Von Agnes Decker

„Können Sie bitte etwas lauter sprechen“, sage ich, während ich schnell den Rest des Wurstbrotes herunterschlucke.

„Er will uns töten.“ Die Stimme ist immer noch leise, aber jetzt gut verständlich.

„Wo sind Sie und wie heißen Sie?“

„Mandy Schneider, Hohlweg 45. Er ist vor der Tür.“ Die Stimme ist hell, wie die eines kleinen Mädchens.

„Frau Schneider, wo genau befinden Sie sich?“

„Ich bin im Schlafzimmer mit meinem Sohn. 1. Etage. Bitte beeilen Sie sich. Er versucht, die Tür einzutreten.“ Die Stimme der Frau überschlägt sich. Im Hintergrund höre ich ein polterndes Geräusch und eine männliche Stimme, die etwas brüllt, was ich nicht verstehen kann.

Ich gebe die Infos an die Einsatzkräfte weiter, die sofort ausrücken.

„Bleiben Sie am Telefon, Frau Schneider. Die Kollegen sind gleich bei Ihnen. Ist es ihr Mann?“

„Ja. Er will uns töten. Ich habe ihm gesagt, dass ich gehe und die Kinder mitnehme. Da ist er ausgerastet.“ Die Frau flüstert jetzt. Ihre Stimme zischt unangenehm in mein Ohr. „Ich schlachte euch ab…“, hat er gesagt. Die Frau schluchzt laut auf. „ …dich und die Kinder. Die Kinder auch, verstehen Sie? Er bringt uns um. Mich und die Kinder. Helfen Sie mir.“ Die helle Stimme überschlägt sich, wird zu einem hysterischen Kreischen.

„Können Sie etwas vor die Tür schieben, Frau Schneider?“ Ich muss sie beschäftigen, bis die Kollegen kommen. Versuchen, Sie zu beruhigen.

„Was meinen Sie? Das Bett? Das Spielzeugregal? Vielleicht den Kleiderschrank? Zu schwer … Ich schaffe es nicht. Kann nicht …“ Jetzt wimmert sie.

„Frau Schneider, wir schaffen das. Was gibt es denn noch in dem Zimmer? Frau Schneider? Schauen Sie sich um.“ Sie muss doch etwas finden. Wenn er die Tür eintritt … Da höre ich sie wieder.

 „Die Wickelkommode, ich glaube, die geht …“

„Ok. los schieben Sie sie vor die Türe.“ Eine Weile bleibt es still. Ich höre meinen Herzschlag. Poch, poch, macht es. Immer schneller. „Frau Schneider, los, schieben sie.“ Jetzt ertönt ein scharrendes, schleifendes Geräusch. Dazwischen die Männerstimme, die immer bedrohlicher klingt. „Mach auf Mandy, verdammt nochmal, mach auf.“ Immer wieder brüllt er das. Das Keuchen der Frau wird lauter. „Hilf mir“, ruft sie, vermutlich ihrem Sohn zu. Und: „Es geht nicht mehr. Die Scheißkommode lässt sich nicht mehr bewegen.“ Dann ist es wieder still.

„Frau Schneider?“ Ich muss versuchen, wieder Kontakt zu ihr zu bekommen. „Frau Schneider, melden Sie sich bitte.“

„Ja.“ Die helle Stimme klingt atemlos, erschöpft.

„Haben Sie es geschafft? Konnten Sie die Kommode vor die Tür schieben?“

„Ja, Paul hat mir geholfen. Ich kann nicht mehr. Wann kommt denn endlich die Polizei?“ Jetzt weint sie wieder.

„Gleich, Frau Schneider, halten Sie noch einen Moment durch. Gleich sind die Kollegen da. Wo ist denn ihr Mann jetzt? Können Sie ihn hören?“

„Nein, es rührt sich nichts. Ich habe Angst. Vielleicht ist er in der Garage. Da ist ein Beil. Das nimmt er immer fürs Feuerholz. Wir haben einen Kamin, wissen Sie.“ Ihre Stimme schraubt sich wieder in die Höhe. Verdammt, ich muss sie beruhigen, verhindern, dass sie hysterisch wird. Da ist ja auch noch das Kind.

„Wie geht es dem Jungen, Frau Schneider?“

„Paul?“ Die Stimme der jungen Frau bricht. Dann höre ich wieder dieses Wimmern, dieses entsetzliche Wimmern, wie von einem kleinen Tier.

„Was macht Paul, Frau Schneider? Geht es ihm gut?“ Ich muss sie ablenken. Verdammt, wo bleiben die Kollegen? Müssten sie nicht längst da sein? Ich kenne solche Situationen zu gut, wenn sich die Zeit dehnt und man wartet und wartet und nichts geschieht.

„Hallo, hören Sie mich? Paul sitzt nur da, sitzt und schaukelt, hält sich die Arme um den Bauch und schaukelt. Was soll ich tun. Ich kann nicht mehr, wissen Sie. Hab die ganze Nacht nicht geschlafen. Er hat schon gestern Nachmittag angefangen zu trinken. Und, als er nach Hause kam, habe ich ihm gesagt, dass ich die Kinder nehmen werde und gehe. Da ist er völlig ausgerastet. Hat mich durchs Haus gejagt. Ich konnte mit Paul hierhin flüchten. Kommen Sie schnell, Ihre Kollegen, sie sollen sich beeilen. Julia, wissen Sie… Meine Tochter… Sie kommt gleich aus der Schule.“ Die helle Stimme prasselt wie ein Trommelfeuer auf mich ein.

„Frau Schneider“, unterbreche ich den Redefluss. „ Es ist mitten in der Nacht. Ihre Tochter kann nicht in der Schule sein.“

„Schule? Sie machen mich ganz verrückt. Wen meinen Sie? Was wollen Sie?“ Die Frau klingt jetzt verwirrt. Ich sollte sie beruhigen. Aber zuerst muss ich wissen, was mit den Kindern ist. Ob sie in Gefahr sind. „Wo ist ihre Tochter? Wo ist Julia?“

„Julia? Ach, ich weiß nicht. Sie machen mich durcheinander.“ Sie wirkt zusehends verstörter. Ich muss etwas tun. Sie dreht sonst durch.

„Was ist mit dem Jungen? Wie geht es ihm? Sprechen Sie mit Paul, Frau Schneider. Sprechen Sie mit Ihrem Sohn. Erzählen Sie ihm seine Lieblingsgeschichte. Oder singen Sie ihm etwas vor. Halt, warten Sie. Legen Sie das Handy in Ihre Nähe. Ok.?“ Ich höre ein Rauschen und Knirschen. Dann erklingt von ganz fern, wie aus einer Geisterwelt, eine hohe, reine Stimme: „Lalelu, nur der Mann im Mond schaut zu, wenn die kleinen Babies schlafen, dann schlaf auch du.“ Ich muss schlucken. Stelle mir vor, wie sie da sitzt, in dem verrammelten Zimmer, das Kind im Arm und singt,  während ihr die Tränen über das Gesicht laufen und der Mann, den sie vielleicht einmal geliebt hat, in der Garage das Beil holt.

„Lalelu … .“ Ihr Gesang dringt direkt in meinen Kopf, füllt ihn ganz aus. Ich nehme den Kopfhörer ab, nur einen kleinen Moment. Zu sehr trifft mich diese Stimme ins Herz. Als ich ihn wieder aufsetze, singt sie grade die letzten Worte.  „… dann schlaf auch du.“ Ich höre Schritte. Jetzt klingt es, als würde jemand an der Türklinke rütteln und gegen das Holz schlagen.

„Mach auf“, das ist die männliche Stimme. „Gottverdammt, mach diese Tür auf. Ich tue dir doch nichts. Ich liebe dich doch.“ Den Rest kann ich nicht verstehen.

„Frau Schneider“, rufe ich ins Mikro. Aber sie antwortet nicht. Ich muss sie davon abhalten, ihm die Türe zu öffnen. „Frau Schneider, bitte, hören sie mir zu.“

„Ja.“ Die Stimme ist jetzt etwas kräftiger als vorhin. Das Singen scheint sie beruhigt zu haben. „Er hat versprochen, dass er uns in Ruhe lässt, wenn ich aufmache. Er will sich entschuldigen.“

„Frau Schneider, wie oft hat er das schon gesagt? Bitte, lassen sie ihn nicht herein. Die Kollegen sind gleich bei Ihnen. Warten Sie so lange, bitte. “ Lieber Gott, lass sie durchhalten. Wie viele Frauen habe ich schon erlebt, die immer wieder zu ihren prügelnden Männern zurückgingen, bis diese wieder die Kontrolle verloren. Ein ewiger Kreislauf. Warum? Sie sind doch nicht dumm. Warum tun sie das. Warum glauben sie ihnen immer wieder? Bis sie krankenhausreif oder totgeschlagen werden.

„Frau Schneider? Wo sind Sie? Was machen Sie?“ Jetzt überschlägt sich meine Stimme. Ich atme tief in den Bauch. „Frau Schneider, melden Sie sich doch.“ Ich höre das schleifende Geräusch. Sie schiebt die Kommode … „Nein, Frau Schneider, bitte…“ Aber sie antwortet nicht. Ich spüre den Schweiß von meiner Stirn an der Nase entlang in den Mund tropfen. Er schmeckt salzig. So, wie auch Tränen schmecken. Sie antwortet nicht. Hat wohl das Handy weggelegt.

„Braves Mädchen.“ Das ist der Mann.

 „Lass mich los. Du sollst mich loslassen.“  Die Frau schreit. Ihre Stimme schraubt sich in wieder in die Höhe bis zu einem schrillen Kreischen.

„Was hast du getan?“ Das ist wieder der Mann.

Das Kreischen ebbt ab, wird leiser. Dann höre ich nichts mehr.

Endlich. Das Martinshorn. Quietschende Bremsen und zuschlagende Autotüren.

Ich schaue auf meine Hand, die auf dem Tisch liegt. Die Knöchel schauen weiß heraus. Bitte, lieber Gott…, flüstere ich und füge hinzu: … falls es dich gibt.“ Dann lege ich meine Hände auf den Tisch und warte. Sehe durch die Scheibe meine Kollegen und Kolleginnen vor ihren Monitoren sitzen. Ich versuche, tief zu atmen. Will das beklemmende Gefühl loswerden. Weiß, dass es den anderen auch immer wieder einmal so geht, wenn die innere Mauer risse bekommt und man plötzlich zu nah dran ist an dem Leid der anderen.

 „Hallo Einsatzzentrale.“ Das ist Harrys vertraute Stimme.

„Habt ihr ihn? Was ist mit der Frau und dem Jungen?“ Ich höre meine Atemlosigkeit.

„Ja, wir haben ihn. Die Frau ist schwer verletzt, aber sie lebt noch.“ Harry räuspert sich.

„Und Paul. Was ist mit dem Jungen? Und Julia, der Tochter?“

„Kinder? Es gibt hier keine Kinder. Nur den Mann. Der sitzt hier und weint. Seine Frau wäre völlig ausgeflippt, sagt er. Hätte sich im Schlafzimmer verschanzt. Mit einem Beil. Ihm gedroht, dass sie ihn umbringt. “

„Aber das stimmt nicht. Er wollte sie doch umbringen. Sie und die Kinder. Sie war doch so verzweifelt.“ Ich schreie fast.

„Ist gut, Silke, du hast einen guten Job gemacht. Wir blicken auch noch nicht durch, was genau passiert ist. Die Frau ist auf dem Weg ins Krankenhaus. Sie wird durchkommen.“

„Ja, Harry, ok.“, höre ich mich sagen. Jetzt ist es fast still in meiner Kabine. Nur die Stimmen der Kollegen hinter den Glasscheiben, ab und zu ein Türen schlagen und das Summen des Kühlschranks  dringen wie aus einer anderen Welt zu mir und dröhnen in meinen Ohren. Vielleicht sollte ich aufhören damit, denke ich, etwas anderes machen. Hanno drängt mich immer wieder. Es tue mir nicht gut, sagt er. Und, das könne doch niemand aushalten auf Dauer. Er hat recht, in vielem hat er recht. Ja, vielleicht sollte ich…

Das Klingeln des Telefons schreckt mich aus meinen Gedanken auf.

„Polizei Köln. Was kann ich für sie tun?“, sage ich und, „Können Sie bitte etwas lauter sprechen.“

 

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