Bernd Kleber

Berlin West, September 1989

»Du musst los … raus da, nichts ist sicher und niemand weiß, was als Nächstes passiert, also schnapp dir dein Kind und verschwinde, alles andere ist nur Spekulation. Das ist das, was ich sagen würde. Es wird nie Ruhe geben. Keine Freiheit!« Er keuchte in den Hörer und spürte, wie das Kondensat seines Atems ihm das Kinn nässte. Es knackte wieder in der Leitung… »Ich denke, die hören mit, also hau ab da…«, dann brach die Leitung zusammen, es war nur noch ein: „tut, tut, tut … “ zu vernehmen.

»Scheiße! «, rief er und schlug mit der flachen Hand gegen den Telefonkasten. Er öffnete die Tür der Zelle und atmete frische Luft, dann sah er erneut in das kopfschüttelnde Gesicht der alten Dame, deren Arm zuckte, weil der kleine weiße Hund an der Leine zerrte, die um ihr Handgelenk gewickelt war. »Andere haben auch wichtige Telefonate zu führen, junger Mann! «, sagte sie und klopfte mit ihrem Schirm gegen das Schild: Fasse Dich kurz! Michael wischte sich eine Träne ab und ging wortlos in das matte Licht der Gaslaternen.

Berlin Ost, September 1989

Susanne rief noch einige Male: »Hallo, Micha, hallo…«, dann legte sie den Hörer auf. Sie lief im Zimmer auf und ab. Sie strich sich immer wieder eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ihr Blick hastete durch den Raum, hinüber zum Fenster. Wenn sie näher an die Scheibe trat, konnte sie den Wachturm sehen. In der Stube war kein Licht eingeschaltet, so stand sie da und beobachtete, wie der Wachmann mit dem Fernglas in den Todesstreifen spähte.

Ruckartig drehte Susanne sich um und ging an den Schrank. Sie griff nach einem Koffer und begann zu packen.

Am Morgen weckte sie sanft ihre Tochter: »Komm, steh auf, meine Süße, wir verreisen heute. «

Das Kind rieb sich die Augen: »Heute? Es sind ja gar keine Ferien und wir haben Sport. Ich habe doch den Turnbeutel gepackt. « »Planänderung, wir verreisen und treffen Onkel Micha. « »Au ja, super«, das Mädchen sprang aus dem Bett. »Was soll ich anziehen? « »Erst Zähneputzen. Ab ins Bad.« Als Susanne das wahrscheinlich letzte Mal durch die Wohnung lief, seufzte sie. Auf dem Wachturm gegenüber standen zwei Bewaffnete und rauchten. Das Kind war fertig, der Koffer verschlossen. Sie standen im Flur. Die Kleine fragte: »Darf ich Max mitnehmen? « Die Mutter hockte sich nieder: »Du hast doch schon Lisa, lass Max schlafen. Wir kaufen dir einen neuen Teddy. « Susanne erhob sich, öffnete die schwere Wohnungstür, die kurz danach krachend ins Schloss fiel. Man hörte im Hausflur nur noch das leise Trappeln die Treppe hinunter.

Berlin West, mit offenen Grenzen, Dezember 1989

Michael saß an dem kleinen quadratischen Tisch, vier Stühle, drei unbesetzt. Eine Vase in der Mitte des Tisches mit einer Gerbera. Daneben hatte er den Kuchen bereitgestellt. Abgerührter! So nannte seine Mutter den. Er blickte in den Hof und wartete. Da kam sie, leicht gebückt mit einem Schirm, lief sie eiligen Schrittes durch den weißen Belag aus Schnee. Er ging zur Tür, die er voller Erwartung öffnete. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, liebe Mutti!«, rief er, als sie den Flur betrat. »Ja, ja, mein Großer. Geh rein, ist kalt hier. «

Sie hatten am Tisch Platz genommen, Kaffeeduft und Vanillearoma schwebten wie eine kleine Wolke im Raum. Mutter und Sohn sahen sich an.

»Ich verstehe dich nicht, warum musstest du deine Schwester überreden, mit dem Kind loszuziehen. Das war doch total egoistisch von dir. Sie hatte eine schöne Wohnung, das Kind war gerade eingeschult und nun sitzt sie da drüben in Westdeutschland schon mehrere Monate in einem Altenheim fest, kann nicht zurück nach Berlin wegen dieser Berlinsperre.«

Michael atmete tief ein und aus. Mit schwerer Stimme erklärte er:

»Ich war bei der Stahmer, Bürgersprechstunde bei der Sozialsenatorin nennt sich das, und habe gebeten, eine Sondergenehmigung zu erhalten, weil Susanne ja in Berlin geboren sind, aber sie meinte, es gäbe keine Ausnahmen. Niemand kommt rein nach Berlin und Bad Pyrmont, wo meine Schwester jetzt lebe sei ja auch sehr schön. «

Seine Mutter weinte. »Was sind das nur für Zeiten? Ganze Familien auseinandergerissen, obwohl wir alle in einem Land leben. Und ich muss an meinem Geburtstag in ein Flüchtlingsheim nach Westberlin fahren, statt Zuhause mit allen meinen Kindern zu feiern « Micha sah seine Mutter an. Einerseits verspürte er eine Freude, seine Mama nach zwei Jahren wiederzusehen, andererseits das schlechte Gewissen, seine Schwester mit ihrem Kind durch das aufplatzende Europa gehetzt zu haben. Er kaute seine Unterlippe. Er sah in den Hof, sein Blick folgte den fallenden Flocken und er schwieg.

Wie die Abbilder eines zerkratzten Zelluloidstreifens zigfach wiederholter Projektion kamen ihm die Erinnerungen.

Ja, alles hatte anders sein sollen. Aber es ahnte doch wirklich niemand, wie die DDR-Regierung als Nächstes reagieren würde. Und ja, er hatte Sehnsucht nach seiner Schwester und seiner Nichte, war allein in Westberlin, kannte niemanden in der fremden Welt. Wenn die Ostregierung den Staat mit Waffengewalt abgeriegelt hätte, wäre er auf Jahrzehnte einsam und allein in Westberlin ohne Verwandte. Er war 1987 geflohen, spontan hatte er seiner Heimat den Rücken gekehrt. Und war nach kurzer Zeit vor Heimweh und Sehnsucht nach seinen Verwandten ziellos und traurig. Er hatte diese idiotische Idee gehabt, mit einem Luftballon an die Mauer zu gehen. Auf der anderen Seite der Mauer durch dieses Land, auf dem Balkon, standen sie: Mutter, Schwester, Freunde, und winkten zaghaft. Er hatte den Ballon an einen Baum gebunden und geweint. Die Grenzer auf dem Turm hatten beide Seiten der Straße mit Feldstechern im Blick. Wie mit einer wulstigen schmerzhaften Narbe trennten sich hier zwei Systeme, die nach dem Weltkrieg entstanden waren. Blöde Idee, sich selbst so zu quälen, er war zwanzig Meter von geliebten Menschen entfernt und für wahrscheinlich Jahrzehnte von ihnen getrennt.

Darum hatte er seine Schwester überredet, die Prager Botschaft der Deutschen zu nutzen, um nach Westdeutschland zu fliehen. Von dort sollte sie nach Westberlin einreisen. Niemand konnte ahnen, wenn Susanne und ihre Tochter in Bayern ankämen, dass sie auf dem Bahnsteig mit einer Feier zum Mauerfall empfangen werden würden. So absurd. Das glaubt einem später kein Mensch, wenn man erzählt, ´als ich im Westen ankam, waren in der Nacht die Grenzen zwischen beiden deutschen Staaten friedlich gefallen´.

West-Berlin war ab diesem Zeitpunkt überrannt worden, alle Turnhallen, alle Unterkünfte zum Bersten belegt. Einreisesperre für Flüchtlinge aus anderen Bundesländern. Die Sozialsenatorin war hart, als sie seine Bitte ablehnte, auch als er sagte, dass seine Mutti alt und krank sei. Nun saß er hier, zum Geburtstag seiner Mutter wie auf einer Beerdigung. Was für eine Zeit. Beerdigte Träume, Hoffnungen, Wünsche. Er sah wieder in die dichten Flocken. Die Kälte kroch um das Haus wie ein Dieb. Ein Dieb, der menschliche Nähe stahl und Herzen frieren ließ. Nur der Wind und das Klappern der Kaffeetassen verhinderten Todesruhe.

Unten kreischte ein Kind. Dann betrat eine junge Frau den weißen Hof, die stehen blieb und sich suchend umsah. Sie war es! Wirklich? Träumte er? Langsam erhob er sich und öffnete das Fenster. Flocken stoben in das Zimmer. Seine Mutter rief: »Micha! « Er rief in den Hof: »Susanne, hier, Aufgang B, erste Etage, das gibt es ja nicht! « Er rannte an seiner Mutter vorbei, die aufgestanden war, öffnete die Wohnungstür und ihm stürzte seine Nichte in die Arme. »Onkel Micha, Onkel Micha, wir durften mit einem Propellerflugzeug fliegen …«

Die Mutter hatte rote Augen, Micha strahlte wie ein Jackpot-Gewinner. Susanne hatte erzählt, dass ein Sozialarbeiter sie unterrichtet hätte, sie sollten ohne Aufheben ihre wichtigsten Sachen zusammen packen, in sechs Stunden würden sie mit einem Sonderflug von Hannover nach Berlin fliegen, ihre Chance, wenn sie wollten. Und sie waren zum Schweigen verpflichtet worden. Es war irgendwie wie eine zweite geheime Flucht.

Berlin, Hauptstadt der BRD, September 2019

Micha dachte kurz an September 1989, während er auf das Flüchtlingsheim blickte, in dem er vor dreißig Jahren für einige Monate gelebt hatte. Jetzt warf er den Stein. Er hörte seine Kameraden etwas brüllen, „Dieses Land gehört uns!“, und dann krachten auch ihre Steine gegen Haus und Fensterscheiben.

Version 3