Von Karl Kieser

Mir knurrt der Magen. Seit Tagen habe ich nichts gefressen. Dieser Wald gibt einfach nichts mehr her. Die Hasen haben sich alle ins freie Feld verkrümelt; Kaninchen, Fasane, alles weg.
Okay, die meisten habe ich selbst gefressen. Die anderen haben den Braten gerochen und sind ausgezogen. Die größeren Brocken, wie Reh, Hirsch oder Wildschwein sind nichts mehr für mich. Ich bin zu alt für die hektische Rennerei und dann hat mich auch noch der Hunger geschwächt. Seitdem mich der verdammte Hektor halb totgebissen hat, als er mein Rudel übernommen hat, muss ich mich eben allein durchschlagen. Hirsch oder Wildschwein sind ohne Rudel einfach nicht zu machen.

Also was bleibt mir noch? Im freien Feld kann ich mich nicht auf die Lauer legen. Es gibt nicht genug Deckung. Außerdem besteht die Gefahr, dass mich der Jäger entdeckt. Der hat ein weittragendes Feuerrohr. So schnell kann ich gar nicht laufen, wie der mir eine Kugel ins Fell brennt. Nein, ich muss meine alten Tage schon hier im Wald verbringen.

Gestern bin ich an einer kleinen Menschenbehausung vorbeigekommen. Es roch penetrant nach Mensch, daher habe ich mich schnell wieder aus dem Staub gemacht. Aber jetzt muss etwas geschehen. Wenn ich heute nichts fresse, bin ich zu schwach für die Jagd. Vielleicht gibt es bei dem Häuschen doch etwas Fressbares, das ich den Menschen wegnehmen kann.

Ärgerlich, dass ich mich gestern dort nicht gründlicher umgesehen habe. Vielleicht ist da ja absolut nichts zu holen. Dann werde ich vergeblich dahin zurücklaufen. Vor Schwäche zittern mir jetzt schon die Beine. Soll ich mich wirklich da noch einmal umsehen? Bisher bin ich immer gut damit gefahren, den Menschen aus dem Weg zu gehen.
Ich muss mich entscheiden! Hier stehen zu bleiben, wird mich auf jeden Fall umbringen.  In meinem Zustand bietet die einsame Kate noch die beste Möglichkeit, im Vorbeigehen etwas Fressbares zu finden. Also los!

Es zieht sich hin; ich komme nicht mehr so schnell vorwärts. Nun bin ich schon wieder über eine Wurzel gestolpert. Die Beine arbeiten nicht mehr wie gewohnt. Gestern war ich noch schneller unterwegs. Heute ist das Laufen deutlich mühsamer. Inzwischen muss ich mich konzentrieren, um nicht ins Taumeln zu geraten. Manchmal ist meine Sicht nicht klar oder es sind plötzlich mehr Bäume da als vorher. Einmal bin ich schon frontal gegen einen Stamm gelaufen. Es hat kaum weh getan denn ich komme nur noch langsam vorwärts.
Wann taucht denn endlich dieses Gebäude wieder auf. Den Menschengeruch habe ich auch noch nicht in der Nase.

Aber da, was ist das? Ein Pfad durch den Wald. Der kann eigentlich nur zu dem einsamen Häuschen führen. Aber in welche Richtung? Sollte ich mich verlaufen haben? Ich muss nachdenken, brauche ohnehin dringend eine Pause, muss mich mal hinlegen. Meine Gedanken kreisen immer nur um einen Hühnerstall mit fetten Hennen. Der Speichel tropft mir von den Lefzen. Mehrmals glaube ich, nur einen Satz machen zu müssen, um ein saftiges Hühnchen in den Fängen zu haben. Einmal habe ich es in verzweifelter Gier probiert. Seitdem weiß ich, dass mir der Hunger einen Streich gespielt hat.
Links oder rechts? Ich weiß es wirklich nicht. Ich bin entsetzlich müde, werde einfach ein Weilchen liegen bleiben. Der Platz ist ganz angenehm denn der Wald hat hier eine sonnenbeschienene Lichtung mit vielen bunten Blumen.

Ich muss wahrhaftig eingeschlafen sein, denn plötzlich weckt mich das piepsige Stimmchen eines kleinen Mädchens, welches von rechts über den Pfad heranhüpft.

„Ach du armes Hündchen, du siehst aber müde aus. Hast du etwa auf mich gewartet? Das ist aber lieb von dir. Dann können wir ja gemeinsam zu meiner Großmutter gehen. Ich will ihr nur noch einen schönen Blumenstrauß pflücken.“

Ich bin ziemlich erschrocken, komme mühsam auf die Beine, während das Mädchen sich unbeschwert daranmacht, die Lichtung nach Blumen abzusuchen.

Großmutter und einsames Häuschen im Wald, das scheint zupassen. Ich nehme das mal als hilfreichen Wink der Waldgeister. Jetzt kenne ich die Richtung; aber noch mehr Menschen kann ich bei meiner Futtersuche wirklich nicht gebrauchen. Ich mache mich also nach links über den Zugang davon. Hinter mir piepst es:

„Du willst also doch nicht auf mich warten, liebes Hündchen? Dann kannst du der Großmutter ja schon Bescheid geben, dass ich auch bald komme, nur noch einen schönen Blumenstrauß pflücken will.“

Ich muss mich beeilen, viel Zeit bleibt mir also nicht etwas Fressbares zu finden. Das Laufen ist nun sehr ungewohnt. Ich versuche meinen normalen Trab. Mal tut alles weh wie nach dem Kampf mit Hektor, mal fühlt es sich an, als ob ich auf Watte laufe. Dann finde ich mich mal auf der linken, mal auf der rechten Seite des Weges. Mit meinen Augen und mit der Witterung scheint auch etwas nicht zu stimmen, denn beinahe wäre ich an meinem Ziel vorbeigelaufen.
Mir sinkt der Mut, das sieht nicht gut aus. Es gibt keinen Schuppen, keinen Hühnerstall, nur das kleine Häuschen. Wenn ich etwas zum Fressen finden will, kann es nur in seinem Innern sein. 

Alles in mir wehrt sich dagegen, in das Haus hineinzugehen. Aber wenn ich dort nichts zu fressen finde, dann kann ich mich gleich hier zum Sterben niederlegen. Ich rechne ganz fest damit, auf dem Küchentisch eine große Kasserolle mit einem fetten Hühnchen zu finden, die für das Abendessen nur noch in die Ofenröhre geschoben werden muss.

So finde ich mich plötzlich mit tropfendem Maul vor der Eingangstür. Mit einer Vorderpfote kratze ich vorsichtig an dem Holz, um zu sehen, was passiert. Von Drinnen kommt eine krächzende Stimme: „komm nur herein, Rotkäppchen, die Tür ist offen. Ich liege im Bett, denn es geht mir nicht so gut.“

Beinahe hätte ich Reißaus genommen, aber wenn die Großmutter im Bett liegt, kann ich das Hühnchen sicher schnell aus der Küche holen.
Als ich Kopf und Schulter gegen die Tür schiebe, schwingt sie nach innen und ich kann durch den Spalt hineinschlüpfen. Schon stehe ich im einzigen Raum dieser Behausung. Im Bett liegt ein winziges Persönchen aber auf dem Küchentisch steht keine Kasserolle mit einem bratbereiten Hühnchen. Eigentlich steht überhaupt nichts herum, erst recht nichts Fressbares. Alles ist sauber und aufgeräumt. Wenn ich hier etwas finden will, das mich vor dem Hungertod rettet, dann muss ich alle Schränke durchsuchen.

Bevor ich mich aber dazu entschließen kann, tut es aus dem Bett einen durchdringenden Kreischer. Das winzige Persönchen schießt mit wehendem Nachthemd unter den Decken hervor und baut sich angriffslustig vor mir auf: „Was hast du Mistviech hier in meinem Haus verloren. Verschwinde, oder ich mache dir Beine.“

Ich habe gar nicht bemerkt, dass sie sich einen Besen aus der Ecke gegriffen hat. Schon landet der Besenstiel schmerzhaft auf meiner Schnauze. Ich weiß gar nicht, wie mir geschieht. Wie ein Irrwisch tanzt das winzige Persönchen um mich herum und drischt mir den Pelz. Heulend vor Schmerz versuche ich mich kleiner zu machen.
Der Rückzug ist mir leider versperrt, denn die Tür ist wieder zu geschwungen.
Auch wenn es der Großmutter nicht gut geht, ihre Empörung und der Besenstiel verleihen ihr eine Durchschlagskraft, der ich in meinem geschwächten Zustand nicht gewachsen bin. Sie muss aber sehr nahe an mich heran, um die Eingangstür wieder zu öffnen, bevor sie mich hinausjagen kann. Dabei kommt der Knüppelersatz unentwegt zum Einsatz. In meiner Not schnappe ich einmal nach ihr. Darauf poltert der Besen wirkungslos zu Boden und das winzige Persönchen liegt mir überraschend wie ein Stein im Magen.

Bei allen guten Waldgeistern, wie ist denn das passiert? Jedenfalls herrscht plötzlich eine herrliche Ruhe. Der Pelz brennt mir zwar noch von der schmerzhaften Massage, aber endlich habe ich etwas im Magen. Dieses Gefühl hatte ich schon so lange nicht mehr. Ein gutes Gefühl! Allmählich versöhnt es mich mit der verwirrenden Situation. Es sieht so aus, als ob ich doch noch genug Nahrung gefunden habe, um weiterzuleben.
Sofort erinnere ich mich, dass noch mehr Nahrung unterwegs hierher ist. Wo kann ich mich verstecken? Das Bett ist der einzig logische Platz.
Damit der Besen mir nicht noch einmal gefährlich werden kann, schiebe ich ihn unter das Bett, bevor ich mich selbst hineinlege und die Decke bis zum Hals hochziehe.
Eigentlich bin ich nicht mehr hungrig. Ich könnte mich davonmachen. Während ich mir das noch überlege, kann ich hören, wie das kleine Mädchen sich trällernd nähert. Jetzt ist es zu spät für eine Flucht. Wenn die Kleine mich aus dem Haus kommen sieht und dann die Großmutter verschwunden ist, gibt es einen Aufstand. Man wird mich jagen, bis ich meinen letzten Schnaufer getan habe. Ich habe keine Wahl. Die Kleine ist eine totbringende Zeugin.

Sie hüpft zum Zimmer herein und tritt gleich an das Bett. Das Mädchen ist wirklich sehr vertrauensselig. Sie erkennt mich nicht wieder und auch ihre Großmutter scheint sie zum ersten Mal zu sehen: sie wundert sich lautstark über Omas große Augen und Ohren. Als sie sich auch noch über mein großes Maul mokiert, passiert es mir wieder: Ein Happ und das kleine Mädchen landet bei ihrer Großmutter.

Jetzt bin ich aber wirklich satt. Es ist mir zwar früher auch schon passiert, dass ich mich maßlos vollgestopft habe, aber diesmal habe ich mich extrem überfressen. Ich kann mich nicht mehr rühren, ich komme einfach nicht mehr hoch und lasse mich wohlig zu einem ausgiebigen Verdauungsschläfchen zurücksinken.

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