Von Daniel Büttrich

Im Jahr 2010, als der Begriff „Wutbürger“ durch die heftigen Diskussionen um Thilo Sarrazin und Stuttgart 21 zum Wort des Jahres avancierte und schließlich sogar Einzug ins Lexikon fand, begann seine Karriere: Ralf Grevenbroich alias Heiko Haudrauf.

 

Rasch verlegte Heiko Haudrauf sein Handwerk vom politischen Kabarett, das zunächst noch seine Auftritte beherrschte, in das boomende Geschäft der Alltagscomedy. Seinen Durchbruch schaffte er schließlich, als er mit Mario Basler im Sommer 2018 auf Tournee ging. Die beiden wurden unterstützt von Oliver Pocher, der in seiner Rolle als „laufender und springender Torvollpfosten“ seichten, gleichwohl von den Massen honorierten Slapstick ablieferte. Bald füllte das Trio ganze Fußballstadien. Besonders begeisterte die Zuschauer die Einlage von Mario Basler als FC-Bayern-Spieler und Heiko Haudrauf als Werner Lorant. Auch die völlig überzeichnete Darstellung der legendären Auseinandersetzung von Christoph Daum sowie Jupp Heynckes und Uli Hoeneß brachte die Zuschauer zum Ausrasten.

 

Heiko Haudraufs Parodien als verbal-amoklaufender Nachbar, gehörnter Ehemann oder neuzeitlicher, technologiefeindlicher Ekel Alfred bekamen eine eigene, wöchentliche Sendung im Privatfernsehen. Im Herbst 2018 schließlich erlangte der „German Wutbürger“, wie ihn die New York Times nannte, mit einem Tennis-Schaukampf gegen John McEnroe, Andy Murray und Roger Federer im Madison Square Garden weltweite Berühmtheit. In dem Spiel führten sich Heiko Haudrauf und John McEnroe dermaßen unverschämt auf, dass Roger Federer und Andy Murray aus Protest den Platz verließen. McEnroe und Haudrauf führten das Spiel als Einzel fort. Nachdem sie über 10 Rackets zertrümmert und sämtlichen Linienrichtern körperliche Gewalt angedroht hatten, disqualifizierte der Schiedsrichter beide nach mehreren fruchtlosen Ermahnungen. Daraufhin beschimpften sie den Schiedsrichter und trugen seinen Stuhl auf die Tribüne, um anschließend ihr Spiel fortzusetzen und, abgesehen von einigen derben Flüchen, friedlich zu Ende zu führen. Die Zuschauer tobten. Die Einschaltquote für das Event erreichte um ein Haar die Größenordnung des jährlichen Super Bowl im American Football. Der Erfolg von Heiko Haudrauf war überwältigend. Die weltweite Öffentlichkeit kannte ihn, er war ein Superstar. Wer aber war Ralf Grevenbroich?

 

Sie hatte ihm Spaghetti mit selbstgemachtem Basilikumpesto zubereitet. Es war eines seiner Lieblingsgerichte. Jede Sekunde rechnete sie mit ihm. Sie freute sich. Sie hatte ein Bild vor Augen. Sie und er am Bodenseeufer. Sie saßen glücklich auf einer Bank, sie hatte den Kopf auf seiner Schulter abgelegt, er drückte sie mit seinem rechten Arm fest an sich. Sie schloß die Augen und sehnte sich nach der Wärme jenes Tages.

 

Er schleppte sich zur Brustpressmaschine, die den Abschluss seines Fitnessprogramms bildete. Noch saß dort ein junger Mann, der schwitzte und stöhnte.

 

„Mach ma hinne, du olle Flöte, sonst kannste wat erleben!“

 

Verdutzt schaute sich der junge Mann um.

 

„Ach, Heiko Haudrauf! Haha!“

 

„Isch meins ernst, du Pflaume, sonst hol isch meinen Bizeps und du kannst nach der Reha beim Kieser einsteigen!“

 

„Hahaha, sehr gut!“

 

„Hey!!! Hau ab!“

 

„Ist ja gut, ist ja gut… Ich gehe ja schon…“

 

Mit hochrotem, zornigen Gesicht setzte sich Ralf alias Heiko Haudrauf an das Gerät.

 

In der Umkleide starrte er minutenlang vor sich hin. Als ihn jemand bat, ein wenig zur Seite zu rücken um an den Spind zu gelangen, kläffte er wie ein Hund, eine Einlage aus einem früheren Programm.

 

Er fand es schön, in einem Nobelviertel zu leben und einen kleinen Fuhrpark aus Limousinen zu besitzen, mit denen er an manchen Tagen nach Lust und Laune über die Autobahn jagen konnte. Aber er fand es anstrengend, in einem Hochsicherheitsgefängnis zu wohnen, rund um die Uhr bewacht von Sicherheitsleuten, zu zweit in einem riesigen Haus, das ein Hotel hätte sein können.

 

Es klingelte an der Tür. „Agatha, ich gehe schon! Das wird mein Mann sein!“, rief sie dem Hausmädchen zu. Kaum war er in die Wohnung eingetreten, umarmte sie ihn wie bei der Rückkehr nach einer langen Reise. Erschrocken ließ er seine Sporttasche fallen.

 

„Ist irgendetwas in der Zwischenzeit passiert, oder warum zerquetschst du mich fast?“ fragte er.

 

„Ich umarme dich! Ich liebe dich halt sehr! Wie geht es dir, Schatz? Konntest du dich auspowern und Stress loswerden?“

 

„Ja, ich bin erholt, Vanessa!“

 

Er schob sie zur Seite, um zur Garderobe zu kommen. Sie beobachtete ihn, immer noch in der Stimmung „Wolke 7“. Als sie ins Wohnzimmer eintraten, knipste sie das Licht aus. Der Tisch war festlich gedeckt und von Kerzen beleuchtet.

 

„Adventszeit!“, flüsterte sie ihm ins Ohr.

 

Er erwiderte nichts. Er war auf Romantik nicht vorbereitet. Gedanklich war er leer und befand sich in einer Übergangsphase bis zur Fortsetzung seiner Tournee in ein paar Tagen. Er dachte außerdem an einen Fernsehauftritt am folgenden Tag.

 

Sie füllte ihm den Teller auf und schenkte Wein ein. Alle diese Handlungen, die von ihr mit so viel Hingabe und zärtlicher Zuneigung an ihn ausgeführt wurden, streiften lediglich sein Bewusstsein. Sie hob das Glas und lächelte.

 

„Auf uns, Ralf! Auf einen wunderschönen Abend!“

 

„Auf uns!“, murmelte er vor sich hin.

 

Sie ging zu ihm und küsste ihn auf die Wange.

 

„Morgen bin ich in bei Bernhard und Elton als Quizgast. Ich hasse die nervigen Quizsendungen. Haben sie keine anderen Formate in den Öffentlich-Rechtlichen!? Und wenn ich dann noch mit dem Elton zusammen raten muss, können wir sowieso von Vornherein aufgeben! Warum tue ich mir das an?! Nur, weil sie mich, Heiko Haudrauf, zum fünfzigsten Mal angefragt haben, und ich Ruhe vor ihnen haben möchte!“

 

„Ralf, bitte! Wir wollten einen schönen Abend verbringen!“

 

„Ja, das können wir ja anschließend machen. Ich werde morgen als Rentner Ekkehard gehen, damit die Leute ihren Spaß haben! Ich werde Elton und Bernhard in Grund und Boden schimpfen!“

 

„Geh doch zur Abwechslung als Ralf!“

 

„Vanessa, ich bin als Heiko Haudrauf eingeladen. Wer kennt Ralf Grevenbroich? Wen interessiert Ralf Grevenbroich? Was ist das für ein billiger Wein?!“

 

„Das ist kein billiger Wein!“

 

„Das ist billiger Wein! Für mich ist das billiger Wein! Ich hatte dir mehrmals gesagt, dass ich an Wein hohe Ansprüche habe! Wie kann ich einen schönen Abend verbringen, wenn mir so ein billiger Wein präsentiert wird!“

 

„Ralf, das ist kein billiger Wein. Ich war im Feinkostladen.“

 

„Beim Prohaska?“

 

„Ja!“

 

„Da wundert mich nichts mehr! Der Prohaska ist ein Stümper! Der dreht jedem seine Ramschweine an!“

 

„Letztes Mal hat dir der Wein noch geschmeckt!“

 

„Das habe ich nur gesagt, damit du zufrieden bist.“

 

„Jetzt reicht es mir. Du kannst alleine essen. Ich gehe auf mein Zimmer.“

 

„Ja, geh‘ aufs Zimmer, ich muss sowieso noch für die Tour proben! Bis später, meine romantische Vanessa!“

 

Er schrie: „Ich bin Heiko Haudrauf!“ Leise schob er nach: „Und ich hasse Heiko Haudrauf.“

 

Als das Hausmädchen Agatha verängstigt eintrat, verstellte er seine Stimme und spielte die Rolle des Rentners Ekkehard, der beim Frühschoppen mit seinem Nachbarn Petar über Gott und die Welt herzieht.

 

Einige Monate später:

 

Geht das nicht ein bisschen schneller?“

 

„Nein“, sagte die Maskenbildnerin.

 

„Wir wollen doch, dass Sie einen guten Eindruck im Fernsehen machen!“

 

„Wer will das?! Ich nicht!“

 

„Ach, Sie Querkopf!“

 

Reinhold Beckmann: „Herr Grevenbroich, wissen Sie, dass Sie einer meiner ersten Gäste sind, seit ich meine Sendung in der ARD wieder habe?“

 

„Grevenbroich ist ein Ort in Nordrhein-Westfalen und zufällig auch mein Nachname! Ist das so? Bin ich einer der ersten Gäste der neuen Staffel? Vielleicht auch einer Ihrer letzten, wenn Sie sich noch mehr Gäste von meiner Sorte einladen!“

 

„Haha, da hört man den großen Weltstar Heiko Haudrauf heraus, den wir alle so lieben! Wir werden im Lauf der Sendung natürlich noch genug über Heiko Haudrauf und seine Erfolgsstory reden, aber beginnen möchte ich mit Ralf Grevenbroich. Sie sind in Krefeld aufgewachsen, Ihre Eltern waren einfache Leute, Arbeiter…“

 

„Fragen Sie meine Eltern, die wissen das besser!“

 

„Herr Haudrauf, lassen Sie uns kurz über Ralf Grevenbroich reden. Was war das für ein Kind, dass da in einer Arbeitersiedlung in Krefeld unter schwierigen Verhältnissen….“

 

„Halten Sie den Mund!“

 

„… aufgewachsen ist. Sie hatten eine Schwester und einen Bruder…“

 

„Ja, aber mit denen habe ich keinen Kontakt mehr!“

 

„…. der Bruder ist Bäcker geworden, die Schwester arbeitet bei einer Bank…“

 

„Lassen Sie meine Familie aus dem Spiel!“

 

Haudrauf als Erwin, der grantelnde Rentner: „Beckmann, warum gehen Sie nicht endlich in Rente und kümmern sich um Ihre sozialen Projekte?!“

 

„Ah, der Rentner Erwin. Klasse! Bravo! Aber jetzt lassen Sie uns bitte einfach kurz über Sie als Mensch sprechen. Wer ist dieser Ralf?“

 

Haudrauf als Thorsten Legat beim FC Remscheid: „Ich habe natürlich meine Philosophie und richtungsweisende Augenblicke gehabt, wo ich gesagt habe, als Instinkt-Trainer und ehemaliger Fußballspieler: Scheiße!! Es werden aus dieser Mannschaft drei Mann absolut suspendiert! Darauf können Sie sich verlassen, wenn nich‘, dann geh‘ ich freiwillig! Ich brauch‘ keinen! Das ist ein Virus, das ist ein Bazillus!“

 

„Haha, Heiko Haudrauf als Thorsten Legat! Jetzt im Ernst, Ralf!“

 

„ICH BIN NICHT RALF! ICH HABE VERLERNT, RALF ZU SEIN! ICH WEISS NICHT EINMAL MEHR, WIE RALF SPRICHT UND DENKT!! ALLES GEHT KAPUTT WEGEN HEIKO HAUDRAUF!! “

 

Die Zuschauer applaudierten.

 

Heiko Haudrauf schloß ein fiktives Streitgespräch zwischen Herbert Wehner und Franz-Josef Strauß an, gefolgt von Trapattoni`s Wutrede, der sich nicht über „Struuuunz!“, sondern über den Qualitätsverfall italienischer Spaghetti echauffierte…..

 

In der Umkleide des Fernsehstudios zertrümmerte er einen Stuhl. Dann nahm er sein Handy. „Vanessa? Ich möchte dich zu unserem Lieblingsitaliener einladen. Ich habe den Haudrauf satt. Ich werde eine Auszeit nehmen. Die Wutbürger-Schiene… ungesund! Anfangs machte es Spaß zu provozieren. Weißt du, eigentlich bin ich ein harmoniebedürftiger und rührseliger Mensch!“

 

– 2. Version –