Von Winfried Dittrich

„Herr Meier, wir müssen Ihnen eine dreimonatige Sperre aussprechen. Das ist bei einer fristlosen Kündigung durch den Arbeitgeber so. Sie sind selbst Schuld an Ihrer Misere. Ich habe hier das Kündigungsschreiben der ‚Meine Matratzenwelt GmbH‘ vorliegen“, bemerkte der Arbeitsvermittler und rollte mit seinem Bürostuhl zur Seite. Er verschwand hinter dem großen Bildschirm, auf dessen Rückseite das große Logo der Arbeitsagentur mit dem stilisierten „A“ prangte. 

„Herr Meier, ich drucke Ihnen den amtlichen Bescheid jetzt direkt aus, dann können sie ihn gleich mitnehmen und wir können uns die Post sparen. Sie haben natürlich die Möglichkeit, Rechtsmittel dagegen einzulegen. Das ist am Ende auf der letzten Seite erläutert. Wir sehen uns dann in drei Monaten wieder, sofern Sie nicht eine neue Arbeit gefunden haben.“

„Das ist dann wohl die nächste ‚A-Karte‘ für mich. Wollen Sie überhaupt nicht wissen, was passiert ist?“, fragte Herr Meier. „Ich will eine Kündigungsschutzklage einreichen und mich gegen die Kündigung wehren. Das war alles eine Verkettung unglücklicher Umstände, nicht mehr! Mein ehemaliger Chef ist ein Choleriker. Er hat eine ziemlich große Sache daraus gemacht.“

„Und wie begründen Sie die Klage?“, fragte der Arbeitsvermittler.

„Manchmal trifft man im Leben eine falsche Entscheidung. Manchmal auch mehrere“, begann Herr Meier zu erzählen.

„Ach ja?“, unterbrach der Arbeitsvermittler. „Welche falsche Entscheidung haben Sie denn getroffen?“

„Ich habe das Firmenauto auf der falschen Straßenseite geparkt“, erklärte Herr Meier.

„Also im Halteverbot?“, fragte der Arbeitsvermittler.

„Nein. Da waren ausgewiesene Parkplätze auf dem Bürgersteig. Aber ich habe nicht die Fußgängerampel ein paar Meter weiter benutzt, sondern bin direkt über die Straße gegangen“, erklärte Herr Meier.

„Und dabei sind Sie von der Polizei erwischt worden“, ergänzte der Arbeitsvermittler.

„Nein. Ich habe einfach die Straße überquert und bin über die Bordsteinkante gestolpert“, erklärte Herr Meier.

„Und sind dann gestürzt?“, fragte der Arbeitsvermittler. 

„Nein. Ich trug eine schwere Kiste mit einer Nähmaschine, die ich abgeholt hatte. Ich kam ins Wanken, beugte mich schnell nach vorne und stütze mich auf der Kiste ab, die dabei auf den Bürgersteig prallte“, erklärte Herr Meier. 

„Und die Nähmaschine wurde dabei beschädigt“, ergänzte der Arbeitsvermittler.

„Nein. Nur die Kiste trug Schäden davon. Die Nähmaschine war darin aber so gut verpackt, dass sie unversehrt blieb“, erklärte Herr Meier. 

„Und wegen der beschädigten Kiste wurde Ihnen fristlos gekündigt?“, fragte der Arbeitsvermittler. 

„Nein. Die Kiste war nicht sehr hoch und ich beugte mich recht weit herunter, um mich auf ihr abzustützen. Dabei riss mein Hosengürtel mit einem ziemlichen Knall. Der Knall wiederum machte ungefähr dreißig Menschen an einer schräg gegenüberliegenden Bushaltestelle auf meine missliche Lage aufmerksam. In dieser Menschenmenge machte jemand ein Foto von mir und reichte es bei einem Fotogeschichtenwettbewerb der Verkehrsbetriebe ein, wo es veröffentlicht wurde. Mein Chef hat dann von dem Foto Wind bekommen“, erklärte Herr Meier. 

„Und Sie waren mit dem Firmenauto eigentlich privat dort, um Ihre Nähmaschine abzuholen. Sie haben also während der Arbeitszeit private Angelegenheiten erledigt“, ergänzte der Arbeitsvermittler. 

„Nein. Die Nähmaschine habe ich im Auftrag meines Chefs dort abgeholt. Nur hatte ich am selben Morgen Streit mit ihm darüber. Denn es war ein zusätzlicher Termin, der bei mir für Zeitdruck sorgte. Deshalb kürzte ich auch direkt über die Straße ab“, erklärte Herr Meier. 

„Und Ihr Chef nahm dann an, dass sie die Kiste aus Wut über ihn absichtlich auf den Boden warfen?“, fragte der Arbeitsvermittler. 

„Nein. Die Kiste war unwichtig. Das war nur eine Umverpackung, die die eigentliche Transportkiste der Nähmaschine umgab. Das Problem war, dass mir wegen des gerissenen Gürtels die Hose heruntergerutscht war“, erklärte Herr Meier.

„Und sie landeten dann nach vorne gebückt, in Unterhose auf dem Foto?“, fragte der Arbeitsvermittler. 

„Nein. Nicht in Unterhose. Und auf dem Foto stehe ich wieder. Sehen Sie, ich habe eine sehr starke Körperbehaarung. Und gerade am Gesäß verheddern sich meine Körperhaare seit jeher mit dem Stoff von Unterhosen. Es juckt fürchterlich und ich muss mich ständig kratzen. Das wirkt in der Öffentlichkeit befremdlich. Gerade dann, wenn ich dienstlich unterwegs bin. Ich habe in meinem Leben schon viele Unterhosen ausprobiert, es dann aber aufgegeben. Seit zehn Jahren trage ich statt Unterhosen nur noch Strings, so dass meine Pobacken frei bleiben. Mit dem Stoff der Arbeitskleidung gibt es keine Probleme“, erklärte Herr Meier. 

„Und an diesem Anblick nahm ihr Chef dann Anstoß und feuerte Sie. Ich nehme an, das Firmenauto mitsamt der Aufschrift ist auf dem Foto zu erkennen?“, fragte der Arbeitsvermittler.

„Nein. Mir ist das mit dem Hosengürtel und der Hose schon früher zweimal passiert. Einmal beim Kunden und einmal in der Firma. Mein Chef fand es da eher lustig als peinlich. Er hat mich danach auch immer wieder damit aufgezogen. Vor Kollegen oder auch vor Stammkunden, was immer für gute Stimmung sorgte. Ich habe das immer mit Humor genommen. Und der vollständige Firmenname ist nicht zu erkennen auf dem Foto. Es wirkt aber gestellt“, erklärte Herr Meier.

„Und Ihr Chef hat sich einfach daran gestört, dass das Foto gestellt wirkte?“, fragte der Arbeitsvermittler. 

„Ja. Er empfand es als persönliche Beleidigung“, erklärte Herr Meier.

„Und warum das? Ist das alles, was man auf dem Foto sehen kann?“, fragte der Arbeitsvermittler. 

„Nein. Auf dem Foto habe ich rasierte Pobacken“, erklärte Herr Meier. „Aber nicht komplett rasiert. Es ist auf jeder Seite nur ein Ausschnitt rasiert. Zwei Tage vor dem Ereignis mit der Nähmaschine verlor ich eine Wette auf einem Junggesellenabschied. Die Rasur musste ich dann über mich ergehen lassen“, erklärte Herr Meier.

„Und so eine unkonventionelle Rasur brachte Ihren Chef dann zum Rasen?“, fragte der Arbeitsvermittler. 

„Nein, eigentlich nicht. Aber meine Pobacken sind tätowiert“, erklärte Herr Meier.

„Oha“, sagte der Arbeitsvermittler, „und Ihr Chef hat etwas gegen Tattoos.“

„Nein. Er ist selbst tätowiert. Er trägt Portraits seiner beiden erwachsenen Töchter auf den Bauch. Die hatte er sich vor ein paar Jahren bei einem Freund von mir stechen lassen. Mein Freund fing damals gerade an, als Tätowierer zu arbeiten. Ich verschaffte ihm den Auftrag meines Chefs. Und da diese Portraits relativ anspruchsvoll waren, überredete mich mein Freund damals, als Versuchskaninchen zu fungieren. Damals war ich schon sehr stark übergewichtig und mein Gesäß war vom Umfang her dem Bauchumfang meines Chefs sehr ähnlich. Mein Freund kannte auch das Problem mit meiner Körperbehaarung. Der Plan war, meine Pobacken zu rasieren und als Übungsfläche zu benutzen. Mir wurden also die Portraits der Töchter meines Chefs auf die Pobacken tätowiert. Danach sind die Haare wieder darüber gewachsen und man hat nichts mehr gesehen“, erklärte Herr Meier.

„Und beim Anblick der Portraits seiner Töchter ist Ihr Chef ausgeflippt“, ergänzte der Arbeitsvermittler. 

„Nein. Er wusste darüber Bescheid. Denn auch er wollte damals kein Risiko eingehen. Ich bekam sogar eine Aufwandsentschädigung dafür, dass ich als Übungsobjekt herhielt. Allerdings wussten seine Töchter nichts von der Übungsfläche des Tätowierers“, erklärte Herr Meier.

„Und das hat Ihren Chef jetzt in Erklärungsnot gebracht“, ergänzte der Arbeitsvermittler.

„Nein. Er hat einen sehr guten Draht zu seinen Töchtern. Er hätte ihnen das erklären können. Da bin ich mir sicher. Auf dem Foto der Bürgersteigszene ist aber auch das Portrait von der Ehefrau meines Chefs zu sehen. Die hat sich kürzlich von ihm getrennt. Sie war bisher immer das Werbegesicht auf unseren Firmenautos,“ erklärte Herr Meier.

„Und die Ehefrau störte sich dann an der Aufnahme mit ihren Töchtern auf den rasierten Pobacken“, ergänzte der Arbeitsvermittler.

„Nein. Ich bin mir nicht sicher, ob sie überhaupt von dem Foto und dem Wettbewerb der Verkehrsbetriebe weiß. Das Unternehmen führt auch Oberbetten und Kissen aus Naturmaterialien. Sie ist mit einem südamerikanischen Gänsefederlieferanten durchgebrannt und gerade auf einer längeren Reise nach Feuerland unterwegs. Wir haben schon länger keinen Kontakt zu ihr“, erklärte Herr Meier.

„Aha? Ich verstehe dann aber immer noch nicht, was das Problem war“, sagte der Arbeitsvermittler mit einem Anflug von Genervtheit und Ungeduld „Was hat Ihren Chef denn nun so aus der Fassung gebracht?“

„Ich stand halt ungünstig auf dem Foto“, erklärte Herr Meier.

„Soso“, ergänzte der Arbeitsvermittler.

„Also. Da muss ich ein bisschen ausholen“, sagte Herr Meier.

„Was Sie nicht sagen“, entgegnete der Arbeitsvermittler.

„Also das Motto des Fotogeschichtenwettbewerbs der Verkehrsbetriebe lautete: ‚Deine Verkehrsgeschichten – wir kommen immer!‘ Und die Firma meines Chefs, die ‚Meine Matratzenwelt GmbH‘ wirbt mit dem Zusatz ‚Deine Experten!‘ Das steht auf den Firmenautos und auch auf der Dienstkleidung. Auf den Hecktüren des Firmenautos prangt über dem Firmennamen das Werbegesicht der Ehefrau des Chefs und darüber der Werbespruch ‚Deine Experten‘. Jetzt stand ich auf dem veröffentlichten Foto leider so, dass man von dem Firmenauto nur das Werbegesicht der Noch-Ehefrau meines Chefs sehen kann und den Schriftzug ‚Deine Ex…‘. Den Teil ‚…perten!‘ verdecke ich“, erklärte Herr Meier und schluckte. 

„Auf dem Rücken meiner Dienstkleidung steht ‚Meine Matratzen-Welt GmbH‘. Dieser Schriftzug ist zweigeteilt. Die Worte ‚Welt GmbH‘ stehen auf der Hose. Und die war heruntergerutscht und gab die glattrasierten Gesichter seiner Töchter frei“, schloss Herr Meier seine Ausführungen ab.

Der Arbeitsvermittler erhob sich, streckte Herrn Meier die Hand zum Handschlag aus und sagte: „Sie haben Recht. Manchmal trifft man im Leben eine falsche Entscheidung. Manchmal auch mehrere. Wir sehen uns nächste Woche noch einmal.“

 

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