Von Karl Kieser

„Was? Sag, dass das nicht wahr ist. Du willst mich doch nur erschrecken.“

Tim starrt seinen Freund Ali mit einer Mischung aus Unglauben und Entsetzen an. Und natürlich erinnert er sich sofort an die anderen Gelegenheiten, bei denen er Ali von Fehlentscheidungen hatte abhalten müssen.

Die beiden kennen sich seit dem ersten Schultag, als sie zufällig als Sitznachbarn in derselben Schulbank landeten. Ali war schon damals ein sehr robuster Typ. Tim dagegen schmächtig, eher vom Typ Bücherwurm und musste schon eine Brille tragen. 

Erstaunlicherweise kamen die beiden Jungen gut miteinander aus und waren bald unzertrennlich. Ihre Freundschaft hatte selbst die schulische Trennung überdauert, denn Tim war nach der 4.Klasse aufs Gymnasium gewechselt.
Natürlich hatten sich über die Jahre unterschiedliche Interessen bei den Jungen entwickelt und auch durch die Pubertät wurden neue Lieben erschlossen. Ihre Freundschaft, die auf ein tief verwurzeltes Vertrauen zueinander beruht, wurde davon nicht berührt.

Was Ali ihm nun aber zögernd mitgeteilt hat, will Tim einfach nicht glauben. Ali hat einen bitteren Zug um den Mund, als er nun leise antwortet.

„Glaube mir, ich habe lange darüber nachgedacht. Ich muss meinem Leben eine neue Perspektive geben.“

Tim kennt seinen Freund lange genug. Er weiß, dass er es ernst meint. Er fühlt schon die beginnende Panik in sich aufsteigen. Innerlich ruft er sich zur Ordnung: reiß dich zusammen, du musst ihn davon abbringen.

„Was redest du denn da. Wieso brauchst du eine neue Perspektive? Das ist doch Schwachsinn! Du bist doch überhaupt nicht religiös.“

Beide Jungen sind nun 18 Jahre alt. Tim hat gerade sein Abitur geschafft und bereitet sich auf sein erstes Studienjahr vor. Ali hat seine Lehre als Automechaniker abgeschlossen und verdient schon gutes Geld. Er wirkt älter und würde auch für Anfang bis Mitte 20 durchgehen.
Seine Eltern hatten die Türkei verlassen in der Erkenntnis, in ihrem damaligen Umfeld nicht glücklich werden zu können. Alis Vater ist Christ, seine Mutter Muslima. Die Familien von beiden Seiten lehnten die Verbindung ab und tyrannisierten das junge Paar.
Beide legten keinen Wert auf ein religiöses Leben. Sie waren sich sicher, dass ihre Liebe alle trennenden Traditionen überwinden würden. Im liberalen Deutschland erhofften sie für sich ein freies, selbstbestimmtes Leben. 

Alis Vater hatte als Zahnarzt in seiner kleinen Praxis gut verdient. In Deutschland wird seine Ausbildung nicht anerkannt. Hier muss er sich mit Hilfsarbeiten in einem Dentallabor durchschlagen. Das finanzielle Polster ist bald aufgezehrt. Sie müssen eine billige Wohnung in einem heruntergekommenen Viertel mit hohem Ausländeranteil  akzeptieren. Der gesellschaftliche Abstieg beginnt.

Die überwiegend türkischstämmigen Nachbarn in ihrem neuen Viertel lassen es vor allem Alis Vater spüren, wie ungeheuerlich die Anmaßung ist, als Christ eine Muslima zu heiraten. Für ihn wird das Leben immer unerträglicher. Seine Frau dagegen gerät immer mehr unter den Einfluss der Nachbarn. Es bricht ihm das Herz, als er erleben muss, wie aus seiner schönen, modern gekleideten Frau ein Wesen wird, das nur noch in Sackkleidern und Kopftuch herumläuft. Die Entfremdung des Ehepaares ist irgendwann unumkehrbar.

Ali leidet unter den zerrütteten Familienverhältnissen. Er will raus aus diesem Milieu. Er wirkt deprimiert, als er nun mit leiser Stimme antwortet:

„Das stimmt. Du weißt ja, dass wir in der Familie mit Religion nichts am Hut hatten. Offiziell bin ich weder Christ noch Moslem. Aber der Druck aus meiner Umgebung wird immer schlimmer.
Das ging schon bei der Suche nach einer Lehrstelle los. Die deutschen Betriebe in der Umgebung haben alle abgewinkt. Mit Glück bin ich beim Autohaus Ützman gelandet. Dafür bin ich immer noch dankbar.“

Tims Bestürzung nimmt zu. Wenn Ali in dieser Stimmung ist, dann hat er sich schon in eine Überzeugung verbissen. Es wird schwer sein, ihn von seinem Vorhaben abzubringen.

„Du hast eine gute Ausbildung, verdienst gut, bist ein gutaussehender, gesunder Kerl. Was um alles in der Welt hat dich auf diese Idee gebracht?“

Ali sitzt ihm mit hängenden Schultern gegenüber. Er starrt vor sich auf den Boden. Seine Stimme ist immer noch leise.

„Du kannst Dir nicht vorstellen, wie meine Eltern miteinander umgehen. Sie reden nicht mehr. Mein Vater  traut sich nur noch zur Arbeit aus dem Haus. Die Nachbarn behandeln ihn respektlos. Einmal ist er sogar verprügelt worden, weil er es gewagt hat, als Christ eine Muslima zu heiraten.“

„Das ist ja schrecklich. Hast du denn versucht, mit deinen Eltern zu reden? Wenn du von deinem Verdienst etwas beisteuerst müsste es doch reichen, in eine andere Gegend zu ziehen?“

Ali sieht ihm nun direkt in die Augen. Tim kann sehen, dass er um seine Fassung kämpft.

„Ich habe es versucht. Meine Mutter will nicht weg. Sie geht jetzt in die Moschee und erwartet das auch von mir.“

„Und Dein Vater, was sagt dein Vater dazu?“

Ali hat jetzt Tränen in den Augen, Tränen der Wut. Auch seine Stimme wird lauter. Steigert sich allmählich in einen grimmigen Zorn, als es nun aus ihm herausbricht.

„Der sagt ich muss selbst entscheiden, wie mein Leben sein soll. Er kommt nur noch zum Schlafen nach Hause. Der hat sich und seine Familie aufgegeben. Für mich hat er nicht einmal einen vernünftigen Rat. Ich verachte ihn.
Seit Monaten will ich weg, versuche eine eigene Bleibe zu finden. In einem anderem Viertel. Wenn ich mich vorstelle, ist die Wohnung immer schon vergeben. So ist es auch am Telefon, spätestens wenn ich meinen Namen nenne oder meine bisherige Wohnadresse. Die Deutschen wollen mich nicht. Und die Türken auch nicht.
Drei Freundinnen aus unserem Viertel haben mit mir Schluss gemacht. Nicht weil sie mich nicht mehr wollten, sondern weil ihre Familien mich wegen meiner Herkunft ablehnen. Keine will mehr mit mir zu tun haben.
Ich habe die Schnauze voll. Ich werde es allen zeigen!“

Ali hat sich bei den letzten Sätzen aufgerichtet. Seine Augen sind voll Zorn und unterdrücktem Leid. Tim weiß, wie die latent vorhandene Ablehnung gegen Fremde auf Ali wirkt. Das war schon in der Schule so. Seine Freundschaft und sein Einfluss haben oft genug helfen müssen, Ali mit seinem überschießenden Temperament vor unbedachten Aktionen zu bewahren.
Sein aktuelles Vorhaben geht aber weit darüber hinaus. In plötzlicher Klarheit wird es Tim bewusst: das wird Ali zerstören. Er ist doch überhaupt nicht der Typ für so etwas. Er ist jetzt nur verletzt und weiß nicht, wie er aus dieser bedrückenden Situation herauskommen soll. Mit seinem explosiven Wesen neigt er nun mal zu einer brachialen Lösung.
Tim weiß, dass er vorsichtig sein muss, wenn er seinen Freund überzeugen will.

„O.k. ich habe verstanden, dass du sauer bist. Ich kann auch nachempfinden, dass du am liebsten um dich schlagen würdest. Aber beim IS mitzumachen ist doch eine Schnapsidee. Mit so einem Weltbild hast du doch überhaupt nichts zu tun.“

„Das ist mir scheißegal. Da bin ich wenigstens in einer Gemeinschaft, die mich akzeptiert. Und wenn ich zurückkomme, wird auch dieses Lumpenpack von Nachbarn den Hut vor mir ziehen.“

Tim ahnt, dass Ali in seiner jetzigen Stimmung für eine kühle Abwägung von Argumenten nicht zugänglich ist. Es muss schon viel an Abweisung und Demütigung auf ihn niedergegangen sein. Jetzt hat er wohl das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen und sehnt sich nach einem Befreiungsschlag.

„Ali, ich bitte dich. Denk nach! Die Ziele des IS haben doch mit dir nichts zu tun. Das sind Fanatiker, die sich einen Staat wünschen, der sein Volk zurück ins Mittelalter bringt. Du weißt doch sicher von den grausamen Methoden. Willst du dich daran beteiligen?“

„Das ist doch Quatsch. Natürlich sind in einem Krieg auch Bestrafungen nötig. Das ist doch hier auch so. Im Fernsehen werden uns nur die Gräueltaten gezeigt. Bilder, die sich nicht nachprüfen lassen. Alles Propaganda.“

Tim fühlt, wie ihm der Zugang zu seinem Freund entgleitet. Verzweifelt versucht er zu ihm durchzudringen.

„Mag sein. Trotzdem ist das eine Terrortruppe, die international bekämpft wird. Das kann nicht gut gehen.
Du hast gute Voraussetzungen für ein zufriedenes Leben. Vielleicht brauchst du wirklich nur einen Neuanfang in einer anderen Umgebung. Lass dir doch von mir bei der Wohnungssuche helfen. Die Menschen haben nun mal Vorurteile. Wenn sie dich näher kennen würden, wäre alles kein Problem.“

Ali hat sich zu seiner vollen Größe aufgerichtet. Er wirkt abweisend, als er nun antwortet.

„Nein, ich will mich nicht hinter dir verstecken. Wer mich nicht so nimmt wie ich bin, mit dem will ich auch nichts zu tun haben.“

Tim muss sich eingestehen, dass seine Argumente den Freund nicht überzeugen konnten. Das wird ganz deutlich, als Ali nun im Weggehen anfügt:

„Es war ein Fehler, dir von meinen Plänen zu erzählen. Ich kann nur hoffen, dass Du mich nicht verrätst.“

Tim fühlt sich hilflos. Entmutigt ruft er ihm nach:

„Du weißt, dass ich dein Freund bin. Ich will dir bestimmt nicht schaden. Ich bitte Dich inständig, denk noch einmal darüber nach.“

Ratlos fragt er sich, ob er jemanden über Alis Plan informieren müsste. Dieser Verrat würde ihrer Freundschaft sicher schaden. Aber könnte das Ali wirklich dauerhaft von seinem verhängnisvollen Vorhaben abhalten?
Tim entscheidet sich dafür, zunächst gute Argumente zu sammeln und morgen nochmal ein Gespräch zu suchen.

Am nächsten Tag ist Ali nicht aufzufinden. Er meldet sich auch nicht auf seinem Handy. Ali ist weg.
Niemand aus seinem Umfeld kann sich das erklären.
Tim ist deprimiert. Niemals hätte er damit gerechnet, dass Ali sich in seiner Verbitterung so schnell von seinem bisherigen Leben und auch von ihm selbst abwenden würde.

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