Von Tanja Muhs

Sie genießt das Gewisper, das durch die Menge wogt.

Schau! Schau nur! Da ist sie! , Sie hat das ausgelöst! , Ihr haben wir das hier zu verdanken! .
„Rotkappe, bitte, ein Selfie“, sagt jemand, drückt sich an sie. Es macht klick, bevor sie ihr rotes Cape zurechtrücken kann.
Rotkappe, das ist ihr Name. Neuerdings.

„Rotkappe! Rotkappe, da bist du ja! Schön! Es freut mich sehr, dass du Zeit für unsere kleine Initiative Wut braucht Mut, Wut tut gut! gefunden hast!“
Es ist Angela, verrät ihr Namensschild, das an ihrem hellblauen Jumpsuit über ihrem großen Busen hin- und herwippt, Angela Holle-Carter, die Initiatorin des Treffens.
„Komm! Komm!“
Rotkappe folgt dem heranrufenden Zeigefinger ihrer großen Hand.
„Ich muss dich ja niemandem vorstellen, du kennst sie ja alle. Misch dich unter sie, hör ihnen zu, mach ihnen Mut, gib ihnen Rat, sei eine von ihnen. Und nun – auf, auf, misch dich unter deine Anhängerinnen und verkörpere die neue Frau , die unser Land so dringend braucht!“
Mit diesen Worten wackelt die Mittfünzigerin so anmutig von dannen wie ihre 15cm-Stiletto-Absätze es zulassen.

„Rotkappe, Rotkappe! Ein Autogramm bitte!“
Es ist das Aschenputtel, das ihr eine Fotografie vor die Nase hält. Es ist die Fotografie, mit der sie, Rotkappe, in die Geschichte ein- und durch die Presse der Märchenwelt ge-gangen ist. Gekleidet in ihrem roten Cape auf einer der vielen Demonstrationen, die sie geleitet hat, steht sie da, ihr Gesicht wutverzerrt, ein Banner in der Hand, auf dem steht Pennemöpse müssen weg! , daneben ein Bild des schlafenden Dornröschens.

Rotkappe greift nach dem roten Stift, das das Mädchen ihr entgegenstreckt. Während sie ein paar warme Worte neben ihren Namen auf das Foto kritzelt, sagt das Aschenputtel mit leuchtend roten Wangen:

„Weißt du was? Ich habe mal darüber nachgedacht…Wie dumm war ich eigentlich? Tauben müssen meinen Prinzen darauf aufmerksam machen, dass da bei meinen Stiefschwestern Blut im Schuh ist! TAUBEN! Die Ratten der Lüfte. Hingegangen bin ich zu ihm und habe gesagt, Prinz, habe ich gesagt, wo hast du Trottel hingeguckt, als du drei Nächte lang mit mir getanzt hast? WOHIN? In mein Gesicht auf jeden Fall nicht! Und dann habe ich die Scheidung eingereicht und habe mich mit meinen Stiefschwestern ausgesöhnt. Wir wohnen jetzt in einer WG zusammen und haben richtig Spaß!“

„Das freut mich“, erwiedert Rotkappe, weiß sonst nicht so recht, etwas zu sagen.

Pennemöpse müssen weg!
Pennemöpse müssen weg!
Pennemöpse müssen weg!
!

skandieren Goldmarie und Pechmarie von der Tür. Rapunzel ist bei ihnen, wie immer in den letzten Monaten.

„Rapunzel, Rapunzel, jo.“
Das das Goldmariechen.
„Rapunzel, Rapunzel, jo – ho – Missy, jo.“ Das das Pechmariechen.
„Jo, Missus Rapunzel, ho.“ Das das Rapunzel, ihr Haar jetzt raspelkurz, silberplatin mit violetten Highlights. „Lass es runter, dein Haar, Missus!“
Wieder das Goldmariechen: „Lass es runter, dein Haar!“
„Jo, runter, dein Haar“, die Pechmarie.
Rapunzel greift sich in den Schritt. „Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter. Ich erkenn dich nur am Haar.“
„Erkenn dich nur am Haar, erkenn dich nur am Haar“, antworten Goldmariechen und Pechmariechen im Chor.
„Mutter auf Dope, Vater ohne hope, verschachert sein Kind für Unkraut, jo. Gefangen im Turm, der Prinz, ein kleiner Wurm, juckelt hoch die Zinne, hat am Auge Pinne als er fällt ins Dorngestrüpp, Scheißweg zur Minne.“
„Jo-ho, jo-ho!“ Goldmarie und Pechmarie machen einen Sprung in die Luft, landen – tausend Mal geprobt – vor Rapunzel im Ausfallschritt. Die Menge tobt.

„Wie du siehst, Rapunzel hat ihre Stimme gefunden“, wispert es neben Rotkappe. Es ist das Schneewittchen. „So wie du gesagt hast: Findet eure Stimme und sprecht mit einer!“
„Ja, der Song ist seit Monaten ganz oben in den Charts, ich weiß“, murmelt Rotkappe.
„Du hast das alles revolutioniert, du hast das geschaffen.“
Rotkappe blickt auf die Mädchen-Combo, die gerade fleißig Moves zeigt, auf die klatschende Menge drumherum.
„Du hast so recht!“ fährt Schneewittchen fort. „Demut war die höchste Tugend, aber die Zeit des Wartens ist nun vorbei. Wir Frauen müssen uns nehmen, was unsers ist. Nicht harren und warten, sondern das Leben selbst in die Hand nehmen. Mut zur Wut! Zu viele Jahre sind wir blind gewesen, haben gemacht, was man uns gesagt hat. Du bist die Ikone, du bist die neue Frau , die sich traut, wütend zu sein, und sich zu nehmen, was sie will.“
Sich zu nehmen, was sie will, Rotkappe denkt an den Wolf, dessen Hand sie genommen hat. Eine wohlige Wärme steigt in ihr auf, sie lächelt.
Schneewittchen hat das Lächeln gesehen.
„Ja, du kannst mit Fug und Recht stolz auf dich sein.“
„Im übrigen“, fährt sie fort „bin ich dir über die Maßen dankbar, dass du mich meiner Stiefmutter so viel näher gebracht hast! Du machst dir kein Bild, was die so alles weiß – Kräuter, magische Formeln, alles, was das Herz begehrt, ein Helferlein für alle Lebenslagen!“ Schneewittchen kichert.
„Ja“, murmelt Rotkappe, „dieses Wissen muss weitergegeben werden an die nächsten Generationen. Damit die nächsten Generationen Frauen hervorbringen können, die ihre Frau stehen können, mit allen Mitteln, die ihr von Natur aus gegeben sind!“
Rotkappe merkt erst, dass sie gerade das Manifest wiedergebetet hat, als Schneewittchen, die letzten zwei Sätze mitsprechend, den letzten fehlenden ergänzt: „Damit wir unser volles Potential ausschöpfen können und die neuen Frauen werden können.“

Jemand hüstelt neben ihr. Es ist der Wolf. Man hat ihn wohl nur hineingelassen, weil er zu ihr gehört. Auch ihn haben die Ereignisse verändert. Auf zwei Beinen läuft er nun und trägt eine Brille. Wie eine Woge ist jedes Gespräch abgeebbt.
In die Stille sagt er nun, für jede hörbar:
„Ich möchte ja wirklich nicht stören, aber der neue Mann hätte da heute noch etwas vor.“ Dabei kratzt er sich laut und deutlich und für jede sichtbar sein Gemächt.
„Zeit zu gehen, Käppchen, komm!“, sagte er auf eine Art, die keinen Widerspruch duldet und verlässt den Raum.
Das wütende Gewisper, das durch die Menge wogt, verfolgt Rotkappe bis auf den Parkplatz, wo sie in Wolfens Auto steigt.
Mit der Zunge schnalzend sagt er: „Na, du willst mir doch nicht wirklich weißmachen, dass du Bock auf die bekloppten Hühner hattest, oder? Die kann man doch nicht ernst nehmen“, und schiebt dabei seine Brille hoch.