Von Raina Bodyk

  1. August 1478

Huu-hu-huhuhuhuu. Sieh an, was taucht da für ein seltsames, schwer an seiner Würde tragendes Subjekt auf? Jetzt baut es sich mutterseelenallein vor dem Acker auf und verliest laut eine Urkunde oder Ähnliches. Ich gestehe, ich bin gespannt und hüpfe zwei Äste näher. Man sagt uns Eulen nach, von Natur aus sehr wissensdurstig zu sein. Sogar die Menschen nennen uns weise! Ohne angeben zu wollen, kann ich mit Fug und Recht behaupten, die Gescheiteste von uns zu sein.
Was parliert der da unten bloß?

Der Leutepriester Bernhard Schmidli räuspert sich gewichtig und deklamiert pathetisch:

„Du unvernünftiges, unvollkommenes Geschöpf mit Namen Engerling. Du hast mit deiner Sippe großen Schaden über und unter dem Erdreich angerichtet, raubst damit den Menschen ihre Nahrung. Der Bischof von Lausanne hat mir, seinem untertänigsten Diener, geboten, euch im Namen unseres Erlösers und der Heiligen Dreifaltigkeit zu befehlen, von hier zu weichen und euch eine andere Wohnstatt zu suchen. Solltet ihr die Anordnung nicht befolgen, habt ihr euch in acht Tagen pünktlich nach Bern zum Gericht zu begeben und euch selbst oder durch einen Fürsprecher zu rechtfertigen.“

Spricht‘s und nagelt die Proklamation an den nächsten Baum am Ackerrand.

Ich muss gestehen, mein Schnabel hat sich vor Verachtung fast überkreuzt. Diese eingebildete Wichtigkeit! Was denken sich diese Menschen eigentlich? Wie sollen diese primitiven Würmer sie unter der Erde verstehen? Die fressen und fressen, sehen nichts und hören noch weniger. Eine ziemlich fehlentwickelte Spezies, wenn man mich fragt. Manchmal genehmige ich mir ein paar als Nachtisch. Nichts zum Sattwerden, aber lecker! Nur diese Leichenblässe! Ich mag es gern etwas bunter angerichtet. Frösche, Käfer, Kröten.

 

8 Tage später

Natürlich hatte ich Recht. Nebenbei bemerkt: wie (fast) immer! Die farblosen Viecher fressen sich immer noch auf den Feldern satt. Die Neugier plagt mich, zugegeben, schon sehr. Bern ist mit geschätzten 1500 Flügelschlägen locker erreichbar. So ein kleiner Ausflug in die Stadt ist doch eine nette Abwechslung. Habe schon öfters am Fenster des Gerichtssaals gesessen. Hinterher kann ich in der traulichen Stimmung des Sonnenuntergangs meinen Artgenossen die unglaublichsten Geschichten erzählen. Manche sind so lustig, dass der eine oder andere schon mal vor Lachen vom Baum gefallen ist. Wenn ich gut drauf bin, kann ich durchaus unterhaltsam sein! Das habe ich allein diesen langbeinigen Schwätzern, absonderlich und schrullig wie sie sind, zu verdanken. Von Natur aus bin ich sonst eigentlich mehr der schweigsame Jäger.

 

Bin schon da. Keine mögliche Beute hat mich aufgehalten. Mein Fensterplatz ist frei.
Aufgepasst! Jetzt eröffnet der Bischof mit seinem weißen Untergewand und dem prächtig verzierten, roten Überwurf den Prozess. Er kommt wohl gerade vom Speisen. Seine Kleidung ist mit Fettspuren übersät und sitzt arg eng um den ausladenden Bauch.

„Hiermit eröffne ich das Gerichtsverfahren gegen die Feldschädlinge. Da die Beschuldigten möglicherweise Schwierigkeiten gehabt hätten, den Weg zum Gericht zurückzulegen, hat der Büttel stellvertretend zehn von ihnen persönlich geladen und höchstselbst hergebracht. Den Tieren wurden Sicherheitsgarantien für die Reise gewährt.“

Tatsächlich, da liegen sie! Habe ich glatt übersehen. Ein Glas mit ein bisschen Erde drin und zehn zusammengerollten Maikäferlarven. Hoffentlich kriege ich keinen Hunger. Sonst muss das Verfahren wegen Mangels an Bösewichten eingestellt werden. Huhuuhu!

„Angeklagte, da ihr nicht selbst für euch zu sprechen vermögt, wurde euch vom Gericht ein Verteidiger gestellt. Da ihr meinem Gebot nicht gefolgt seid, müsst ihr euch nun vor diesem Gericht rechtfertigen. Die Zeugen mögen vortreten.“

„Hochwürdigster Herr! Ich klage die Engerlinge an, den ganzen Ertrag meiner Felder vernichtet zu haben.“

„Herr Bischof, wir verhungern, wenn Ihr nichts gegen die Schädlinge tut.“

„Ich habe ein kleines Waldstück. Manche Bäume sind einfach umgefallen, weil sie keine Wurzeln mehr hatten. Alles weggefressen!“

Eine verhärmt aussehende, dürre Frau schüttelt wütend ihre knochigen Arme und schreit verzweifelt: „Ihr müsst uns helfen! Erst schlingen die Engerlinge von unten und dann kommen die Maikäfer von oben und fallen über die Blätter her. Was soll ich meinen armen Kleinen zu essen geben, wenn es nichts mehr gibt, was wir ernten können?“

„Herr, habt Erbarmen! Erst vor fünf Monaten hat unser Ochse meine Frau so heftig vor die Brust gestoßen, dass sie gestorben ist. Das Rind war offensichtlich vom Teufel besessen und das Fleisch vergiftet. Der Pastor hat uns eindringlich vor dem Verzehr gewarnt. Satan hätte auch uns verdorben. Jetzt ist auch noch die Ernte in höchster Gefahr. Wir sind verzweifelt!“
Der bedauernswerte Bauer zieht einen riesigen, schmutzigen Lappen aus der ausgebeulten Hosentasche, wischt sich über die nassen Augen und schnäuzt sich laut und schmerzlich.

Der Hochwürdige zuckt aufgeschreckt zusammen. Tja, Herr Bischof, diese Leute haben nicht Eure vornehmen Sitten. Ah, jetzt kommt wohl der, der für die Angeklagten spricht.

“Hohes Gericht, die Verteidigung möchte demütigst einwenden, auch Engerlinge und Maikäfer sind Geschöpfe Gottes und haben damit ein Recht auf Nahrung. Steht nicht in der Bibel ‚Seid fruchtbar und mehret euch‘?  Somit haben sie ein gottgegebenes Recht auf Nahrung.“

„Anwalt Schmidli! Euch sollte hinreichend bekannt sein, dass Maikäfer keinen Anspruch auf göttliche Duldung haben. Noah selbst hat diese Plagegeister nicht auf die Arche gelassen. So steht es geschrieben.“

Den Fürsprecher der Angeklagten kann dieses Argument nicht erschüttern. „Unser Herr hat sie geschaffen – und zwar vor den Menschen. Er hat auch sie gesegnet und ihnen geboten, sich fortzupflanzen.“

„Nicht so, Herr Prokurator! Der Mensch ist die Krone der Schöpfung, nach dem Bild des Herrn geschaffen. Heißt es nicht in der Genesis: ‚Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und macht sie euch untertan, und herrschet über Fische im Meer und über Vögel unter dem Himmel und über alles Tier, das auf Erden kreucht?‘ (1) Die Ernte von Feldfrüchten ist für den Menschen, das Werkzeug Gottes, unentbehrlich. Daher ist es erlaubt, Tiere zu bannen und zu exkommunizieren.“

 

Macht nur weiter so! Allmählich werde ich sehr, sehr ärgerlich! Wie können diese langen Zweibeiner sich einbilden, etwas Besseres zu sein als wir? Können sie fliegen oder im Dunkeln sehen wie wir Eulen? So gut Spuren riechen und verfolgen wie ein Hund? Schwimmen wie eine Ente? Sie sind nichts! Nichts! Völlig unfähig!

Der Ankläger fährt mit betonter Eindringlichkeit fort: „Eure Eminenz! Ihr wisst, wie schnell aus verzweifelten, hungernden Menschen Diebe und Mörder werden können. Ihre existentielle Notlage könnte sie zwingen, sich auf verbrecherische und grausame Weise ihren Lebensunterhalt zu besorgen. Vielleicht müssen sie gar auswandern!“

Eijeijei! Huhuu! Da gucken die Herren aber verdutzt! Wenn es um ihren Zins und die Pachteinnahmen geht, werden sie hellwach. Die wollen sie auf gar keinen Fall verlieren. Auswanderung muss unbedingt verhindert werden.
Diesen so ‚eindrucksvollen‘ Robenträgern gehen ihre Pfründe doch über alles. Deshalb sind sie ja auch ganz wild aufs Prozessieren. Sie verdienen sich eine goldene Nase mit solchen überflüssigen Veranstaltungen. Habe sie oft in ihren Hinterzimmern sitzen sehen und lange Reihen von Batzen zusammenzählen.

Dem setzt der Vertreidiger entgegen: „Eure Eminenz! Seien wir vorsichtig! Wir sollten die Engerlinge nicht provozieren. Sie könnten aus der gleichen Not heraus ihrerseits die Felder verlassen und sich Nahrung im Dorf, in den Häusern suchen.“

Na, das nenn ich mal ein starkes Argument! Ich seh sie schon vor mir, Armeen dieser Würmer, wie sie in die Häuser eindringen und alles fressen, was sie finden können. Huu-hu-huhu! Schade, dass die Viecher dafür zu faul sind! Das wäre mal ein Fest! Angeekelte Männer und kreischende Weiber kriegen keinen Fuß mehr auf die Erde, rutschen bei jedem Schritt auf den Maden aus und schlagen lang hin. Igittigitt, was für ein toller, unappetitlicher Spaß!

Prokurator Schmidli fügt nach dieser schauerlichen Vorstellung versöhnlich hinzu: „Ich sehe die Not der Bewohner dieser Gegend. Aber die beschimpften Larven und Käfer sind ebenfalls Werkzeuge des Herrn. Sie sollen die Sünder auf den Weg der Buße und des Heils zurückführen. Außerdem muss festgestellt werden, dass die Angeklagten zwar tatverantwortlich, aber moralisch unschuldig sind. Sie tun, was ihrem Wesen entspricht und das schon seit ewigen Zeiten. Da muss außerdem zwingend ein Gewohnheitsrecht anerkannt werden. Daher bitte ich um ein gerechtes Urteil.“

„Ich verlange die Verbannung und Exkommunizierung!“

Nach eingehender, hitziger Beratung bestimmt der Bischof, dass das sehnsüchtig erwartete Urteil auf den Feldern verkündet werden soll, damit jede Kreatur, ob Mensch oder Tier, sie hören möge.

 

So können wir am nächsten Tag eine Prozession fast aller Anwohner zu den Äckern vor dem Dorf pilgern sehen. Seine Eminenz führt sie an und weidet sich offensichtlich am Vertrauen seiner Gemeinde. Mit drohendem Unterton spricht er mit mächtiger Stimme den Exorzismus:

„Ich belege euch mit dem Bann, ihr schädlichen Würmer im Namen Gottes, des allmächtigen Vaters, seines Sohnes Jesu Christ und des Heiligen Geistes. Ihr sollt sofort diese Wasser, Felder oder Weinberge verlassen. Im Namen Gottes, der himmlischen Heerscharen und der Heiligen Kirche verfluche ich euch: Wohin immer ihr gehet, sollt ihr verflucht sein; von Tag zu Tag sollt ihr mehr ermatten und an Kräften abnehmen.“ (3)

Ein ergötzliches Schauspiel! Diese Leute – so vertrauensselig! Diese Dankbarkeit! Aber ja, der Bischof hat sie verdient..
Nur so zum Spaß krächze ich zweimal ganz laut, obwohl die Dämmerung noch nicht eingetreten ist. Die Leute zucken bei meinem Ruf immer so herrlich schreckhaft zusammen. Sie erzählen sich, dass unser nächtlicher Ruf den Tod eines nahen Angehörigen voraussagt.
Spaß muss sein!

 

1 Jahr später

Huu-hu-huhuhuhuu. Sieh an, was taucht da für ein seltsamer, schwer an seiner Würde tragender Kauz auf …

Das Spiel um die Silberlinge kann wieder beginnen …

V2

 

(1) Moses, 1, 28
(2) Mt. 6, 26
(3) Felix Hemmerlin, Tractatus de exorcismis (Nach:Karin Barton: Verfluchte Kreaturen: Lichtenbergs „Proben seltsamen Aberglaubens“ und die Logik der Hexen- und Insektenverfolgung im „Malleus Maleficarum“)