Von Sabine Rickert

Ich würde mich gerne vorstellen. Mein Name ist Corbinian und ich bin ein Heiliger.

Auf Erden lebte ich im 8. Jahrhundert.

Seitdem hat sich dort unten einiges verändert. Die Fortschritte in Wissenschaft und Technik sind enorm, und es gab damals nicht so viele Menschen auf dem Planeten.

Eine Weltbevölkerung von fast 8 Milliarden, dazu eine Pandemie, stellt uns Himmelsbewohner vor gewaltige Herausforderungen. Dadurch wurde im Himmel einiges umstrukturiert, um die vielen Aufgaben nach dem neuesten Qualitätsmanagement zu erfüllen.

Unser Chef ist stets bemüht > mit der Zeit zu gehen<.

Sein Wahlspruch: „Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit.“

Meine ursprünglichen Tätigkeiten sind >Wunder<. Durch die Umstrukturierungen wurden wir Heilige den Engeln zugewiesen.

Dadurch bin ich zum >Assistant Angel< aufgestiegen, und unterstehe zurzeit dem Erzengel Gabriel.

Auf Grund dessen erweiterten sich meine Aufgabengebiete um die >Übermittlung der Offenbarung an die Propheten<, außerdem >Schutz der Menschen<.

Ich bin jetzt im Sondereinsatz. Es genügten nicht nur die Schutzengelfunktionen, sondern die Aufgaben wurden für alle nochmal erweitert um die >psychologische Betreuung<. Es gab einen Crash-Kurs in Psychologie. Drei Module in einer Woche.

Ehe ich mich versah, hatte ich meinen ersten Einsatz.

Somit landete ich vorgestern auf einer kleinen Insel in Dalmatien.

Dort arbeitet Alfredo, auf einem der wenigen nicht automatisierten Leuchttürme, die eine Vollbesetzung benötigen.

Alfredo ist verheiratet und hat zwei Kinder. Er ist sieben Tage am Stück auf dem Leuchtturm, um dann, für dieselbe Zeit von seinem Kollegen Alex abgelöst zu werden.

Alfredo ist zwar kein Hobby-Eremit wie ich, aber er hat sich arrangiert.

Alex ist schwer an Corona erkrankt und liegt im Krankenhaus auf der Intensivstation. Er ist nicht geimpft und hat es jetzt auszubaden. Ebenso Alfredo, der nicht mehr nach Hause zu seiner Familie kommt, und auf dem Leuchtturm festsitzt.

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Am Abend meiner Ankunft saß Alfredo bei einer Flasche Hochprozentigem und sah mürrisch vor sich hin.

Scherzhaft sagte ich: „Hallo lieber Freund.“

Ich nahm ja an, dass er mich weder hören noch sehen konnte.

Oh je, Alfredo schaute erschrocken auf.

„Oh mein Gott, jetzt kommen sie, die Geister!“

Für mich sah er aus, als wäre er von einer Sekunde auf die andere wieder ernüchtert.

Er schob den Schnaps angeekelt zur Seite.

Er stand unter Druck und war verzweifelt, dann werden wir Himmelsbewohner schon mal sichtbar.

„Ich bin kein Geist. Mein Name ist Corbinian.

Ich bin ein Heiliger, beauftragt deine psychologische Betreuung zu übernehmen.“

„Du bist was?“

Alfredo schaute auf das Etikett der Schnapsflasche und schüttelte ungläubig den Kopf.

„Ich hatte mit der Sorte nie Schwierigkeiten.

Wie meinst du?

Ich benötige keine physiologischen oder soziopatischen Beistand, schon gar nicht von einem Heiligen. Ich brauche dringend eine Ablösung.

Kannste einen Leuchtturm warten?

Kannste meinen Kumpel wieder gesund zaubern?

Wenn nicht, trink einen mit, dann fliegste nachher schneller nach Hause.“

„Wieso ist da Red Bull drin?“, rutschte es mir heraus.

Und sofort bereute ich die Ironie. So betreut man nicht.

„So leicht ist das nicht, ich habe die Pflicht, die Punkte meiner Arbeitsliste mit dir durchzugehen. Eine schnelle Nummer wäre mir Recht, da ich eine lange To-do-Liste habe und in Verzug bin. Andernfalls habe ich ebenso einen Ruf zu verlieren“, redete ich auf ihn ein.

Warum hat mich Gabriel überhaupt hierher geschickt? Welche bevorzugten Fähigkeiten habe ich, die der heilige Nikolaus nicht hat? Der ist Schutzpatron der Seefahrer und im Zuge dessen eventuell ja auch für Leuchttürme zuständig, dachte ich mir so.

Ist es die Kompetenz, ein Unglück nüchtern und schnell in einen Vorteil umzuwandeln?

Damals auf einer Pilgerreise habe ich den Bären, der das Packpferd tötete, mein ganzes Gepäck tragen lassen. Oder schickte man mich, weil ich jahrelange Erfahrung als Missionar hatte.

Alfredo schenkt mir ein und ich war dankbar für die Stärkung.

Ich beneidete Alfredo ja ein bisschen. Wie gerne war ich Eremit, aber es war mir nie lange vergönnt. Rom hatte immer wieder neue Herausforderungen für mich.

„Wo drückt denn der Schuh, lieber Alfredo? Ich bin hier, um zu helfen. Dadurch, dass du mich siehst und hörst, ist meine Aufgabe wesentlich leichter.“

Alfredo taute langsam aus seiner Schockstarre auf und versucht, seine Sorgen vorzutragen:

„Mein Freund und Kollege Alex ist an Corona erkrankt und wir haben uns, kurz vorher, fürchterlich gestritten. Wenn es nicht positiv ausgeht, werde ich ihn nie wieder sehen und das dauernde Streiten hatte überhaupt keinen Sinn. Er hat mich mit seinen Sprüchen auf die Palme gebracht. Die Corona Strategie der Regierung stand zwischen uns.“

Er fuhr fort: „Alex vermutete eine Verschwörung und wiederholte immer die gleichen Phrasen.

Du hinterfragst nichts und folgst ungeprüft, ungesehen.

Du schaust nicht über den Tellerrand.

Du lebst in einer Blase.

Was weißt du schon von der Welt?

Es ist vieles verborgen und für die Mehrheit geheim.

Womöglich war er beim Geheimdienst tätig und hatte den Durchblick.

Ich bin doch nicht leichtgläubig und nehme alles ungeprüft hin.“

„Und wie fühlst du dich damit?“, hinterfragte ich.

„Beschissen!“

„Was macht das mit dir?“, bohrte ich weiter.

„Ich saufe!

Ich habe nach bestem Wissen und eigenen Recherchen entschieden, mich impfen zu lassen. Mir ist schon die Verantwortung für mein Leben und das der anderen Menschen bewusst.“ „Ich bin Vater und Ehemann“, lamentierte er weiter.

„Es ist hilfreich, dass du darüber redest. Lass es raus.“

Alfredo erzählte empört weiter.

„Ich habe keine Ahnung, was er über seinen Tellerrand hinaus gesehen hat.

Den Nachtischlöffel?

Eine Borg-Invasion, die uns jetzt alle assimiliert haben?

Soweit ich mich erinnere, kommen die erst 2381.“

Alfredo schaute verzweifelt in sein Glas.

„Lass es zu, dieses Gefühl“, ermutigte ich ihn.

Wie im Lehrbuch, ich war mit mir zufrieden. Mein erster Einsatz am lebenden Objekt.

Wenn nachher Zeit genug ist, bitte ich ihn um eine Bewertung.

Alfredo jammerte weiter.

„Du als Heiliger müsstest die Zeiten im Altertum, ohne medizinische Versorgung mit Pest und Cholera doch kennen.“

War nicht angenehm, und ich bestärkte seine Ansicht, dass er heutzutage, ausgehend vom Wissensstand der Menschheit, in einem Schlaraffenland lebe. Das Problem an der ganzen Sache ist, es sind zu viele Informationen. Das Filtern klappt nicht immer so. Durch die umfangreichen Möglichkeiten kommen Störenfriede auf ihre Kosten und sorgen für Verwirrung. Oder die Verwirrten stören.

Ich beruhigte ihn damit, dass ich mich kümmern werde, und er auf jeden Fall seinen Freund später sehen wird. Mehr Versprechungen waren mir nicht erlaubt.

Mir kam schlagartig etwas in den Sinn, da ich ja früher leidenschaftlicher Eremit war, und er eine Ablösung benötigte.

Gegebenenfalls klappte es. Ich hatte besser die Wunder im Griff, denn darin war ich Profi.

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Drei Wochen später auf einer kleinen Insel in Dalmatien.

Es klopft an der Tür des Leuchtturms.

Alfredo reagiert erst gar nicht. Das Klopfen wurde immer intensiver, dann begibt er sich endlich auf den Weg.

„Das wird nicht Alex sein, nein, der liegt im Krankenhaus. Er ist zwar von der Intensivstation runter, aber nicht fähig zu laufen.

Mit meiner Frau habe ich vor zehn Minuten geskypt“, brummt er vor sich hin.

Er macht die Tür auf, und vor ihm steht ein Mann mittleren Alters.

Er gibt Alfredo die Hand, mit den Worten: „Mein Name ist Colak, ich bin ihre neue Ablösung.“

Alfredo ist baff und bekommt den Mund nicht wieder zu.

„Hat sie die Zentrale nicht informiert?“, fragt Herr Colak überrascht.

Alfredo schüttelt den Kopf.

„Dann ist das eine Überraschung für sie, wie ich an ihrem Gesicht sehe.“

„Auf jeden Fall, eher ein Wunder“, taut Alfredo auf.

Plötzlich ist er hellwach und redet wie ein Wasserfall.

„Ich werde sie einweisen lieber Herr Colak, und dann rausche ich in Windeseile zu meiner Familie.

Ich habe alle vier seit zwei Monaten nicht mehr live gesehen. Sind sie die Krankenvertretung für Alex? Ich hatte nur wenig Hoffnung, dass die Zentrale eine Ablösung für mich findet.“

„Tja, Wunder kann ich“, entgegnet Herr Colak.“

„Ich bin die Vertretung. Ihr Kollege wird weiterhin eine Weile arbeitsunfähig sein.

Ich bleibe so lange, bis ihr Kollege seinen Dienst wieder antreten wird, oder der Leuchtturm automatisiert worden ist. Ein wenig Zeit bleibt uns zusammen.

Bitte nennen sich mich doch Corbinian, lieber Alfredo.“

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Es hatte geklappt, ich war happy. Mein Antrag auf >Wiederauferstehung< wurde nicht abgelehnt. Da wir Heiligen eine vorhandene Seele haben, ist dies möglich, wird nur nicht gern gesehen.

Ich bekam leider nur ein begrenztes Zeitlimit. Wieder einmal eine kurze Eremitenphase, das war mein Schicksal. Ich erhielt von Alfredo eine Fünf-Sterne-Bewertung und bin jetzt stark gefragt.

V3