Von Peter Zimmermann

Ich konnte meine Großtante nie besonders leiden. Sie stank immer nach Zigaretten, küsste mich zur Begrüßung wie selbstverständlich mit ihrem ekelhaften Aschenbechermund und gehörte zu jenem bemitleidenswerten Schlag von Menschen, die ständig einen Grund zum Jammern suchen, obwohl sie eigentlich gar keinen finden sollten. Nicht eine Sekunde hat sie in ihrem Leben arbeiten müssen und trotzdem ist sie zu lethargisch, um sich an der fürstlichen Pension ihres verstorbenen Mannes zu erfreuen. Stattdessen brilliert sie in der Rolle der gutbetuchten Witwe, die sich für einen integralen Bestandteil der lokalen Highsociety hält, ohne je selbst eine verdienstvolle Leistung für diese Stellung erbracht zu haben.  

Aber ich will nicht lästern. So sehr meine Großtante mit ihren Allüren meine Nerven strapazierte, so unterhaltsam konnte sie bisweilen sein. Meistens amüsierte ich mich bei den Familienfesten über ihre theatralische Verzweiflung, ob sie nun lieber nach Spanien oder nach Frankreich reisen sollte. Einmal hat sie mir bei Tisch jedoch eine Geschichte erzählt, die mich tatsächlich zum Nachdenken gebracht hat. 

Zugegeben, was ich gleich von mir geben werde, klingt ein wenig, als wäre es aus einem seichten Liebesroman abgekupfert worden. Ist es vielleicht auch. Ich kann keine hundertprozentige Garantie für den Wahrheitsgehalt dieser Anekdote liefern, da ich sie selbst aus zweiter Hand während einem öden Kaffeekränzchen erfahren habe. Die Art und Weise, wie meine Großtante die Geschichte präsentierte, die leidenschaftlichen Emotionen, die an manchen Stellen in ihre sonst so nüchterne Erzählung flossen, weckten in mir allerdings die Überzeugung, dass es sich so oder so ähnlich zugetragen haben musste.

Jedenfalls erzählte sie, ihre Schwester, also meine Oma, habe vor meinem Opa noch einen anderen Mann geliebt. Sie selbst habe ihn nur als Schokoladensoldat gekannt, weil sie damals noch ein Kind gewesen sei und er ihr bei jedem Besuch ein Stück Schokolade mitgebracht habe. Sein richtiger Name sei Vergil gewesen. Vergil war Kanadier und verfügte über einen Pilotenschein, was ihn zusammen mit seiner politischen Gesinnung dazu veranlasste hatte, sich freiwillig für den Krieg zu melden und die Deutschen in der Luftschlacht um England  davon abzuhalten, unsere schöne Insel in eine weitere ihrer braunen Kolonien zu verwandeln. 

Meine Großmutter, die wie die meisten Frauen ihrer Zeit als Krankenschwester verwundete Soldaten pflegte, lernte Vergil bei einer abendlichen Tanzveranstaltung im Militärkrankenhaus kennen. Angeblich habe ihr Vergils forsche Art imponiert, die so ganz anders gewesen sei als die meines Opas. Er habe ihr entschlossen in die Augen geblickt, sie im richtigen Moment geschickt an der Hand ergriffen und direkt auf die Tanzfläche befördert. Die beiden redeten nicht viel, tanzten aber dennoch den ganzen Abend durch und das so entrückt, dass man sie mit Hilfe des Lichtschalters freundlich auf das Ende der Veranstaltung hinweisen musste.

In den folgenden Wochen und Monaten trafen sie sich noch weitere Male, um zu tanzen, zu reden und im Mondschein spazieren zu gehen. Allerdings schwebte Vergils baldige Rückkehr nach Kanada wie ein Damoklesschwert über der jungen Beziehung.

Die beiden verabredeten sich ein letztes Mal und schworen, einander niemals zu vergessen. Für einen Moment hätten sie laut meiner Großtante sogar überlegt, sich von einem Militärpfarrer trauen zu lassen, um die gemeinsame Zukunft zu besiegeln, die sie sich bereits in Kanada ausmalten. Diesen bedeutenden Schritt wollten sie jedoch nicht überstürzen. Meine Oma versprach Vergil, sie würde ihm so bald wie möglich nach Kanada folgen, nichtahnend, dass sie sich nie wiedersehen würden.

Zwar schrieb Vergil meiner Großmutter gleich vom ersten Tag an, als er wieder kanadischen Boden betrat, im regelmäßigen Abstand von einer Woche einen Brief. Was er aber nicht wusste war, dass meine Urgroßmutter mit ebenso schöner Regelmäßigkeit jeden seiner Briefe einkassierte und versteckte. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, ihre einzige Tochter für immer an einen Mann aus Übersee zu verlieren, nachdem sie ihren ersten Mann bereits in Gallipoli verloren hatte. 

Für ein oder zwei Jahre ließ sich meine Oma nicht beirren und wartete so treu wie verzweifelt auf ein Lebenszeichen von Vergil. Nachdem die Atlantiküberfahrten mit Kriegsende wieder sicher geworden waren, zeigte sie sich sogar fest entschlossen, einen Dampfer nach Kanada zu besteigen, um der Sache auf den Grund zu gehen. Doch ihre Mutter redete ihr dieses „kanadische Hirngespinst“ gekonnt aus. Als die Nachrichten von Vergil weiterhin ausblieb, vergaß meine Oma ihn und heiratete enttäuscht und verletzt einen anderen Mann, um mit ihm Kinder zu bekommen. Meinen Großvater.

Es vergingen viele Jahre und Jahrzehnte, in denen ihre Kinder erwachsen wurden und selbst Kinder bekamen, ihr Mann starb und auch ihre eigenen Haare grauer und lichter wurden. Eines Tages, als meine Urgroßmutter schließlich im Sterben lag, gestand sie meiner Oma, dass Vergil sie sehr wohl geliebt habe und bis zu seinem Tod nicht aufgehört hätte, ihr Briefe zu schreiben. Es sei eine Sünde gewesen, ihr die Briefe vorzuenthalten, das wisse sie nun im Angesicht des Todes, und sie bereue diese Entscheidung zutiefst. 

Anstatt ihrer Mutter auf dem Totenbett Vorwürfe zu machen, erfreute meine Oma sich lieber an der späten Gewissheit, dass Vergil sie nicht vergessen hatte. Die wiedererweckten Gefühle veranlassten sie dazu, einen Versuch zu unternehmen, ihre große Liebe aufzuspüren. 

Es dauerte noch einmal mehrere Jahre, bis sie nach unzähligen Telefonaten und Korrespondenzen mit kanadischen Behörden herausfand, dass Vergil um die Jahrtausendwende allein und unverheiratet in eben jener Stadt gestorben war, in der sie sich zusammen eine Existenz aufbauen wollten.

Tja, das ist das Ende. Ziemlich romantisch, oder? Aber irgendwie auch nicht. Irgendwie sinnlos.

Wie gesagt, ich habe nicht den Hauch einer Ahnung, ob irgendetwas an dieser Story wahr ist. Auf Nachfrage konnte meine Großtante mir nämlich keinen der besagten Briefe zeigen. Sie wusste nicht einmal, ob meine Oma selbst jemals einen von ihnen zu Gesicht bekommen hatte. Allerdings habe meine Oma ihr vor ihrem Tod in triumphierender Euphorie zugeflüstert: „Ich habe mit Mama geredet. Der Schokoladensoldat hat mich doch nicht vergessen!“ 

Noch lange, nachdem mir meine Großtante von meiner Oma und Vergil erzählt hatte, geisterte ihre Geschichte durch meine Gedanken. Sie geisterte umher und deprimierte mich. 

Ich bekam dieses Bild nicht aus meinem Kopf. Ich stellte mir einen Mann vor, einen gutherzigen Mann, der nichts falsch gemacht hatte und durch das Schicksal in Form einer übereifrigen Mutter dennoch zu einem Leben in Einsamkeit verdammt wurde. Ich versuchte zu begreifen, wie allein der Umstand, dass er meine Großmutter kennen und lieben gelernt hatte und die Entscheidung, entweder sie oder keine Frau zu heiraten, seinen gesamten Lebensweg bestimmt hatte. Einen traurigen Lebensweg. Und das, obwohl er den mutigen Weg der Liebe gewählt hatte. Was für ein Tritt in die Eier für jeden Romantiker.

Dann zäumte ich das Pferd von der anderen Seite auf und betrachtete den Werdegang meiner Oma. Sie hatte das genaue Gegenteil getan. Sie hatte sich gegen ein Festhalten an Vergil entschieden. Stattdessen lebte sie ein Leben, wie es den Vorstellungen der Gesellschaft entsprach. Sie heiratete bald, bekam Kinder und ehe sie sich versah, hatte sie sie aufgezogen. Sie hatte zumindest die Frucht ihres Leibes als persönliches Vermächtnis. Vergil hatte gar nichts. 

Trotzdem: Wie sie reagierte, als sie von seinen Briefen erfuhr! Freudig wie ein kleines Kind! Und die Anstrengungen, die sie ungeachtet ihres fortgeschrittenen Alters unternahm, um den Kontakt zu ihrer großen Liebe wiederherzustellen!

Ihre Begeisterung warf für mich die Frage auf, ob sie ihr Leben ungeachtet ihres Familienglücks vielleicht ebenfalls verwirkt hatte. Verwirkt in dem Sinne, dass sie nicht getan hatte, was sie eigentlich nach ihrem freien Willen tun wollte, nämlich Vergil nach Kanada folgen und ihn heiraten. Ob somit sowohl sie als auch Vergil zwar ironischerweise verschiedene, aber in ihren Konsequenzen dennoch gleichermaßen falsche Entscheidungen getroffen hatten, die ihr gesamtes weiteres Leben bestimmten. Weil sie dazu bestimmt gewesen wären, zusammen zu sein. 

Ich gelangte zu einer alles-oder-nichts-Schlussfolgerung. Ist die Liebe schuld daran, dass beide ihr Leben nicht frei und zugunsten ihrer Selbst ausgelebt haben? Oder hätte allein die Liebe ihnen das ihnen bestimmte Leben schenken können?

Vielleicht waren sie auch gar nicht dazu bestimmt, zusammen zu sein. Vielleicht waren sie lediglich dazu bestimmt, sich zu lieben. Denn was wäre mit mir, wenn meine Oma sich für Vergil entschieden hätte? Wäre ich Kanadier? Würde es mich überhaupt geben? Wahrscheinlich nicht.  

So gesehen musste ich meiner Urgroßmutter wohl dankbar sein, dass sie diese Briefe versteckt hat.