Von Raina Bodyk

„Wenn ich einmal reich wär – o je wi di wi di wi di wi di wi di wi di bum – alle Tage wär‘ ich wi di bum wäre ich ein reicher Mann!“ – „Ach, war der Film „Anatevka“ gestern schön!“ seufzt Adele und trällert glücklich die berühmte Methode vor sich hin, während sie den Frühstückstisch abräumt. Schnell noch das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine gestellt, mit dem Staubtuch über die hellen Möbel gefahren, die selbstbestickten Kissen aufgeschüttelt und zum Schluss ein genau gezielter, exakter Handkantenschlag auf die Mitte der Kissen. Fertig.

Was soll sie heute anstellen? Der Haushalt ist immer so schnell erledigt, seit sie nicht mehr arbeitet. Ihr armer Hubertus ist auch schon über 10 Jahre tot. Sie hat viel Zeit. Manchmal zu viel. Mal sehen, vielleicht findet sie ja einen Tipp in der Tageszeitung.

Oh, die Lottozahlen! Sie spielt nur 2 Reihen. Schon ewig. Das eine Kästchen enthält immer noch die Glückszahlen ihres Mannes und das andere ihre. Aber wie das mit Glückszahlen so ist, gewonnen hat sie noch nie mehr als ein paar Euro.

Sie vergleicht die gezogenen Zahlen vom Samstag und ihr stockt der Atem: 6 Richtige! Ihre Augen werden groß und größer. Sie schlägt die faltigen Hände über dem Mund zusammen. Ein kleiner spitzer Schrei löst sich aus ihrer Kehle. Das kann nicht stimmen! Aber ein erneuter Vergleich gibt ihr Recht. Hubertus‘ Zahlen haben gewonnen! So lange haben sie beide darauf gehofft und die tollsten Pläne geschmiedet, was sie mit einem Gewinn tun würden.

Natürlich wird sie ihrer in der benachbarten Kreisstadt wohnenden Tochter, die jeden Cent dreimal umdrehen muss, weil ihr Mann Thorsten nicht mit Geld umgehen kann, einen ordentlichen Betrag schenken. Charmant ist er ja, der Herr Schwiegersohn, das muss man ihm lassen. Nie hat er vergessen, ihr ihre Lieblingsblumen mitzubringen, wenn er sie mit Annabelle besucht hat. Die beiden sollen auch endlich einmal sorgenfrei leben können, vielleicht eine schöne Reise machen. Sie konnten sich nach der Hochzeit ja nicht einmal Flitterwochen leisten.

Adele schnappt sich jetzt erst einmal ihr Bügelbrett, das Plätteisen und die gerade trocken gewordene Wäsche. Das macht sie immer, wenn sie nachdenken muss. Bügeln beruhigt sie und hilft ihr, ihre wirren Gedanken zu sortieren. Es gibt jetzt so viel zu überlegen, zu planen.

„Auf jeden Fall muss meine Wohnung gründlich renoviert werden. Als allererstes werde ich die verblassten Tapeten ersetzen. Schöne helle sollen es werden, vielleicht mit kleinen Blümchen drauf.  Vielleicht auch neue Polstermöbel und … und ja, so ein Relax-Sessel mit Massagefunktion, der würde meinem geplagten Rücken guttun.“ Sie hat doch gestern noch im Kaufhaus so ein Ding ausprobiert. In Beige, das würde gut zum Teppich passen.

Wie viel es wohl sein mochte? Bestimmt eine Million. So viel Geld … Etwas wird sie auf jeden Fall beiseitelegen. Man weiß ja nie, was das Schicksal noch so bereithält. „Wenn ich gesund bleibe, möchte ich ganz viel von der Welt sehen. Die Pyramiden. Die griechischen Inseln. Rom mit dem Vatikan. Vielleicht werde ich sogar den Papst sehen. Hubertus, du musst mir von oben zusehen und dich mit mir freuen!“

Aus dem Fernsehen weiß Adele, dass ein versierter Berater kommen wird, um ihr zu helfen, ihr Vermögen anzulegen. Aber was, wenn dieser sie falsch beraten würde und alles wäre weg? Vielleicht ist er selbst ein Betrüger oder ein Spieler und macht sich mit ihrem Geld davon. Oder ein Bankencrash, ein Börsenkrach …

Auf jeden Fall nimmt sie sich vor, einen größeren Betrag zu spenden. Sie würde es nicht richtig finden, alles nur für sich zu behalten und nicht an die Sorgen und Probleme der anderen zu denken. Aber wird das Geld auch an die richtige Adresse kommen oder in irgendwelchen dunklen Kanälen verschwinden? Adele seufzt aus tiefster Seele. Sie darf es vor allem auf gar keinen Fall jemandem erzählen! Diesen Rat für solche Fälle hat sie oft gehört. Sonst hält jeder seine gierigen Hände auf. Oh je.

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Aber Schluss jetzt. Jetzt macht sie erst einmal einen gemütlichen Stadtbummel und genehmigt sich zur Feier des Tages ein dickes Stück Torte in der Fußgängerzone. Heute werden keine Kalorien gezählt. Eigentlich ist sie mit ihrer Figur noch ganz zufrieden. Der Bauch könnte etwas weniger Umfang haben, aber insgesamt – ja, noch ganz hübsch. Und das mit 72!

Am Schaufenster der Boutique „Très chic“ stoppt sie und bewundert wieder einmal die Auslage. Das dunkelblaue Kleid mit den kleinen weißen Punkten an Kragen und Manschetten würde ihr bestimmt perfekt stehen. Dazu passend ein keckes Hütchen in weiß mit blauem Band. Ist aber nicht billig. Würden die Nachbarn argwöhnisch werden, wenn sie sie in diesem Aufzug sehen würden? Zu teuer, zu elegant?

Ein Stück vor dem „Café Biedermeier“, da, wo die dicke alte Eiche steht, kommt sie an Bruno vorbei. Der Obdachlose hat hier seinen Stammplatz, neben ihm wie immer sein halbblinder Gefährte, der Schäferhund Gustl. Sie plauschen immer ein wenig miteinander, wenn sie vorbeikommt. Jedes Mal bekommt Gustl ein paar Streicheleinheiten und Bruno einen Euro. So auch heute. Aber weil sie so glücklich ist, verdoppelt sie die Gabe. Er lächelt sie dankbar an und fragt: „Ah, Frau Adele, wollen Sie auch die Sonne genießen nach all dem Regen?“ „Ich gehe nur einen Kaffee trinken.“ antwortet sie ein bisschen zu schnell und geht gleich weiter. Hat sie sich das nur eingebildet oder hat er sie tatsächlich ein wenig fragend, um nicht zu sagen argwöhnisch, angesehen? Er hat auch so breit gelächelt. Breiter als sonst, oder?  Hat er etwas gemerkt? Wirkt sie etwa selbstbewusster? Stärkt das erwartete Geld ihr schon sichtbar den Rücken? Will er mehr Geld?

Im Café ist ihr Lieblingstisch am Fenster mit den Grünpflanzen frei. Sie verdrängt den Gedanken an Bruno. Sie lässt sich in einen der altmodischen, aber superbequemen Sessel fallen und bestellt sich Kirschtorte mit Sahne und einen Cappuccino, ebenfalls mit Sahnehäubchen. Die Bedienung mit ihrem kecken weißen Schürzchen scherzt: „Na, heute gönnen Sie sich aber was. Haben Sie etwa im Lotto gewonnen?“ Adele ist sofort auf der Hut: „Wieso Lotto? Nein! Nein, natürlich nicht. Wie kommen Sie denn darauf?“ Die alte Dame macht so einen erschreckten Eindruck, dass die junge Frau schnell hinzufügt: „Das war nur ein Scherz. Aber Sie geben mir doch was ab, wenn es je so weit ist, oder?“ Sie kichert.  Adele wäre am liebsten weggelaufen. Wieso sagt die Kellnerin das? Sie hat das Geld noch gar nicht und schon streckten alle die Hand aus?

 

Sie ist froh, als sie wieder zuhause ist. Sie weiß nicht genau warum, aber irgendwie ist ihr nicht mehr nach Feiern zumute. Wahrscheinlich wird sie jetzt jede Menge Bettelbriefe bekommen. Sicher ist es leicht, ihren Namen und ihre Adresse rauszukriegen. Dieses Google hat doch die ganze Welt fotografiert und alle Häuser und Straßen ins Internet gestellt. Das stand erst neulich wieder in der Zeitung. Da kann man hundertprozentig auch ihr Häuschen finden.

Jeder wird was von ihr wollen und ihr was vorlügen: Geld für ein krankes Kind, für einen arbeitslosen Ehemann, für Schulden, für die Krebsforschung, die Tierhilfe. Mütter, die ihre Sprösslinge allein erziehen, nachdem sich der Erzeuger dünngemacht hat und, und, und.

Sie nimmt sich vor, besonders vorsichtig zu sein, wenn sie zur Bank geht oder in der Dämmerung unterwegs ist. Man hört und liest in letzter Zeit so viel von Diebstählen und Überfällen. Immer wieder werden alte Leute angegriffen oder ausgetrickst. Das kennt man ja, man denke nur an den Enkeltrick!

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Am Montag wacht Adele nach einer zweiten unruhigen Nacht später auf als sonst. Hat sie alles nur geträumt? Die Zeitung vom Wochenende liegt noch auf dem Tisch. Noch mal nachsehen. Tatsächlich, es sind wahr und wahrhaftig ihre Zahlen. Mal sehen, was in der heutigen Ausgabe über die Quoten steht. Ob es mehr als eine Million ist? Sie ist gespannt. Ihre Augen fliegen so schnell über die Rublriken, dass sie fast eine kurze Mitteilung übersehen hätte: „Es tut uns sehr leid, aber leider hat in der gestrigen Ausgabe der Druckfehlerteufel bei den Lottozahlen zugeschlagen. Hier die richtigen Zahlen: 3, 19, 21, 34, 35, 43, Zusatzzahl 5.  Die gestern von uns bekannt gegebenen Treffer 13 und 17 sind falsch. Wir bitten alle Leser um Entschuldigung.“

 

Aus der Traum.

 

Adele hat dennoch unwiderstehliche Lust, wieder ins Café zu gehen. Sie macht das in den letzten Jahren oft und gern. Auch wenn es nur für einen Kaffee ist. Ihr Hubertus saß ja lieber zuhause im Sessel, statt auszugehen.  Sie kommt wieder an Bruno und seinem Schäferhund vorbei, streichelt wie immer den meist schlafenden Gustl und gibt seinem Herrchen seinen Euro. Der lächelt sie an und sie lächelt zurück: „Heute ist es schon richtig warm. Das wird Ihrem Rheuma sicher guttun, Bruno.“ Nach einem kleinen Schwätzchen geht sie weiter und bestellt im „Biedermeier“ noch mal das gleiche wie gestern.

Das ist so lecker gewesen. Man soll seinen Geschmacksnerven ja auch mal was gönnen. Sie gönnt es sich zwar zum zweiten Mal in dieser Woche, aber warum eigentlich nicht! Wenn es diesen Monat etwas eng wird, macht nichts. Sparen hat sie schließlich schon als Kind gelernt. Die Bedienung bringt ihr mit freundlichem Grinsen wieder Torte mit Sahne und einen Cappuccino mit extra viel Sahne. „Sie haben wohl wirklich im Lotto gewonnen, was?“ Adele kichert und flüstert ihr verschwörerisch zu: „Ja, aber verraten Sie nichts.“