeboren es nicht schafft, die Kollegen anzufunken, wann sie da sind.“

„Und wenn ich warte, dann ist es dir auch nicht Recht.“

„Das reicht jetzt. Noch so eine Aktion und du fliegst.“

„Das machst du nicht!“ Sein Chef hatte nicht genug Fahrer. Er war auf ihn angewiesen.

„Wart‘s nur ab!“

Mark grinste über den Versuch seines Chefs, ihm zu drohen. Das konnte er nicht ernst nehmen.

„Willst du mir drohen? Ich kann auch gleich gehen. Mach Deinen Scheiß doch alleine“. Mark würde sich nicht mehr zum Deppen machen. Sein Chef lenkte sicher gleich wieder ein, wie er es schon so oft getan hatte.

„Du brauchst morgen nicht mehr wiederzukommen.“ Kein Einlenken? Mark stockte kurz der Atem, doch sein Chef fuhr fort: „Tobi wird deine Tour fahren!“

Und schon grinste Mark wieder. Mit Tobi am Steuer würde der Bus sogar von Treckern überholt werden. Mit Anhänger!

 

Auf dem Weg nach Hause kochte in Mark der Streit mit seinem Chef hoch. Er wollte sich bei seiner Freundin darüber auskotzen, doch die sah nur kurz von ihrem Strickzeug hoch, als er eintrat: „Dein Chef hat angerufen, du sollst die Schlüssel vom Betriebshof und die Uniform bis morgen zurückbringen.“

„Dieses Arschloch!“, Mark knallte die Faust wutentbrannt auf den Tisch.

„Er hat mir erzählt, wie du dich verhältst, ich kann das verstehen.“

„Du meinst also, dass dieser Idiot mit mir umgehen kann wie er will?“

Anna lachte nie, doch jetzt hatte sie ein Lächeln auf den Lippen. „Du hast dir das selbst eingebrockt. Dein Chef hat sich sogar Gedanken gemacht, wie wir mit der Kleinen jetzt durchkommen.“

Jetzt mischte sich der Typ auch noch in sein Leben ein. „Ach, will er dich jetzt ficken oder was?“ Marks Eifersucht war völlig fehl am Platz, doch dies war der beste Weg, Anna zum Einlenken zu bringen.

Heute tat sie das nicht, ihre Stimme war fest: „Deine Unverschämtheit ertrage ich nicht mehr!“

Marks Wut spitzte sich zu. „Du bist nie auf meiner Seite!“ Auch diese Variante hatte sie bisher immer ganz schnell wieder auf Kurs gebracht.

„Heute nicht. Deine Laune in der letzten Zeit kotzt mich nur noch an. Lass mich heute Abend in Ruhe. Du kannst auf dem Sofa schlafen.“ Was war das denn jetzt? So kannte er sie ja gar nicht. Ja, er war in der letzten Zeit motzig gewesen, ihm gingen schließlich andere Dinge durch den Kopf. Er hatte das Gespür dafür verloren, wann er ihre Grenzen überschritt. Aber wozu sich um ihre Befindlichkeiten kümmern, wenn er schon in wenigen Tagen eine Million für sich hätte?

„Wenn das so ist, dann geh ich!“ Diese Frau war abhängig von ihm, sie würde ihn nie rauswerfen. Wenn er jetzt Schluss machte, würde sie ihm nachlaufen und alles für ihn tun.

„Mach das! Da ist die Tür! Und nimm deine Post mit. Da, ein Einschreiben, hab ich für unterschrieben!“.

Sie presste ihm einen Stapel Briefe in die Hand und schob ihn aus der Tür. Der Schlüssel drehte sich von innen im Schloss.

Die Polizei verwies ihn des Hauses, nachdem er stundenlang gegen die Tür getreten und geklingelt hatte.

Jetzt saß er im Auto, wusste nicht recht wohin. Die Briefe auf dem Beifahrersitz neben einer leeren Flache Cola fielen ihm ins Auge. Er öffnete die Rechnungen, Werbung und schließlich das Einschreiben. Seine Hände zitterten, alles Blut wich aus seinem Gesicht.

 

*

 

Durch eine Computerpanne konnten einige Buchungen nicht zurückverfolgt werden. Die Bank hatte sich bei Dike großzügig mit 10% für die Aufklärung der Fehlbuchung bedankt. Für jedes der vier Kinder konnte sie den Müttern jetzt 25.000 EUR überweisen.