Von Anne Zeisig

„Venedig!“, hat Dirk gemault. „Ich kann mit dem Mindestlohn gerade mal so unseren Lebensunterhalt bestreiten und du träumst von der Rialto-Brücke.“

Lenas Mann nahm einen Schluck aus der Bierflasche. „Ich kann mir ja noch nicht einmal eine Karte fürs Fußballstadion leisten.“

 

„Von den Kosten für die Reise abgesehen. Ich habe einen Bericht über Venedig gesehen, da kostet eine Stunde Gondelfahrt tatsächlich dreihundert Euro!“, empörte sich auch Lena.

 

Ihr Mann rollte mit den Augäpfeln: „So viel Geld, um auf einem Kanal herumzugondeln? Das sind ja Wucherpreise!“

 

KANAL!

Das war das Stichwort für Lena gewesen!

Denn wo der Rhein-Herne-Kanal war, da befand sich auch das grüne Ufer mit blühenden Wildstauden samt einem Fahrradweg und dem glutroten Sonnenuntergang beim Gesang der Gondoliere.

Sie sah die Gondeln vor sich: Ausgeschlagen mit elfenbeinfarbigem Samt! Und die zweite zierte ein dunkelroter Chenille, wie sie unter der elegant geschwungenen Brücke am Amphi-Theater des Nordsternparkes fast lautlos über die Wasserfläche glitten.

„Gondelfahrten auf unserem Kanal“, flüsterte sie ihrem Mann Dirk ins Ohr. „Bezahlbar und nicht weit entfernt.“

 

„Frau! Du spinnst!“

 

* * *

 

Nun stand sie an der kürzlich eingeweihten Marina mit einer von Birken, Berberitzen und Farnen bewachsenen ehemaligen Kohlenhalde im Hintergrund, um Touristen und Neugierige, aber vor allem verliebte Pärchen auf dem Kanal nach Duisburg-Hafen zu gondeln. Vorher gab es einen Halt in Oberhausen am Kaisergarten mit Landgang, wo ein Grillfeuer angefacht worden war.

„Ein Tinto, ein Primitivo oder ein Veltins?“, waren die einzigen Fragen bei Pasta mit Parmesan oder Panhas mit Bratkartoffeln und grünem Salat für ihre Gäste. 

Und die Abendglut tauchte den Himmel in ein feuriges Orange.

 

* * *

 

„Meine Gondeln sind ausgebucht“, hauchte Lena ihrem Mann ins Ohr, der ihr Start-Up für eine Schnapsidee gehalten hatte.

Es war ein langer Weg gewesen, die Bank von ihrem Geschäftsmodell zu überzeugen. Aber das hatte geklappt, weil ihr schmuckes Reihenendhaus als Sicherheit diente.

Zudem hatte Enrice von der Eisdiele gegenüber seine Beziehungen ‘spielen’ lassen und ihr Gondoliere vermittelt, die nicht nur über die nötige Technik  mit nur einem Paddel verfügten, sondern auch einen mächtigen Tenor besaßen für die Vertonung des romantischen Repertoires.

 

„Oh sole mio …“, sollte es fortan kitschigherzig auf dem Rhein-Herne-Kanal mitten in der Ruhr-Metropole tönen. Aber selbstverständlich konnten ihre Gäste eigene Songwünsche äußern.

Auch Rammstein war erlaubt zum Beispiel!

„Dirk! Der Gast ist König!“

 

„Etwa auch Helene Fischer?“, fragte er zaghaft.

 

Lena nickte.

 

* * *

 

Die verliebte Annika schmiegte sich eng an ihren Lukas. Ihr blaues Kleid mit den weißbedruckten Blümchen wehte flatternd im Wind um ihren zarten Körper. Das Wasser plätscherte sanft, aber dennoch keck und von der Sonne angewärmt um die Gondel.

Der Zukünftige hielt die Hand seiner Liebsten fest in der seinen und küsste sie leicht auf die Stirn: „Ich lege dir den Kanale-An-Der-Ruhr zu Füßen.“

 

Sie gluckste: „Ein wundervoller Tagesausklang vor unserer Trauung in der Kapelle der Blau-Weißen-Arena.“

Denn er war ein begeisterter Fußball-Fan vom FC-Schalke-04.

 

„Alle Mäd-chen, die so jung und schön, so jung und schö-hen, müss-en alle blau und weiß spa-zieren geh’n!“, sang der Gondoliere.

 

Ihr Verlobter setzte sich auf: „Wir werden nun jedes Jahr am Abend vor unserem Hochzeitstag eine Gondelfahrt machen!“

 

Sie schmiegte sich enger an Lukas.

 

Abermals küsste er sie, aber diesmal innig auf ihre feuchten Lippen: „Sanft streichelte der Bräutigam über ihr kleines Schwangerschafts-Bäuchlein.

Lukas legte seine Jacke um Annikas Schultern, weil eine Wolke das sanfte Abendlicht verdunkelte und plötzlich ein kühler Wind über den Kanal wehte.

 

* * *

 

„Mich platzt echt der Kragen! Dat hier war immer unser Renn-Revier!“

 

„Jau! Und nun schippert diese Gondeltante Touries aufm Kanal, als wenn dat hier Sizilien wär.“

 

„Italien!“

 

„Hä? Wie dat?“

 

„Venedig mit dem Kanal und diese Gondeln, dat is in Italien inne Stadt Venedig bei diese Bucht anne Adria.“

 

„Ach! Abba der richtige Kanal is hier bei uns.“

 

„Und in Venedig. Da gibbet auch einen. Und da gehören diese fiesen Gondeln auch hin.“

 

„Jau! Wir wollen den Gestank vonne Diesels und Benziner inhalieren, weil dat unser Lebenselixier is für die Raucherlungen!“ 

 

„Für uns und die PS-Kumpels gibbet hier am ehemaligen Hafengelände seit eh und jeh die geilsten Autorennen. Und dat lassen wir uns nich vermiesen.“ 

 

Sein Kumpel nickte geflissentlich. Er spuckte seinen Kaugummi auf die Pflastersteine. „Die spinnen! ‘ne Marina im Ruhrpott! Dat is ja so, als wenn Schalke-04 neuerdings ‘n Golfclub wär’.“

Er lachte und schlug sich mit den Handflächen auf die Oberschenkel. Das klatschte laut auf seiner Kunstlederhose. 

 

Sie stiegen breitbeinig in ihre Autos, wie es früher die Cowboys getan haben, als sie sich auf auf ihre Pferdesättel geschwungen haben.

 

Die aufgemotzten Motoren röhrten, als Jussuf und Kevin sie bis zum Limit aufheizten und der Auspuffqualm über die geöffneten Seitenfenster wie ein Parfum in ihre Riechsynapsen eindrang.

 

„Wie dat duftet! Wie ‘n Stahlabstich aufm Hochofen!“

 

„Du spinnst! Ich schnüffel keine Glut!“

 

Ihre Blicke trafen sich stahlhart, als die Gaspedale durchgetreten wurden, die Augen hefteten sich konzentriert auf den Asphalt, der in der untergehenden Sommersonne blaugrau schimmerte, wo es früher lediglich eine Lehm- und Schotterpiste gegeben hatte und der alte Hafenkran in der Abenddämmerung vor sich hinrostete.

 

„Besser ‘n geiler Asphalt, als nix!“, jauchzte Kevin. Abermals musterte er seinen Gegner, dessen Silhouette er in der Dämmerung wie einen Scherenschnitt wahrnahm.

 

„Aber Jungs!“, stob Lena dazwischen und warf sich auf Jussufs Motorhaube. „Ihr könnt eure Rennen doch woanders austragen! Krach und Gestank stören mein Geschäft! Das hier ist keine Rennstrecke mehr.“ 

 

Kevin zuckte auf den Ledersitzen in Weiß mit den Schultern: „Tusse! Wir waren zuerst da, bevor dat hier son Nobelort wurde!“

 

„Korrekt!“, rief Jussuf aus dem Seitenfenster hinaus. „Dat hier war immer unsere Piste! Und dat wird auch so bleiben!“

 

„Eure Rennpiste ist längst ein Fahrradweg!“

 

„Radfahren is wat für Weicheier!“, rief Kevin laut, um das Aufheulen seines Motors zu übertönen.

 

Sie ging zur Seite. „Verlegt eure Rennen doch auf den Winter“, schlug Lena vor und hoffte, dass die Gondel mit dem Liebespaar ungestört in den Hafen einlaufen könne, weil das heute ein Abend wie aus dem Bilderbuch war.

Schimmerndes Grün am Ufer, davor bildete der gelbblühende wilde Rittersporn einen wundervollen Kontrast.

Und weiße Schmetterlinge flatterten unbeschwert übers Wasser.

 

Jussuf drückte mit seinen Western-Stiefeletten das Gaspedal bis zum Anschlag durch.

Die Reifen quietschten lautstark und spieen einen Schweif Staub aus. Wie in alten Zeiten, als es hier nur Schutt, Koks, Berg und Tal gab auf der einstigen Zechen- und Hafenbrache am Rhein-Herne-Kanal.

Sie rauschten nach einem Quick-Start los.

Es stank nach Motorenöl und verkokeltem Gummi.

 

Wie in Zeitlupe sah Lena, dass der Gondoliere das Hafenbecken passiert hatte.

Sie schrie schrill, als die Autos schlingerten, aneinander stießen und den Kai hinabrasten. Die Fahrzeuge krachten in den Kanal und eine riesige Fontäne ergoss sich erbarmend über das Geschehen. Das Wasser stob zischend empor und glitzerte im Abendlicht, als es tröpfchenweise herabfiel.

 

Das Krachen und Knarzen vom Holz der Gondel nahm Lena gedämpft wahr, als sie auf die Pflastersteine sackte.

 

END-Version