Von Martina Annecke

Es war Liebe auf den ersten Blick, doch war es ein langer Weg dorthin. Schon auf dem Weg meiner Produktion hörte ich es von allen Seiten. Welch ein Glück wir haben. Wir werden viel von der Welt sehen. Mit jedem Schritt, der sich meiner Fertigstellung näherte, wurde ich aufgeregter. Mit jeder Naht, den Scharnieren, den Schlössern. Dann kam die Qualitätsprüfung und mit ihr der erste Schlag. „B-Ware“, hieß es lapidar vom Produktionsleiter. Das war ein gefürchtetes Wort. Es hieß, dass die glänzende Zukunft etwas blasser wurde. Ich kam zu den anderen, die nicht den Ansprüchen genügten. Während ich den hochqualifizierten nachschaute, die fröhlich plappernd in den glänzenden Container fuhren, warf man mich zu den Resten, deren Stimmung merklich trüber war. Später folgte eine weitere Prüfung. Hier hatte ich Glück, es war nur etwas Optisches, ich durfte weiter existieren. Jetzt kam ich auch in einen Container, doch schien er mir nicht mehr ganz so glänzend. Irgendwann danach landete ich in einem Verkaufsregal. Der Laden war nicht das, was ich mir während der Produktion ausgemalt hatte, aber ich wurde, mit einem Schild auf dem „mit kleinen Fehlern“ stand, ansprechend präsentiert. Und nach einigen Wochen interessierte sich tatsächlich ein junges Pärchen für mich.

„Sieh mal Jan, der ist doch ein echtes Schnäppchen.“ Die Frau kam mit lustig wippendem Pferdeschwanz auf mich zu. Der mit Jan angesprochene folgte mit interessiertem Blick. Er öffnete mich, besah mich von innen und außen und stimmte der jungen Frau zu.

„Die Außenhülle ist zwar etwas zerkratzt, aber er scheint sonst ganz ordentlich zu sein.“

„Das macht nix. Wir wollen doch sowieso von jeder Reise Aufkleber sammeln. Irgendwann wird man von ihm nichts mehr sehen, außer bunten Farben. Und der erste Sticker wird aus Paris kommen.“

Das fröhliche Pärchen, Jan und Anna, wie ich schnell erfuhr, machte sein Versprechen bald wahr. Nach nur wenigen Tagen wurde ich, vollgestopft mit allen möglichen Kleidungsstücken in den Kofferraum eines Kleinwagens gehievt und los ging es. Und was ich nicht alles zu sehen bekam. Paris war nur der Anfang. Hier spendierte mir Anna sogar zwei der begehrten Aufkleber. In den nächsten Jahren bekam ich viele europäische Städte zu sehen, im Osten und Westen, Norden und Süden. Und ich wurde immer bunter. Ich erinnere mich mit Freude an das Kofferpacken. Anna nahm immer viel zu viel Kleidung mit. Sie musste sich regelmäßig auf mich setzen, damit Jan überhaupt die Möglichkeit hatte, meine Schlösser zu schließen. Wenn wir an einsamen Stränden rasteten, musste ich oft als Tisch herhalten. Anna nannte mich inzwischen Rolli, es war so ein Witz zwischen den beiden, denn Jan bemerkte immer mal wieder wie viel einfacher es für ihn wäre, wenn ich Räder hätte. Was waren das für herrliche Zeiten. Nach einigen Jahren veränderten sich unsere Urlaube. Jetzt ging es weiter weg, im Flugzeug. Ich muss gestehen, dass mir diese Reisen nicht mehr so sehr gefielen. Es war laut und unbequem. Natürlich war es auch interessant, von anderen Koffern und ihren Erlebnissen zu erfahren. Da gab es welche, die nur einmal im Jahr hinauskamen. Alte, die auf das Reisen keine Lust mehr hatten und ganz junge, aufgeregt, wie ich am Anfang. Am schlimmsten aber waren die, die sich zu vornehm waren, um mit uns einfachen Koffern zu sprechen: sie kamen von Ruis Futon oder Nono Navel. Wenn sie mit uns redeten, dann oft nur, um uns zu erzählen, dass sie normalerweise in eigenen Flugzeugen flogen. Bei denen freuten wir uns immer, wenn sie die ersten waren, die ins Flugzeug gesteckt wurden. Es war nämlich sehr unangenehm zuunterst zu liegen und die anderen auf sich gestapelt zu bekommen. Mir fiel auf, dass Menschen mit Dingen, an denen sie nicht hängen, sehr gefühllos umgehen können. Spannend war auch der Weg auf dem Laufband, wurde man wieder abgeholt? Ich habe da Geschichten gehört…

Jedes Mal, wenn ich Jan und Anne am Förderband stehen sah, war ich erleichtert. Sie nahmen mich zwar nicht mehr mit zum Strand, ließen mich aber am Hotelfenster stehen, so dass ich immer hinausschauen konnte. Die Aussicht am Hotelfenster auf weiße Strände mit ihrem Meeresrauschen, das Menschengewirr einer Großstadt oder auf die Erhabenheit hoher Berge entschädigten mich für alles. Es hätte ewig so weitergehen können.

Die nächste Reise sollte wieder einmal nach Amerika gehen. Aufgeregt und voller Erwartungen auf einen neuen Urlaub verließ ich das Flugzeug auf dem Förderband. Ich drehte dort Runde um Runde und wurde immer ungeduldiger. Wo blieben Anna und Jan nur? Langsam wurde es ruhiger, die Menschen um mich herum verschwanden mit ihren eigenen Gepäckstücken und von Jan und Anna keine Spur. Ich weiß nicht, wie viele Runden ich alleine auf dem Förderband verbrachte, aber irgendwann erbarmte sich ein Flughafenangestellter und zog mich zu sich.

„Na, du hast dich ja total verflogen“, brummte er, nachdem er das Schild an meinem Griff gelesen hatte. „Dann wollen wir mal sehen, ob wir dich zurückschicken können.“

Er nahm mich mit und stellte mich in ein Lager, wo schon andere Koffer warteten. Gedrückte Stimmung umfing mich hier. Niemand war auf ein Schwätzchen aus, alle sorgten sich um ihre Zukunft. Einige Stunden beobachtete ich das wenige Treiben um mich herum. Gelegentlich kamen Gepäckstücke dazu, andere gingen. Das Warten wurde mir unerträglich. Ich versuchte mich mit Erinnerungen an Jan und Anna abzulenken. Ob sie mich schon vermissten? Konnte Anna schlafen ohne ihr altes Kuschelkissen, dass uns auf jeder Reise begleitete?  Irgendwann wurde ich abgeholt und in das nächste Flugzeug gestopft. Leider erwartete mich auch hier am Ende des Fluges eine Enttäuschung. Wie schon vorher wurde ich nach einsamen Runden auf dem Förderband nicht abgeholt. Und so erging es mir noch dreimal. Irgendwann wurde ich als herrenloses Gepäckstück deklariert. Was sollte jetzt aus mir werden? Als nächstes wurde ich zu den Zöllnern gebracht. Diese unmöglichen Menschen, die immer in den Koffern anderer Leute wühlten. Sie versuchten, meine Schlösser zu knacken und ich wehrte mich, solange ich konnte, aber irgendwann musste ich aufgeben, bevor sie sie aufbrachen. Die Zöllner durchwühlten meinen ganzen Inhalt und deklarierten mich als uninteressant. Ich wurde weitergereicht und hörte, dass ich ins Fundbüro gebracht werden sollte. Hier hatte ich die Chance in drei Monaten abgeholt zu werden. Ich war schon ein wenig aufgeregt, sollte ich dort vielleicht wieder auf Anna und Jan treffen? Doch die drei Monate verstrichen und niemand holte mich. So wurde ich Eigentum der Fluggesellschaft und sollte versteigert werden. Bevor es jedoch dazu kam, wurde ich lange in einem riesigen Regal eingelagert. Versteigerungen, erfuhr ich, finden nur alle paar Monate statt. Und so richtete ich mich auf meinem Platz ein und träumte von meinen Reisen.

Es war wie aufwachen aus einem Winterschlaf, als man mich für die Versteigerung aus dem Regal holte. Zusammen mit den anderen Gepäckstücken wurde ich in eine große Halle gebracht. Nicht nur ich war aufgeregt, auch alle anderen Koffer waren angespannt. Würde uns jemand haben wollen?

Viele Menschen strichen durch die Halle und begutachteten uns. Niemand schien Interesse an mir zu haben. Und ich andererseits hielt immer noch Ausschau nach Anna und Jan. Auf einmal blieb ein kleines Mädchen vor mir stehen und betrachtete interessiert meine vielen Aufkleber.

„Den will ich Papa!“ rief sie dann entschieden über die Schulter. Ein skeptisch blickender Mann kam näher.

„Aber Lisa, der ist schon ziemlich alt.“

„Aber er ist so schön bunt. Und er ist bestimmt schon ganz oft verreist. Teddy gefällt er auch.“ Und sie gestikulierte mit einem Plüschbären vor der Nase ihres Vaters. Ich erkannte schnell, dass der Mann seiner Tochter keinen Wunsch abschlagen würde. Was soll ich sagen, am Ende des Tages fuhr ich, in Begleitung einer ebenfalls neu ersteigerten Reisetasche, einem neuen Zuhause und neuen Reisen entgegen.

 

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