Kornelia Wulf

Den Schleier tief in die Stirn gezogen kniet Philomena auf der Kirchenbank. Starrt auf das stumpfweisse Licht des Kerzenmeers, das unter St. Benedikts Fußsohlen flackert. Bis plötzlich ein Nebelgespinst hernieder sinkt, mit den Flammen verschwimmt und ihren Blick  auf seine gekreuzigten Glieder lenkt. Auf Ihn, der über dem spärlichen Haupthaar des Ordensvaters hängt. Philomena reibt die Augen. Erschreckt. Verwirrt. Als Er plötzlich die Lider hebt. Ihr zuzwinkert. Die Hand aus dem Nagel löst. Ihr zuwinkt. 

„Oh Herr, treib keinen Unfug mit mir“, flüstert sie. Und spürt eine dichte Leere, die in ihrem Kopf wabert, als sie versucht sich hochzuhieven. Doch die Knie geben nach. Knicken einfach ein, wie verlassene Papphüllen. Seufzend sinkt zurück auf die Bank. Presst ihren Kopf in den geschnitzten Dornenkranz.

 

Philomena öffnet die Betfaust. Reibt die Finger. Schüttelt den Schmerz aus den Händen. Und sie lässt los, sinnt den Erinnerungen nach, die auf einem eisigen Zughauch durch das Kirchenfenster strömen. 

 

***

 

Sechs Jahre ist es her, seit sie das Schreiben in ihrem Briefkasten fand. Von der Theologischen Fakultät Freiburg, an der sie sich um einen Studienplatz beworben hatte. Mit zitternden Fingern öffnete sie den Briefumschlag und als sie den Text gleich ein zweites Mal las, glaubte sie über einen Glücksstrom zu wandeln. 

 

Vaters rumpelnder Escort spuckte Rauchzeichen aus, als er Philomena in das Studentenheim brachte. Und während Tannenspitzen sein Abbild in das Staubblau des Autodaches ritzten, schaute sie ein letztes Mal auf den verschwiegenen Ort zurück, der ihre Kindheit und Jugend fest an sich gebannt hatte. Auf dieses Handvoll Dorf versteckt auf waldiger Höhe, in dem nur fünf Höfe Platz fanden. 

 

Mit Lazarus im Käfig und seinem schweren Kreuz in der Hand stand sie ganz allein am Bordsteinrand. Das Rückleuchtenrot verlor sich im Dämmerschein, als ihr Blick in den Scheiben der Fensterreihen versank, die das Grau der neuen Wohnstätte durchbrachen. Plötzlich spürte sie unter den Sohlen ein Rucken. Jeder Nerv – feingeästelt – begann  zu zucken, als der schwarze Engel durch den Asphalt fuhr. Sein Huf riss Spalten in breiter Spur, während er Thermopaneendlosschleifen in Schlangen verwandelte. Rot, gelb, grün schillerte es in transparenten Gliedern. Und das Hupen und Stocken hinter ihrem steif gespannten Rücken floss an Philomena vorbei. Wie fest gemauert starrte sie auf den gläsernen Schlund. Weit gespreizt der Kiefer, lackiert der Mund wuchs ein gelockter Schopf aus ihm heraus. Die Ballen gepresst auf Wimpern und Lider hauchte sie stimmlos – wieder und wieder – „Hebe dich weg von mir“. Bis sie in lächelnde Grübchen blickte. Auf Hände, die winkend willkommen riefen, bevor sie das Fenster im dritten Stock verriegelten.

 

In den ersten Wochen versteckte sich Philomena vor der großen Stadt. Vor diesem Kreischen. Diesem Rauschen. Schrumpfte unter dem Federbett zusammen in der Nacht. Wie ein Babydracula. Der in den Gefilden der Hölle zerfällt, wenn ihn die Leuchtreklame erhellt. Akoya Sushi Grill auf weiße Laken schreibt. Auch der Tag bereitete ihr Qual. 

 

Bis sie eines Morgens nieder kniete.

 

Vor Ihm, der auf der Raufaser neben der Klappcouch seinen Platz gefunden hatte. 

 

 „Herr, lass mich bei dir bleiben.“, flehte sie ihn an. Und die Silben lösten sich von Wand. Wirbelten sanft. Vereinten sich in dem Kanal, der Philomena und ihm ganz allein gehört.

 

„Geh aus mein Herz und trag dein Kreuz. Zu deinen Schwestern und Brüdern!“ 

 

„Oh Mann“, Philomena zog seufzend die Brauen zusammen. „Heute ist er aber wieder kryptisch drauf.“

 

„Ach Herr“, wisperte sie, „die Welt ist wild.“ 

Die Glottis schluckte hart und eng, als ein genervtes Brummen durch den Raum schwirrte. Unfassbar. Hatte tatsächlich Er das von sich gegeben?

 

„Punktum, Philomena. Du musst es wagen! Als mein Abziehbild, sozusagen.“

 

Den Gehorsam schon früh auf die Brotkanten gestrichen, huschte Philomena über das Altstadttrottoir. Wich jedem Blick entschieden aus, der ihre versiegelten Züge

ertastete. So oft sprang sie auf dem Weg zur Uni aus der Tram heraus. Bereits beim ersten Halt. Wenn fremde Glieder sich an ihrem Wollmantel rieben. An Schultern und Brüsten. Ganz nach Belieben. Während Philomena in der Handschlaufe festhing. Ein  letztes Quäntchen Vernunft verbot ihr das Bücken, um auf den Nothalteknopf zu drücken. Wenn dieser Geruch in ihre Nase strömte. Diese schmutzige Süße, die Papillen verklebte und verkapselte Empfindungen wach rief, die sie bislang verleugnet hatte. Nur am Abend nach den Seminaren konnte sie sich wiederfinden. Die Furcht in ein entlegenes Schubfach verstaut, schlüpfte in ihren Winkel zurück. In das winzige Studentenzimmer, das von der Eingangstür bis zu seinem Kreuz an der Wand vier Schritte maß.

Dann leerte sie sein Plastiknäpfchen aus, füllte es mit reinem Wasser und Jod S11 Körnchen. Und wenn er schlürfend sein Abendmahl pickte, zwitscherten sie das Vogelhochzeitslied. Lazarus`s absoluter Favorit.

 

Bis es eines Abends an der Zimmertür klopfte.

 

Ihr Herz rutschte unter Lazarus`s Federkleid, als sie vorsichtig die Klinke drückte und durch den handbreiten Spalt ein Gesicht erblickte. 

 

„Hey, ich bin Julius. Dein neuer Nachbar.“

 

Fokussiert folgte sie dem Spiel seiner Lippen, den kräftigen Zähnen, die sie entblößten,  bis sich ein Knopf von Philomenas Bluse löste.

 

„Puh. Das war die letzte Kiste. Vier Treppen. Echt der Wahnsinn.“

 

Den Daumen in Richtung Kartonturm gestreckt, wischte er sich den Schweiß von der Stirn. „Wahrscheinlich greife ich gerade ganz tief in die Klischeekiste. Aber – hättest du etwas  Kaffeepulver für mich? Ich bin total süchtig nach dem Zeug und in dem Pappspektakel“, sein Daumen kippte, „wird es Tage dauern, bis ich die Packung finde.“ Und während Philomena nach der Dose neben den Teebeuteln griff, rief er „Hey, lass uns zusammen Kaffee trinken. Maschine und Filter … Moment mal“, das Packpapier raschelte, „ … da hängt was in den Schnürsenkeln fest … So. Geschafft … Ach – hast du auch noch etwas Milch?“

 

Die Kaffeestunde mutierte zum Ritual. 

 

Beim ersten Mal glaubte Philomena in einer Kulisse zu sitzen. In einem fremden, falschen Film. Als sie gemeinsam um den Pappkarton hockten. Diesen Knollenkaktus in ihrer Mitte. Auf einem sauberen Küchenhandtuch platziert – erst Monate später sollte er sich einen Tisch aus dem Sperrgut organisieren -. Doch bei jedem Treffen flossen die Worte leichter über die Lippen. Und sie erzählte von Lazarus. Dem Dorf. Von Gott. Und wenn der Kaffeeduft bis in ihr Zimmer strömte, zupfte sie sich ein Häutchen ab. Räkelte sich wie ein Zwiebel im warmen Wasserbad.

 

An einem Sommertag – bereits im Morgengrauen maß das Thermometer fünfundzwanzig Grad – stand Julius vor ihrer Tür. 

„Es wird mir zu eng und heiß in der Stadt. Ich muss raus in den Wald. Mal wieder richtig durchatmen. Komm mit!“ 

Die Fahrräder an eine Tanne gekettet, erklommen sie den steilen Pfad. Schwer wogte der Atem in ihrer Brust, als sie den Tau auf den Berggräsern fühlten. Ihre Strümpfe abstreiften, die Füße kühlten. Eingesponnen im Nebel, der um den Gipfel schwebte. Und wie ein luftiges Laken den Toten Mann (*) bedeckte.

Julius wickelte eine Strähne um seinen Finger. Aus ihrem steif gestriegeltem Haar. Und  als er sie fest an sich drückte und „Bingo!“, flüsterte, „Nachbarn kann man sich schließlich nicht aussuchen.“, stob der Schmutz in die verbotene Sphäre zurück und ein Berg aus Zuckerwatte verkleisterte die Luft.

 

Noch am selben Tag kramte Philomena den Stoff aus dem Koffer. 

 

Der weiße Satin knisterte unter den behandschuhten Fingern, als sie die Nadel zückte. Pausenlos nähte. Bis der erblasste Mond dezent drei Mal gähnte.

Das letzte Fädchen zwischen den Zähnen hörte sie plötzlich ein Dröhnen. Irgendjemand  keuchte hinter der papierdünnen Wand. Dann – ein Stöhnen! Sie umklammerte Ersatzschlüssel und Schere fest mit den Fingern und spähte vorsichtig in Julius Zimmer. In dem sie zwei lächelnde Grübchen erkannte. Und Locken, die das Gesicht umrahmten. Nebst Hintern, der im Bad verschwand. „Das ist Angelika“, Julius zerrte die Boxershorts über seinen Bauchnabel, „sie wohnt direkt unter uns. Neben Horst. Du weißt schon. Der immer schnarcht im Ethikseminar. Hey, lass uns Kaffeetrinken. Zu dritt. Bringst du noch etwas Pulver mit?“

 

Plötzlich wankte der Himmel, das Fenster klirrte, als der Behufte ihre Sinne okkupierte. Und Philomenas Entscheidungsdatei komplett verwirrte. Während sie den Arm anhob und die Schere in Julius Halsschlagader flog.

 

Sie sank hinab, während die Erinnerung sie umschlang, ihre Finger auf seinem Bauch tänzeln ließ …

 

… Schmutzig süß schwebt der Dunst. Über dem Bottich in Vaters Schlachtküche. Sie streichelt die rosige Haut. Kein Stoppel ist mehr zu spüren. Es kitzelt in den Kuppen. Sie lacht. Noch einmal taucht er ein, ihr roter Finger, malt ein Muster auf die Schwarte. Und sie schmeckt Eisenspäne, die auf ihrer Zunge wachsen … 

 

Verzweifelt rieb Philomena an dem Sud. Wie Teer haftete er an ihrer Hand. Als sie plötzlich ein Plastikkärtchen entdeckte, das an Julius Boxershorts festklebte,

 

CVJM 

Angelika Meyer

Mitgliedsnr. :

125987

 

 … und es in das Jeansknäuel stopfte, das vor seinem Bettkasten herumlungerte.

 

***

Gestern ist sie hier angekommen. Und Mutter Oberin hat Angelika gleich unter ihre  schwarzen Baumwollfittiche genommen. „Sechs Jahre hat sie gesessen“, flüsterte sie Philomena zu. „In der hiesigen JVA. Doch wir wollen den Mantel des Schweigens darüber hüllen. Denn nur der, der wahrhaftig bereut, durchschreitet die Pforte zu seinem Reich.

 

„Nun Herr.“ 

Sie schaut in sein Gesicht. Nichts. Die asketischen Lippen bleiben verschlossen. Still und starr hängt er da. Dann – ein kleines Zucken, als wolle sein schlaffer Rücken sich in das hölzerne Kreuz verdrücken.

 

„So geschehe es“, flüstert Philomena und greift nach der Schere in ihrer Schürze. Kalt gräbt sich das Metall in den Handballen, als sie weit ausholt

 

„Endlich die richtige Entscheidung treffen …“

 

(*) Für den, der ihn nicht kennt. Der Tote Mann ist ein Berg im Südschwarzwald.

 

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