Von Stefan Schumacher

Als ich das Büro erreichte, hatte sich bereits eine kleine Menschenmenge im Raum versammelt, während die Sekretärin in dem gelben Blumenkleid wimmernd neben dem toten Lektor hockte und versuchte, seinen Puls zu fühlen. Der Kopf des Lektors lag, seltsam bizarr verdreht, auf der Schreibtischplatte. Ein schmales Rinnsal aus einer rotbräunlichen Flüssigkeit bildete eine kleine Pfütze neben der Kaffeetasse.

Der eilig herbeigerufene Notarzt konnte ebenso wenig ausrichten, wie die kurz danach erschienen Polizisten, die mehr oder weniger engagiert den Tatort sicherten und, nachdem die Leiche abtransportiert war, schnell wieder verschwunden waren.

Drei Wochen war es nun her, dass ich mein unbezahltes Praktikum bei dem mittelmäßig erfolgreichen Publikumsverlag Kiepenkerl & Bitch im schönen Münster angetreten hatte, und schon hatten wir hier die erste Leiche. Als künftige erfolgreiche Krimiautorin erkannte ich das literarische Potenzial, das in der Sache steckte und machte mich sogleich daran, meine eigenen Ermittlungen aufzunehmen.

Dass es sich hier um einen Mord handelte, war klar, wie Kloßbrühe und ich war mir sofort sicher, dass es sich hier nur um eine Aktion der Konkurrenz handeln konnte. Aus klandestiner Quelle wusste ich, dass die Mitbewerber im umkämpften Belletristikmarkt, ihre Spione hier eingeschleust hatten. Zwar war der Kiepenkerl Verlag nicht so wirklich erfolgreich – manche behaupteten gar, seine wenigen Erfolge basierten auf einer Verwechselung – aber seit der neue Lektor hier vor einigen Jahren übernommen hatte, gab es erstaunliche Erfolge allesamt mit völlig unbekannten Debütanten.

Unverständlicherweise hatten sie das halbe Dutzend meiner, wirklich vortrefflichen Texte, allesamt abgelehnt. Wobei sie nicht wirklich abgelehnt, sondern schlicht, ganz und gar nicht zur Kenntnis genommen worden waren. Daher hatte ich mich um das Praktikum beworben. Zum einen, um zu lernen, wie der Lektor hier arbeitete und was wirklich hinter seinen Erfolgen steckte und zum anderen, um Nachforschungen über den Verbleib meiner Texte anzustellen.

Und es hatte nicht lange gedauert, bis ich beiden Geheimnissen auf die Spur gekommen war. Mit dem mir eigenen kriminalistischen Scharfsinn hatte ich nach und nach die Arbeitsweise des Lektors sowie sein Erfolgsrezept vollumfänglich offengelegt und dabei en passant auch den Verbleib meiner Texte ergründet.

Während seines gesamten Berufslebens hatte Dr. Gideon Blumfeld noch niemals eines der Manuskripte gelesen, die er täglich erhielt. Die Umschläge, die von seiner Sekretärin auf seinen Schreibtisch gelegt worden waren, hatte er grundsätzlich nicht geöffnet. Stattdessen hatte er mit einer schnörkeligen Mädchenschrift eine kleine Zahl oben links auf die Rückseite eines jeden Umschlags gemalt. Dabei begann er zu Monatsbeginn mit einer „1“ und achtete nachfolgend akribisch darauf, die folgenden Umschläge aufsteigend zu nummerieren und keine natürliche Zahl auszulassen. An jedem dreißigsten eines Monats zog er mit einer altmodischen Kinder-Lostrommel einen Chip mit einer Zahl. Um sich langatmige und nutzlose Diskussionen zu ersparen, vollzog er die Auslosung stets bei sich zu Hause.

Am folgenden Arbeitstag hatte er dann stets den Umschlag mit der gezogenen Nummer geöffnet, eines der vorgefertigten Empfehlungsschreiben dazu gelegt und das Manuskript an seine Leute weitergereicht. Die anderen Umschläge führte er sogleich dem Reißwolf zu, den er eigens dafür in seinem großräumigen Büro aufgestellt hatte. Auf diese Weise war es Blumfeld gelungen, regelmäßig neue vielversprechende Autoren zu entdecken und nicht wenige Bestseller auf den Markt zu bringen. Blumfeld selber schien sich darüber keineswegs zu wundern, da ihm die Mechanismen des Marktes und die Macht eines geeigneten Marketings wohl vertraut waren. Mit der richtigen Vertriebsstrategie, die insbesondere darin bestand, die Bücher in den Literatursendungen in Funk und Fernsehen, sowie in den Feuilletons der großen Magazine zu platzieren.

Die Mitbewerber am Markt, allen voran die traditionsreichen und altehrwürdigen Verlage, waren zunehmend ratlos. In den vergangenen Jahren hatten sie viel versucht, an eigene alte Erfolge anzuknüpfen und ihrerseits erfolgversprechende Debütanten zu entdecken. Und so waren einige der anderen Verlage unabhängig voneinander auf die Idee gekommen, eigene Leute bei Kiepenkerl einzuschmuggeln. Und seitdem gaben sich die Spione hier die Klinke in die Hand. Inzwischen saßen in allen möglichen Positionen Leute aus den anderen Verlagen. Bislang jedoch hatte niemand von ihnen Blumfelds Erfolgsrezept ergründen können. Und nun war er tot.

Und diesen Mord aufzuklären, war meine neue Mission. Meiner unscheinbaren Natur hatte ich es zu verdanken, dass ich nirgends weiter auffiel und die Menschen mich schnell wieder vergaßen, nach dem sie mit mir gesprochen hatten. So führte ich meine Ermittlungen lautlos und studierte die Indizien.

Auf dem Schreibtisch des Lektors befand sich, neben dem Kopf des Toten ein schmales Obstmesser mit einem Griff aus Perlmutt: ganz offensichtlich die Tatwaffe. Daneben stand ein Korb mit Obst, das die Sekretärin jeden Morgen um frisches ergänzte. Neben dem Korb lag ein halb angebissener Apfel. Vielleicht war der Lektor auch an einem Stück Apfel erstickt. Auf dem Teppichboden verteilt lagen zudem einige zerbrochene Plätzchen, von denen ich einige Krümel in den Mundwinkeln des Opfers fand. Und dann waren da noch die roten Flecken am Hals des Toten, an denen sich fingerdicke Druckstellen erahnen ließen. Als ich vorsichtig die halbvolle Teetasse anhob und zu meiner Nase führte, nahm ich einen zarten Mandelduft wahr.

Ganz offensichtlich war der Lektor entweder erstochen, erdrosselt oder vergiftet worden; wahlweise mit einem vergiften Apfel, Plätzchen oder etwas in seinem Tee.

Was die potenziellen Täter anging, so kamen eigentlich nur die Sekretärin in dem Blumenkleid, der Assistent des Lektors mit den langen blonden Haaren, der Leiter der Marketingabteilung mit der Glatze sowie der andere Praktikant, der ganz offensichtlich ein Spion der Konkurrenz war, in Betracht. Fragte sich nur, wie es mir gelingen könnte, den wahren Täter zu überführen. Aber auch dazu hatte ich bereits eine Idee.

Und tatsächlich gelang es mir binnen weniger präziser Schlussfolgerungen, aus den Indizien und Hinweisen, eine stringente Beweiskette zu schmieden, die den Täter einwandfrei überführte.

Über alle Maßen stolz auf mein analytisches Gespür überlegte ich noch, an wen ich mich nun wenden und meine Anklage vortragen sollte, als ein Polizeiwagen, diesmal ohne Blaulicht, auf den Hof fuhr.

Strahlend lief ich den beiden jungen Beamtinnen entgegen, die gerade aus dem Streifenwagen stiegen. Ich nannte meinen Namen und begann sogleich damit, ihnen meine Erkenntnisse zu erläutern. Eine kurze Weile hörten sie mir aufmerksam zu, dann legte eine der beiden ihren Kopf schief. „Wie war nochmal ihr Name?“ Ein wenig enttäuscht unterbrach ich meine Erklärungen und nannte erneut meinen Namen.

Die Polizistin nickte der anderen zu. Während sie die Handschellen von ihrem Gürtel nahm, sagte sie zu der anderen: „Ich glaube, wir sind hier fertig.“

Im selben Moment klickten die Handschellen um meine Handgelenke und bevor ich protestieren konnte, erklärte die andere der beiden: „Fräulein von Lilienthal, sie sind verhaftet, wegen des Verdachts des Mordes an Herrn Dr. Blumfeld. Er wurde weder erstochen, noch erdrosselt, wie Sie versuchen, uns weiszumachen, sondern eindeutig vergiftet. Gerade eben haben wir ihre Wohnung durchsucht und die Reste der Zutaten für ihre Plätzchen, die wir am Tatort gefunden haben, sicher gestellt. Ihre Mitbewohnerin war dann noch so freundlich, uns über ihr Motiv aufzuklären. Sie haben das Recht zu schweigen, …“

 

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