Von Eva Fischer

Sie schauen mich an wie ein Gespenst. Dabei habe ich mich in den letzten Monaten nicht verändert, zumindest nicht auf Anhieb sichtbar. Seit 15 Jahren arbeite ich hier. Eigentlich sollten sie mich kennen.

„Hallo Anne! Schön, dass du wieder vorbeischaust“, kommt es zuckersüß von Susanne.

Meinen Namen kennen sie immerhin noch. Ein mitleidiges Lächeln huscht wie ein Schatten über Susannes Gesicht. Ich halte ihm stand.

„Wie geht es dir? Hast du noch Schmerzen?“, will Beate wissen. Oh, wie einfühlsam! Dabei würde ich mir nichts lieber als Normalität wünschen. Lieber, ein Anne, warum-bist-du-zu-spät?, als dieses Gesülze. Lange können sie es eh nicht aushalten und ihre Blicke wandern zu meiner rechten Hand.

„Einen Stinkefinger kann ich euch nicht mehr zeigen“, sage ich „aber tot bin ich deshalb noch lange nicht.“ Mein Lächeln gerät in Schieflage wie meine rechte Hand, die etwas lustlos an meinem Arm baumelt. Komm her, du Feigling! Ich strecke sie nach oben, damit sie nicht heimlich schielen müssen. „Alles gut verheilt. Ich habe mit der Schere schneiden geübt. Ich kann gleich wieder anfangen.“

Nun sehen meine restlich verbliebenen vier Finger komplett wie Stinkefinger aus, so vehement strecke ich sie ihnen entgegen, als ob ich sie durchbohren wollte und tatsächlich weichen sie unmerklich zurück.

Sieht nicht schön aus, denke ich. Das Fleisch hatte noch nicht genug Zeit, eine unauffällige Hautfarbe anzunehmen. Und ein Finger weniger fällt leider auch sofort auf, es sei denn, man versteckt die Hand in einem Fäustling. Aber wie sollte ich damit meinen Job machen? Schließlich bin ich Frisörin aus Leidenschaft und im Übrigen viel zu jung, um aufzuhören.

 

*

 

Nur ungern erinnere ich mich an jenen 22. September, einen Samstag. Es war heiß wie im letzten Jahr keine Seltenheit. Ich rührte die Farbe von einer Kundin an. Das Amoniak verströmte seinen bissigen Geruch. Ich zog meine Handschuhe an, aber ich merkte, dass sie sich nicht mehr so einfach überstülpen ließen. Mein rechter Mittelfinger war dicker als gewöhnlich. An der Rückseite konnte ich etwas Weißes entdecken. Darum würde ich mich später kümmern. Jetzt brauchte Frau Adelstein erst einmal Farbe, um ihre grauen Haare wieder blond erscheinen zu lassen. Wir Frauen lassen uns von der Natur nicht vorschreiben, wie wir auszusehen haben. Verstohlen schaute ich auf meine langen braunen Haare. Ich war 37. Wann fing der Kampf gegen das erste weiße Haar an?

Frau Adelstein war jedenfalls mit meiner Arbeit zufrieden und gab mir reichlich Trinkgeld. Mein Mittelfinger erinnerte mich durch sein Pochen, dass ich mich um ihn kümmern sollte. Doch es gab noch weitere Kunden, bis ich Feierabend hatte. Etwas zu Essen einkaufen, musste ich auch noch.

Als ich den Finger zu Hause inspizierte, stellte ich fest, dass die weiße Stelle deutlich gewachsen war. Ich vermutete Eiter und wickelte mir einen Verband darum. Was ich gedacht habe, weiß ich nicht mehr.

Vielleicht, wird schon. Kann so schlimm nicht sein. Morgen wache ich auf und es ist alles gut. Schließlich ist langes Wochenende.

Als ich den Verband am nächsten Tag löste, sah ich, dass sich nichts verbessert hatte. Mein Finger war schrumplig, der Eitersack war prall. Also neuer Verband. Ich fuhr zu meiner Mutter, die Nudelsalat selbst gemacht hatte. Für diesen Nudelsalat können Sie mich nachts um eins wecken, so lecker ist der.

„Was ist mit deinem Finger?“, wollte meine Mutter wissen.

„Ach, nichts.“

„Zeig doch mal!“

„Bist du wahnsinnig! Wir fahren sofort zur Notaufnahme“, schrie meine Mutter mich an. „Das kann zu einer Blutvergiftung kommen.“

„Heute ist Sonntag“, sagte ich. „Das hat bestimmt bis Montag Zeit.“

Meine Mutter nahm mir die Schüssel mit dem Nudelsalat weg, stellte sie in den Kühlschrank, zog ihre Schuhe an und schnappte sich den Autoschlüssel.

 

Wer glaubt, dass die Notaufnahme in einem Unfallkrankenhaus Sonntag Nachmittag leer ist, der irrt. Der reinste Kindergarten! Allerdings sprangen die Kids etwas lädiert und quengelig um ihre Eltern herum. Waren sie aus dem Hochbett gefallen oder hatten sie die Hitze der Herdplatte testen wollen? Nach und nach wurde ein Schreihals nach dem anderen nebst Elternteil abgeholt, während ich wartete.

„Du kannst schon nach Hause fahren“, schlug ich meiner Mutter vor. Sie schüttelte den Kopf. Gut, dann noch eine weitere Mutter-Kind-Kombination. Irgendwann kam ein erschöpft wirkender junger Arzt.

Er sah sich meinen Finger an.

„Den Eiter müssen wir entfernen und eine Drainage mit einem Antibiotikum legen“, sagte er.

Das war nicht unangenehm, denn die Haut spannte inzwischen schmerzlich.

„Wir sollten das beobachten“, sagte der Doc. „Am besten bleiben Sie eine Nacht bei uns.“

„Wegen eines Fingers!“ Ich lachte.

„Du machst, was dir der Arzt empfiehlt“, sagte meine Mutter. „Ich fahre nach Hause und hole dir ein Nachthemd und Waschzeug.“

Na toll! Was für ein gelungener Sonntag Nachmittag, dachte ich.

Meine Mutter brachte natürlich noch Hefte der gesamten Regenbogenpresse mit, die sonst bei uns die Kunden zu lesen kriegen, außerdem lud sie mich in der Cafeteria zu einem Eis ein.

„Die Nacht überstehst du auch noch Liebstes. Hauptsache alles wird gut. Du kannst dich hinterher noch ein paar Tage krank schreiben lassen, falls du dich um das Wochenende betrogen fühlst“, zwinkerte sie mir zu.

 

Die Nacht war fürchterlich. Ich wurde von Alpträumen geplagt. Immer wieder schreckte ich auf. Auch wenn ich nicht sah, was sich unter meinem Verband tat, ahnte ich nichts Gutes. Und dann sah ich es. Es war der größte Schock meines bisher jungen Lebens. Der Finger war schwarz geworden, er war abgestorben. Einfach so! Er hatte ein weiteres Zusammenleben mit mir verweigert. Ich brach in Tränen aus, trauerte wie um ein verlorenes Kind.

Nach der Krankenschwester kam der Assistenzarzt, dann sogar der Chef persönlich.

„Es tut uns leid, Frau Weber. Wir müssen ihren Finger leider amputieren.“

Bei so einer Nachricht fällt der Patient gern in Ohnmacht. Ich leider nicht, aber dafür bekam ich genügend Anästhesie, um das Weitere zu überstehen.

 

*

 

„Da kommt Herr Klefisch. Mit dem kannst du gleich anfangen“, sagt Susanne.

Klar doch bei den wenigen Haaren gibt es nichts zu vermasseln, denke ich wütend.

„Ach, Frau Weber! Da sind Sie ja wieder. Habe Sie längere Zeit nicht gesehen. Gut, schau’n Sie aus. Sie waren sicher im Urlaub. Kann sich ja unsereiner als Geschäftsmann nicht leisten.“

Da habe ich meine Normalität. Ich hole den Rasierer.

„Sie glauben nicht, was mir auf dem Weg hierher passiert ist. Da hat mir so ein weißhaariger Opa die Vorfahrt genommen. Am liebsten hätte ich den mit meinem SUV platt gemacht! Ganz ehrlich, man sollte den Leuten spätestens ab 70 den Führerschein abnehmen.“

In 20 Jahren wäre es dann auch so weit bei dir, denke ich und schneide weiter.

„Finden Sie nicht auch, dass es endlich an der Zeit ist, dass Frau Merkel zurücktritt?“, fährt er  mit seiner Konversation fort.

Was ich finde, willst du doch gar nicht wissen, denke ich.

„Also, ich bitte Sie, eine Frau an der Spitze des Staates! Den Frauen fehlt es einfach an Führungsqualitäten. Dabei möchte ich ihnen andere Qualitäten keineswegs absprechen“, zwinkert er mir im Spiegel zu.

„Herr Merz wäre ja mein Fall gewesen, aber jetzt haben sie wieder so eine Tusse aus dem Saarland genommen. Armes Deutschland!“

Ach, und so männliche Führungskräfte wie Trump, Putin oder Erdogan haben die Welt sicherer und  friedlicher gemacht? Ich schenke Herrn Klefisch ein diabolisches Grinsen, das er vermutlich als Zustimmung interpretiert. Nun kommt der Rasierer zum Einsatz. Surr, surr! Weg mit den störenden Härchen! So sehen wir wieder männlich akkurat aus.

 

„ Frau Weberr, ich habe noch gar nicht gemerkt, dass Sie Linkshänderin sind.“

Konntest du auch nicht, du Klugscheißer, weil ich die letzten Monate daran gearbeitet habe,  wieder Linkshänderin zu werden, damit ich meinen Job nicht verliere.

„Sie wissen ja, die Linke kommt von Herzen“, lächle ich süßlich, als er mir abschließend gönnerhaft einen Euro in die Hand drückt.

 

„Also, dann bis morgen!“,sage ich zu Susanne und Beate, die mich ganz offensichtlich  beobachtet haben.

„Bis morgen! Tschüßi!“, flöten sie mir nach.

Ich öffne die Türe und atme den kalten Nordwind ein, der in den Laden fegt.