Von Angelika Brox

Der junge Mann tut mir leid. Er stöhnt, lässt sich gegen die Rückenlehne fallen, beugt sich wieder vor, stemmt die Ellbogen auf die Tischplatte, lässt den Kopf schwer auf die Fäuste sinken und starrt auf den Monitor.
Neugierig, wie ich bin, schaue ich ihm über die Schulter.
„1. Kapitel“, lese ich. Der Rest der Seite ist leer. Wie lange sitzt er wohl schon hier?
Mit einem tiefen Seufzer strafft er die Schultern und tippt: „Es war ein heller, sonniger Tag.“
Oh je, denke ich.
„Aaarrrgh!“, schreit der junge Mann und löscht den Satz. Verzweifelt hämmert er auf die Tastatur ein und schreibt: „Es war eine dunkle, stürmische Nacht.“
Dann fängt er an zu lachen. Zum Glück – ich dachte schon, er meint das ernst. Ich bekomme Lust, ihn zu küssen.
Wie viel Mühe sich schon manch einer gab, um von mir geküsst zu werden!
Marcel Proust zum Beispiel richtete sich eine schalldichte Dunkelkammer ein und wartete darauf, dass ich ihm half, seine geistigen Bilder zu entwickeln. Als Friedrich Schiller am „Wilhelm Tell“ arbeitete, hängte er um sich herum Karten und Landschaftsbilder der Schweiz auf. William Faulkner tapezierte seine Schlafstube mit Plänen der Kapitel seines aktuellen Werkes und hoffte auf einen Gute-Nacht-Kuss von mir. Gerhart Hauptmann kritzelte seine Notizen direkt, wo er ging und stand, auf die Wände. Das fand ich lustig. Natürlich küsste ich auch ihn.
Um nun diesen bedauernswerten Jungautor aus seiner Schaffenskrise zu erlösen, scheint mir Friedrich Nietzsches Methode am besten geeignet. Damals auf seiner Italienreise wanderten wir durch Olivenwälder und duftende Orangenhaine, dabei dichteten wir gemeinsam: „Ich schreib nicht mit der Hand allein, / der Fuß will stets mit Schreiber sein. / Fest, frei und tapfer läuft er mir / bald durch das Feld, bald durchs Papier.“ Das Lachen tat Friedrich gut, denn der Ärmste hatte so manches körperliche und seelische Päckchen zu tragen.
Unhörbar übermittle ich meinem werdenden Schriftsteller die Botschaft: „Lass locker! Mach mal einen Spaziergang!“
Tatsächlich schaltet er den Computer aus, zieht eine Jacke an und verlässt das Haus. Sehr gut. Das lässt die blockierten Gedanken wieder fließen.
Vielen geht es so, dass sie draußen kreativer werden. Peter Altenberg beispielsweise saß häufig in einem Wiener Kaffeehaus und beobachtete die Leute. Oft wies ich ihn auf Szenen hin, die sich wunderbar literarisch verarbeiten ließen.
Für Marie Luise Kaschnitz war es sogar eine Notwendigkeit, in Cafés zu schreiben. Auf diese Weise stahl sie sich kleine Fluchten aus ihrem Hausfrauen- und Mutteralltag und schrieb Gedichte in ihr Schreibheft. Wegen dieser Liebe zur Poesie liebte ich sie und beschenkte sie mit besonders schönen Einfällen.
Für Antoine de Saint-Exupéry musste es der weite Himmel sein. Auf einem seiner Flüge gab ich ihm einen windhauchzarten Kuss und flüsterte ihm zu: „Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ Er mochte den Satz sofort.
Auch bei meinem aktuellen Schützling beginnt die Luftveränderung zu wirken. Er hält seinen Kopf nicht länger gesenkt, sondern schaut interessiert umher. Gut so! Denn was nützt es, wenn ich pausenlos Geistesblitze funke und der Empfänger keine Antennen dafür hat?
Ein anschauliches Beispiel für den wachen Blick zur rechten Zeit bot Robert Louis Stevenson. Seit Jahren schon wollte er einen Roman schreiben, doch er brachte immer nur kurze Geschichten zustande. Während eines verregneten Schottland-Urlaubs inspirierte ich seinen Sohn, eine Landkarte von einer Insel mit Häfen, Bergen, Wäldern und einem vergrabenen Schatz zu malen. Kaum sah Robert die Zeichnung, zog sie ihn magisch an und ich konnte in seiner Vorstellung Figuren lebendig werden lassen, die durch das Gelände streiften, kämpften und nach dem Schatz suchten. Dies war mein kleiner Beitrag zur Entstehung der „Schatzinsel“, auf den ich heute noch stolz bin.
Ganz ähnlich wurde Astrid Lindgren von ihrer Tochter zu einem Buch angeregt. Eines Tages erfand das Kind einen lustigen Namen: „Pippi Langstrumpf.“ Ich ließ sofort Astrids Fantasie anspringen und sie malte sich aus, wie wohl ein Mädchen wäre, das so heißt.
Mein junger Mann beginnt zu summen. Ich folge ihm zurück an den Schreibtisch. Er fährt den Computer hoch und öffnet die Datei „Roman“. Auf Seite 1 steht immer noch „1. Kapitel“ und sonst nichts.
Ich hauche ihm einen Kuss aufs Ohr und flüstere: „Du weißt doch, wie die Geschichte enden soll, oder? Wenn du keinen Anfang findest, beginne doch einfach mit dem Schluss!“
„Yeah!“, ruft er und tippt los.
Als ich sehe, wie seine Finger immer schneller über die Tasten fliegen, lächle ich und ziehe mich zurück. Im Moment braucht er mich nicht mehr. In einigen Tagen werde ich ihn noch einmal besuchen.
 

 

 

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