Von Renate Müller

“Ben Bürster. Postfach 007, bitte”, bat er den Beamten hinter dem Schalterfenster.   

Ben hatte extra eine Tasche dabei, um die viele Post tragen zu können, die er erwartete. Zuschriften auf seine Anzeige in der Zeitung vom letzten Samstag. 

“Suche Frau fürs Leben” war der Titel seiner Anzeige gewesen. Ein guter Titel, fand Ben, so ungewöhnlich und kreativ. Er erwartete viele Briefe. Er hatte sich in der Annonce ganz ehrlich und ganz bescheiden beschrieben, als munter, unkompliziert, sanftmütig, gutaussehend, ehrlich und unabhängig. 

Ben wusste selbst, dass diese Art, Frauen kennenzulernen, altmodisch war. Sein Kollege Hans hatte ihn ausgelacht, als er ihn um Rat fragte. Doch jetzt, mit Anfang 40, wollte er endlich eine Frau kennenlernen. Andere Möglichkeiten, Frauen zu treffen, waren ihm einfach nicht eingefallen. 

“Hier ist Ihre Post.” Der Beamte hielt ihm seine Briefe entgegen. “Zeigen Sie aber erstmal Ihren Ausweis.” 

Ben traute seinen Augen nicht. Nur zwei Umschläge hielt der Mann in der Hand.

“Wo sind die anderen?”

“Welche anderen? Da ist nicht mehr. Der Nächste bitte.”

Ben schnupperte. Der eine Umschlag duftete nach Blumen. Bestimmt Rosen, dachte Ben, der von Blumen keine Ahnung hatte. Der andere Umschlag roch, ja tatsächlich, der roch nach Benzin. Mühsam bezwang Ben seine Neugier, bis er zu Hause in seinem Zimmer war und die Zimmertür abgeschlossen hatte. Er musste ungestört sein beim Lesen. 

Vorsichtig öffnete Ben den ersten Umschlag, den mit dem Blumenduft.

“Hallo,

das Blumenorakel hat bestimmt, dass ich Dir schreibe. Ich bin Floristin und eine farbenfrohe Menschin. Ich habe leuchtendgelbe Haare, blaue Augen, rote Lippen und trage fast immer grüne Kleider. Dabei bin ich ziemlich gerade gewachsen und voll erblüht. Und ich habe keine Dornen.

Kennst du Deine Lebensblume? Meine ist der Klee, Du weißt schon, die kleine lilablühende Blume im Gras. Ich könnte Dein Glücksklee sein. Du musst mich nur finden und pflücken.

Deine Iris”

Ben holte tief Luft und las den ganzen Brief ein zweites Mal. Die klang nett. Aber nicht vorschnell entscheiden, erst den zweiten Brief lesen. Doch …

“Essen ist fertig. Komm zu Tisch, Junge.”

“Ja, Mutter, ich komme gleich.”

“Nicht gleich, Junge, sofort. Es wird doch alles kalt.”

“Ja, Mutter.”

Ben nahm den zweiten Brief, den der nach Benzin roch, und begann zu lesen:

“Hallo. 

Ich schreibe auf Ihre Anzeige, weil ich mir wünsche, dass endlich auf dem Beifahrersitz jemand neben mir sitzt. Ich leite eine Taxizentrale und manchmal, wenn ich es allein im Haus nicht mehr aushalte, fahre ich auch schon mal selbst wieder ein paar Touren.

Mein Bruder sagt, ich sei wie ein gut erhaltener Mittelklasse-Gebrauchtwagen auf der Suche nach einem freien Parkplatz. Ich habe einen kleinen Wendekreis, ein passables Profil und keine Kratzer im Lack. Ich bin gut gefedert, weich gepolstert und ich tanke nur Premiumkraftstoff.

Wenn also in Ihrer Garage noch ein Platz frei ist für mich, könnte ich es ja mal mit Einparken versuchen. 

Ihre Clio ”

Ben roch noch einmal an dem Brief und fand den Geruch nicht unangenehm. Er wollte auch diesen Brief ein weiteres Mal lesen. Aber er kam nicht dazu.

“Junge, wo bleibst du denn? Immer lässt du mich warten.”

“Ja, Mutter.”

Er würde beim Essen über die beiden Briefe nachdenken und dann die Entscheidung treffen. Welcher der beiden Frauen sollte er antworten?

 

Eine Woche später betrat Ben das Café von Tante Käthe. Hier hatte sich Clio mit ihm verabredet. Sie hatte eigentlich ein Autokino als Treffpunkt vorgeschlagen, doch Ben flößte so viel einsame Zweisamkeit beim ersten Treffen Angst ein und so hatten sie sich auf die Öffentlichkeit eines kleinen Cafés geeinigt. 

Als er sich umblickte, fiel ihm siedendheiß ein, dass sie kein Erkennungszeichen verabredet hatten. Wie sollte er Clio nun unter all den Frauen hier herausfinden? 

Von einem Tisch in der hinteren Ecke winkte ihm eine Frau lebhaft zu. Meinte sie ihn? War das Clio? Weich gepolstert war sie, keine Frage. Aber auch ziemlich hoch getunt, fand Ben. Die Frau an dem Tisch hatte knallrot geschminkte Lippen, dunkel umrandete Augen und lila Strähnen im Haar. Das Tuning übertünchte aber nicht ihr Alter, dachte Ben. Dann fiel ihm ein, dass Clio im Brief gar kein Alter erwähnt hatte. 

Vorsichtig pirschte sich Ben an ihren Tisch heran, da tippt ihm jemand von hinten auf die Schulter. 

„Hi, sind Sie Ben?“ Ben drehte sich so schnell um, dass er ins Schwanken geriet und sich an einem der Tische festhalten musste.

„Entschuldigung“, stammelte Ben und griff nach dem Arm der Frau, die ihm auf die Schulter getippt hatte.

„Entschuldigung“, wiederholte er, als wäre jedes andere Wort aus seinem Sprachschatz gelöscht.

Dann drückte sein Hirn die Reset-Taste und startete das Sprachprogramm neu.

„Ich bin Ben und ich freue mich, dass Sie da sind.“ Gott sei Dank war ihm der Satz, den er extra zur Begrüßung eingeübt hatte, wieder eingefallen.

„Und was war das gerade?“ Clio klang eindeutig angerempelt. „Diese hochgetunte Rostlaube, bei der ist doch längst der TÜV abgelaufen. Für die kriegt man nicht mal mehr eine Abwrackprämie.“ Clio redete sich in Rage und schüttelte ihre lackschwarze Mähne. 

Ben schrumpfte auf Ameisengröße:“ Äh, das war doch ein Irrtum, eine Verwechslung.“

„Wie, du hast mich mit der da verwechselt?“ Vor Zorn wechselte Clio vom Sie zum Du.

„Ja. Nein, natürlich. Sie hat doch mich verwechselt. Sicher hat sie das, sehe ich aus, als würde so eine etwas von mir wollen?“

Clio bremste sich und ließ ihren Blick über Ben wandern. 

„Nein,“ antwortete sie, „aber ich möchte dich kennenlernen, irrtümlicher Ben. Lass uns doch zu dir nach Hause fahren und sehen, ob es mit dem Einparken klappt.“ 

„Oh, äh, ja, obwohl, vielleicht besser nicht.“

Ben war gar nicht wohl in seiner Haut. Clio einfach mit nach Hause nehmen? Ohne seine Mutter um Erlaubnis zu fragen? Nein, so wagemutig war er nicht. Er würde sie anrufen, am Telefon musste er dabei ihr Gesicht nicht sehen. 

Als Clio zur Toilette ging, nutzte er die Gelegenheit und rief zu Hause an. 

„Junge, ist dir was passiert?“ fragte seine Mutter, als sie beim ersten Klingeln an den Apparat ging, „Geht es dir gut?“

„Ja, Mutter. Nein, Mutter, mir ist nichts passiert. Wie kommst du denn darauf?“

„Es ist schon nach 19 Uhr und dunkel draußen. Und du bist noch nicht zu Hause.“

„Mutter, ich komme gleich nach Hause. Mach dir keine Sorgen.“ Und bevor sie ihn unterbrechen konnte, fuhr er fort: „Ich meine, wir kommen gleich. Clio und ich.“

Zu seiner Überraschung antwortete seine Mutter: „Das ist aber nett, mein Junge. Mach das nur und bring deinen Freund mit. Ich richte euch eine Limonade und stelle Kekse hin.“

Ben öffnete und schloss mehrmals seinen Mund, doch ihm fiel ums Leben keine Antwort ein. 

Seine Mutter sprach schon weiter: „Von den Weihnachtsplätzchen sind noch welche da. Ich hol sie gleich vom Schrank. Bis du da bist, Junge, ist alles fertig“, sagte sie und legte auf.

 „Alles gut“, sagte Ben, als Clio zurückkam.

„Na dann los.“ Clio nahm seine Hand, zog ihn zum Wagen und keine zehn Minuten später standen sie vor seinem Haus. 

Fast nochmal so lange dauerte es, bis Ben seinen Hausschlüssel gefunden, aus der Hosentasche gewunden und mit seinen zitternden Händen im Schloss gedreht hatte. Leise öffnete er die Haustür.

„Junge, bist du das?“

Ben und Clio folgten der Stimme ins Wohnzimmer. Dort stand Bens Mutter auf einer wackeligen, schiefen Holzleiter. 

„Dass du endlich kommst, Junge. So spät.“ Sie streckte die Arme aus, als wollte sie ihn an ihre Brust drücken. Ganz so als käme er von einer mehrjährigen Weltumseglung nach Hause. Auf halber Strecke jedoch entdeckte sie Clio.

Es krachte, rumpelte und polterte. Jemand schrie. Es gab ein paar heftige Schläge. Und dann lag Bens Mutter vor seinen Füßen.

Sie machte keinen Mucks. In ihrer Hand hielt sie eine Blechdose, aus der bei ihrem Sturz Vanillekipferln, Zimtsterne und Pfeffernüsse gefallen waren.

Ben stand zur Skulptur gefroren und schaute auf den reglosen Körper vor ihm. Clio packte seine Mutter am Handgelenk. Suchte den Puls. Fand nichts. Sie blickte Ben mitleidig an: „Deine Mutter ist von uns gegangen.“

Ben war erschüttert. Seine Mutter hatte ihn verlassen. Einfach so. 

Aber er war ja gar nicht allein. Clio war doch da. Welch ein Glück er hatte. 

Clio packte auch tatkräftig zu. Sie wies Ben an, seine Mutter anzuheben: „Wir legen sie aufs Sofa. Ist doch pietätlos, sie hier auf der Erde liegen zu lassen.“ 

„Ja. Aber…  Ein Arzt…?“ Ben blickte Clio hilfesuchend an.

„Ein Arzt kann ihr nicht mehr helfen. Aber du hast Recht, den Totenschein muss ein Arzt ausstellen.“

Clio ergriff die Initiative. Ohne viel Federlesen organisierte sie einen Arzt, rief ein Bestattungsunternehmen, besprach die Einzelheiten der Beerdigung und hielt dabei Bens Hand. 

„Ich kümmere mich, du musst dich um nichts sorgen“, sagte sie und streichelte seine Wange. „Du bist in Trauer, du Lieber. Verlass dich nur ganz auf mich.“

Das tat Ben. Gerne. Er überließ es Clio, alles Nötige zu regeln. 

 

Und ehe er sich versah, arrangierte sie auch ihre Hochzeit. Zwei Monate nach der Beerdigung seiner Mutter stand er neben Clio vor dem Altar. 

„Ja, ich will,“ war das einzige, was er zu sagen brauchte. 

Clio zog zu ihm in das Haus, das er von seiner Mutter geerbt hatte. Die nächsten Wochen und Monate sorgte Clio liebevoll und energisch für Bens Wohlbefinden. Inklusive der Umgestaltung der Wohnräume: „Das kann doch weg, oder, Lieber? Das bereitet dir doch nur Kummer, wenn es dich täglich an deine liebe Mutter erinnert.“

Ben nickte. Er hatte ja sein Zimmer, wohin er sich jeden Abend, wenn er von der Arbeit nach Hause kam, zurückzog. 

Und darauf wartete, dass Clio ihn zum Abendessen rief: “Essen ist fertig. Komm zu Tisch!“

„Gleich, ich komme gleich.“ Ben war auf der Suche. Er suchte den zweiten Brief, den Brief von Iris, auf den er damals nicht geantwortet hatte.

“Nicht gleich, Junge, sofort. Es wird doch alles kalt.”

“Ja Mu…  äh Clio.”