Von Silvia Friedrich

Es war schon spät in der Nacht, als ich in meinem Bett lag und nicht einschlafen konnte. Draußen tobte ein Sturm und der Regen klatschte gegen die Fensterscheiben.

Die Straßenlaterne direkt vor meinem Haus leuchtete in das Zimmer hinein und warf  Schatten an die Wand, die vom alten Walnussbaum herrührten, der heftig vom Wind geschüttelt wurde. Aus irgendeinem Grund lag ich schon lange wach. Vielleicht war ich nicht müde genug. Oder es rührte von der vielen Arbeit im Büro her. Alle Aktenvorgänge des Tages, die ich hatte bearbeiten müssen, kreisten in meinem Kopf wie in einem Jahrmarktskarussell. Um mich abzulenken, sah ich den Schatten an der Wand zu, wie sie hin- und her tänzelten und immer neue Figuren entstehen ließen. Grade glaubte ich einen Elefanten gesehen zu haben, dann änderte sich das Ganze in eine Giraffe um. Jetzt malte das Straßenlicht einen Löwen und schließlich eine ganze Entenfamilie an meine Tapete. Die Ziffern meines Weckers leuchteten. Es war nun genau Mitternacht. Im Hause schlief niemand außer mir. Zehn Zimmer für mich ganz allein. Ich hatte das Anwesen geerbt, vor Jahren schon. Meine betuchten Eltern hinterließen es mir. Geschwister hatte ich keine. So gab es für mich als einzigen Sohn bei der Erberei keine Probleme. Ab und zu kam es mir so vor, als hörte ich Geräusche im Haus.  Nicht nur in dieser Nacht, nein, jede Nacht. Ein lautstarkes Schnarchen machte mich oft wach und dann wusste ich nie, ob ich es selber gewesen war, der die Dunkelheit mit diesen Geräuschen zersägte. Auch heute schien ein Schnarchen von irgendwoher zu kommen. Draußen schlug die Kirchturmuhr zwölfmal. Bim-Bim-Bim…

Ich versuchte mitzuzählen, kam aber nur bis zum vierten „Bim“, denn plötzlich hörte ich ein Rascheln im Zimmer. Irgendwas bewegte sich im Kleiderschrank.

Ich setzte mich auf in meinem Bett und lauschte. Während ich meinen Blick auf den Schrank richtete, ging ganz langsam die Schranktür auf. Zunächst sah ich nichts. Es war zu dunkel. Dann schaltete ich geistesgegenwärtig die Nachttischlampe an. Und tatsächlich. Die Schranktür stand weit auf und durch die Kleider wühlte sich eine kleine Gestalt ins Zimmer. Sie schien nicht gut herausklettern zu können und warf die vielen Kleidungsstücke eines nach dem anderen vor sich hin.

„Wer ist da?“, flüsterte ich. Merkwürdigerweise hatte ich überhaupt keine Angst, was wohl daran lag, dass die Gestalt oder das, was ich davon sehen konnte, eher einem Kind ähnelte und ich die Absurdität der Situation nicht wahrnahm. Ich wiederholte meine Frage. Keine Antwort. Stattdessen ein wütendes dumpfes Schimpfen unter einem Berg von Pullovern, Hemden und Jacketts. Endlich erhob sich dieses Etwas aus dem Wäschegefängnis, hatte dabei aber eine Schlafanzughose über dem Haupt. Ob sich darunter ein Kopf befand, konnte ich noch nicht ausmachen. Mit einem Ruck zog es sich den gestreiften Baumwollstoff herunter und ich erkannte ein Wesen, bei dem es sich ganz offensichtlich um ein Mädchen handelte. Nicht, dass man körperliche Formen erkennen konnte. Dazu war sie noch zu jung. Aber deutlich sichtbar standen vom Kopf zwei rote Zöpfe ab und wippten lustig in der Gegend herum. Ich hatte diese Konstruktion schon bei der über den Kopf gestülpten Schlafanzughose ausmachen können, wusste aber nicht, was die weit abstehenden Hörner bedeuten sollten.

„Wer bist denn du“, entflutschte es mir, nun doch einigermaßen aufgeregt. „Was machst du , um Himmels Willen, in meinem Kleiderschrank? Wo kommst du denn her“, wagte ich sie zu fragen, während ich überlegte, ob ich tagsüber irgendwo ein Fenster hatte aufstehen lassen.

„Viel zu viele Fragen,“ murmelte sie zurück. Sie schubste die herumliegende Wäsche  mit den Füßen zu einem großen Haufen zusammen. Auffällig waren ihre übergroßen Schuhe.

„Na gut, ich fange ´mal mit der ersten an.“ Ein Stimmungswandel schien sich bei meinem nächtlichen Gast anzukündigen.

„Ich heiße Pippi , wohne in deinem Schrank und komme aus dem gleichnamigen Buch“, sagte sie. Ich hatte dieses Buch nie gelesen. Schließlich war es ein Mädchenbuch und sich damit erwischen zu lassen, hätte peinlich werden können.

„Ich habe keine Lust mehr, so klein zu sein“, tönte es plötzlich von meinem Gegenüber.

„Ich habe es satt, immer nur das kleine, freche Mädchen zu sein. Ich möchte auch diese blöden Sachen nicht mehr anziehen, sondern mich fein machen, Schminke ausprobieren und hübschen Jungen die Köpfe verdrehen.“

Trotzig ließ sie sich mitten auf den Wäscheberg fallen. Abgesehen davon, dass die Situation absurder kaum sein konnte, fiel mir nicht das Geringste ein, womit ich ihr helfen konnte. Ich hatte keine Ahnung, warum Frau Lindgren ihre Pippi-Figur nicht hatte erwachsen werden lassen. Schließlich wollen wir alle doch ´mal aus den Kinderschuhen heraus und das andere Geschlecht wenigstens ansatzweise näher kennenlernen. Und..äh.. auch mehr, wenn möglich.

Sie überlegte eine Weile, sah mich dann eindringlich an: „Finden sie mich hübsch?“

„Äh, ja doch…“ antwortete ich und hoffte, dass sie meine Lügerei nicht bemerkte.

„Sie lügen“, sagte sie, stand auf und begann mich mit Wäschestücken zu bewerfen.

„Nein, du bist sicher hübsch, aber eben noch sehr klein und dann diese komischen Zöpfe und so,“ rief ich außer Atem, weil ich die ganze Zeit bemüht war, die Kleidungsstücke von mir abzuwehren.

„Vielleicht solltest du zunächst einmal aus meinem Kleiderschrank ausziehen und dich an irgendeine öffentliche Stelle wenden. Vielleicht können die dir helfen“, rief ich ihr zu. Ich hatte nicht die geringste Idee, wie man einer Romanfigur dazu verhelfen könnte, zu wachsen. Den Gedanken, mich an die Polizei zu wenden, verwarf ich gleich wieder. Wenn die Beamten in meinem Schlafzimmer ein minderjähriges Mädchen fänden, könnte sich mein bisheriges Leben gewaltig ändern. Sie kam näher, setzte sich auf meine Bettkante und blickte mich an. Ich musste lächeln, weil die roten Zöpfe wippten bei jeder ihrer Bewegungen. Zu gerne hätte ich gewusst, ob sie von alleine jedem Gravitationsgesetz widerstanden, oder ob sie durch Draht in diese Haltung gezwungen wurden.

„Darf ich sie einmal anfassen“, fragte ich vorsichtig.

„Wenn du willst“, antwortete sie traurig und mit gesenktem Kopf. Anscheinend hatten dieses Ansinnen schon viele an sie herangetragen. Ich ließ es.

„Magst du dich nebenan auf das Bett legen und erstmal ausschlafen“, schlug ich ihr vor.

Sie nickte, erhob sich und ging wie selbstverständlich nach nebenan, so, als ob sie das Haus genau kannte.

„Darf ich die Tür auflassen“, fragte sie mich, bevor sie ganz im Nebenraum verschwand.

„Ja, natürlich,“ entgegnete ich. Ich horchte noch darauf, ob nebenan Ruhe einkehrte. Dann war alles still und ich sank zurück in die Kissen. Ein gedämpftes Schnarchen wurde hörbar.

Als ich am nächsten Morgen ins Nebenzimmer trat, schien das Bett unbenutzt. Auch musste sie des Nachts die Unordnung im Kleiderschrank wieder aufgeräumt haben. Ich konnte sie nirgends finden.

Oder, hatte ich doch alles nur geträumt?