Von Florian Ehrhardt

Dann wird alles dunkel. Komplett. Eine Dunkelheit, die ich noch nie erlebt habe. Schwarz wie die Nacht. Aber nicht schwarz, wie in der Stadt, wo Straßenlaternen die Nacht erhellen, sondern schwarz, wie auf einer abgelegenen Berghütte. Aber nicht ruhig, klar und von tausenden Sternen beleuchtet, sondern dunkel, kalt und gleichzeitig auch laut. Hektisch. Schwarz und furchteinflößend. Habe ich nicht gerade auch einen erschrockenen Schrei in diesem kalten Niemandsland gehört? Ich lausche. Nichts. Die Dunkelheit scheint zu pulsieren, es frisst mich auf. Wo bin ich? Wie bin ich hier hergekommen? Wo war ich eigentlich gerade? Und wer bin ich? Mein Gedächtnis ist ausgelöscht. Zwischen meinen Ohren scheint nur Leere zu sein. Nichts. Ich muss herausfinden, was hier los ist. Antworten finden. Aber da ist nichts.

„Hallo?“ Mein Ruf hallt durch die Leere.

Und wird doch verschluckt.

„Hallo?!“

Wieder erhalte ich keine Antwort. Von wem auch. Ich will beginnen zu laufen, doch ich bewege mich nicht. Es fühlt sich an, als ob dieser Raum hüfthoch mit Wasser gefüllt wäre. Ich muss all meine Kraft aufwenden, um gegen diese Strömung anzukommen. Ich bewege mich nicht und bewege mich gleichzeitig doch. Um mich herum bleibt alles gleich. Alles schwarz, dunkel und kalt. Ich weiß nicht, wie lange ich mich schon durch diese Dunkelheit bewege. Oder ob ich mich überhaupt bewege. Schließlich gibt es hier keine Anhaltspunkte zum Orientieren, die mir zeigen könnten, ob es voran geht. Es ist wie auf einem Laufband in einem Fitnessstudio. Aber wo ist der Knopf um es auszuschalten? Meine nackten Füße berühren den Boden, der sich anfühlt, als wäre er nicht da.

Ich rufe noch einmal. „Hallo?! Wo bin ich?“ Und ich wandere weiter.

 

Endlich. Ein orangenes Licht. Weit und entfernt und doch direkt vor mir. Wie ein Sonnenaufgang, in einem verdreckten Industriegebiet, der von einer Wolke aus Smog und giftigen Dämpfen verdeckt wird. Aber dieses vergiftete Licht weist mir den Weg. Ich weiß nicht, wohin er führt. Ich folge dem orangenen Schein trotzdem. Wände! Ich sehe Wände! Der Raum, durch den ich mich seit Stunden bewege, hat also ein Ende. Ich muss in einem Korridor sein! Endlich Antworten! Ich sehe einen Stuhl. Über dem Stuhl hängt eine Lampe. Wobei es einfach nur eine matte Glühbirne ist, die von einem mit weißem Plastik überzogenem Kabel baumelt. Von ihr geht das orangene Licht aus. Staub sammelt sich auf dem Kabel. Hinter dem Stuhl, einem alter Dreibeiner aus Holz, sehe ich eine Tür. Ich gehe auf sie zu. Drücke die Klinke herunter. Sie gibt nicht nach. Verschlossen. Eine Frage beantwortet, eine neue Frage tut sich auf.

 

„Ziehen Sie erst ein Ticket! Warten Sie, bis Ihre Nummer aufgerufen wird.“

Ich zucke zusammen.

Die Frau tippt mir auf die Schulter. Sie ist mittleren Alters, hat dünne, schwarze Haare und sieht mich unfreundlich an. Ihr Blick lässt einen Brechreiz durch meinen Hals nach oben wandern. Gerade noch so kann ich das Würgen unterdrücken. Bilder von verdorbenem Essen, Schimmel und Nacktschnecken tanzen vor meinem geistigen Auge. Sie blickt mich weiter wortlos an. Irgendwie sind ihre Augen zu nah beieinander. Seltsam verdreht. Es sind kleine, stechende Augen. Ich meine, ein kurzes und bösartiges Funkeln in diesen Augen erkennen und zucke zusammen. Ihr Ausdruck bleibt regungslos. Ihre Lippen sind eng aufeinander gepresst. Ich kann ihr nicht lange ins Gesicht blicken, ohne dass mir ein kalter Schauer über den Rücken läuft.

Sie weist auf ein Ding über dem Türrahmen.

Der Zähler über der Tür ist mir nicht aufgefallen. Bisher. Doch jetzt sehe ich ihn. Er zeigt eine Zahl an.

 

000 005 748 152 204 299

 

Der Zähler klickt weiter: 000 005 748 152 204 300

Ich will mich umdrehen und die Frau fragen, wo sie herkommt und was sie hier macht. Und natürlich soll sie mir meine wichtigste Frage beantworten: Wie komme ich von hier weg?

Ich drehe mich um, doch sie ist spurlos verschwunden. Irgendwie bin ich erleichtert darüber. Aber meine Fragen werden jetzt unbeantwortet bleiben. Also muss wohl oder übel ihrer Anweisung folgen: Ich erkenne ein altmodisch anmutendes Gerät neben der Tür. „HIER TICKET ZIEHEN“ steht in großen, roten Buchstaben über der Kartenausgabe. Ich folge den Anweisungen der Frau. Auch wenn sie nicht mehr da ist habe ich das Gefühl, dass es keine gute Idee wäre, ihre Regeln zu missachten. Gespannt starre ich auf meinen Zettel.

 

000 024 628 672 102 001

 

Das kann doch nicht sein.

Klick.

Das ist unmöglich.

Klick.

Ich würde ja Jahrhunderte lang warten.

Klick.

Das kann einfach nicht sein.

Klick.

Das ist ein Albtraum.

Klick.

Ich drücke die Türklinke noch einmal herunter. Nichts.

Nur das Klicken. Das Geräusch macht mich wahnsinnig.

Ich drücke fester. Mit all meiner Kraft. Die Tür, die aus altem, braunem Holz gebaut ist, gibt keinen Zentimeter nach. Ich werfe mich gegen die Tür. Meine Schulter tut weh. Die Tür hat sich nicht bewegt. Das Holz sieht morsch und verwest aus, aber meine Schulter signalisiert mir, dass das nur eine Illusion sein kann.

Nebel scheint durch den Raum zu wabern.

Die Tür bleibt unverändert.

Ich entschließe mich, mich erst einmal auf den Stuhl zu setzen. Was bleibt mir auch anderes übrig. Ich bin ja noch nicht dran. Und außerdem erschöpft.

Klick.

Die Sekunden verstreichen. Meine Nummer ist noch längst nicht aufgerufen. Immer wieder macht es „Klick“, manchmal in kürzeren, Mal auch in längeren Abständen. Aus Sekunden werden Stunden. Ich habe keinen Hunger. Und doch fühlt sich mein Magen seltsam leer an. Ich habe keinen Durst. Meine Lippen sind trotzdem furchtbar ausgetrocknet. Ich muss auch nicht aufs Klo. Und doch…

Immer nur dieses Klicken. Endlos und immer gleich. Ich sollte Angst haben, doch aus irgendeinem Grund bin ich entspannt. Wobei: Entspannt ist doch das falsche Wort. Es fühlt sich mehr an wie Resignation. Wie das Gefühl wenn die Fußballmannschaft, die man mag, kurz vor Schluss zu deutlich hinten liegt, um noch etwas zu ändern. Dieses Gefühl, das einem sagt: Das wird sowieso nichts mehr.

Und so verwerfe ich den Gedanken, aufzustehen, denn was würde es bringen? Die Tür wird sich nicht öffnen. Das ist mir mittlerweile klar. Doch es gibt noch einen anderen Grund, warum ich nicht aufstehe.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt aufstehen kann, wenn ich versuche, mich zu erheben. Vielleicht klebe ich ja sonst einfach an diesem Stuhl fest. Ich will nicht herausfinden, was geschehen würde, wenn ich es auch nur wage, aufzustehen. Oder wenn ich nur den Versuch starte. Allein der Gedanke daran lässt mich fühlen, als ob eine unbekannte Kraft gegen meinen Brustkorb drückt. Das Atmen fällt mir schwerer. Und so bleibe ich sitzen, bevor ich dieses schreckliche Gefühl gar nicht mehr abschütteln kann.

 

Das orangene Licht brennt weiter über mir, während aus Stunden sicherlich schon Jahre geworden sind. Ist das überhaupt noch möglich? Die Glühbirne müsste längst durchgebrannt sein.

Und vor allem: Ich müsste längst verhungert sein. Und doch bin ich hier. Kein Hunger, kein Durst, das Klicken des Zählers scheint mich zu ernähren. Wie um mich zu widerlegen knurrt mein Magen ein leises und verhaltenes Knurren. Die Zeit fließt an mir vorbei. Bei jedem Klick schaue ich nach oben, obwohl ich weiß, dass meine Nummer noch lange nicht vom Zähler angezeigt werden kann. Wie hypnotisiert starre ich weiter auf den verwitterten Holzrahmen der Tür.

 

Dann klickt es anders als Millionen Male zuvor. Diesmal klickt auch das Schloss der Tür. Ich kann es nicht sehen, aber ich weiß es. Nicht nur weil ich es gehört habe. Ich weiß es einfach. Ich bin eins mit der Tür. Wie in Trance schaue ich auf meine Nummer. Gleiche sie mit der über der Tür ab. Ich kann es nicht fassen, die Nummern sind tatsächlich identisch. Es müssen Jahre vergangen sein. Aber ich weiß noch ganz genau, wie die gruselige Frau im Raum stand. Ihr Befehlston klingt in meinem Kopf nach. Reflexartig will ich mir die Ohren zuhalten. Der Gedanke an dieses seltsame Gesicht jagt mir noch einmal Schauer über den Rücken. Diese Augen! Wie im Traum laufe ich zur Tür. Ich drücke die Klinke herunter, die ich schon einmal gedrückt habe. Diesmal gibt die Tür endlich nach.

 

Ich stecke meinen Kopf durch die Tür.

Trete durch den braunen Holzrahmen hindurch. Währenddessen werfe ich noch einen letzten Blick in den Raum, aus dem ich gerade gekommen bin. Als ob ich erwarten würde, dass er verschwunden ist. Das orangene Licht hinter mir flackert. Ich gehe weiter. Die Tür schließt sich und die Welt wird in ein Grelles Licht getaucht.

Plötzlich kann ich alles sehen. Jetzt wird mir alles klar. Alle Farben, Töne und Gerüche der Welt prasseln auf mein Hirn ein und legen es fast lahm. Ich sehe alles! Und dann sehe ich das, was ich sehen will. Die Antworten, auf die ich nun schon so lange warte.

Ich sehe mich selbst. Ich liege da. Aber ich bin nicht allein. Schemenhafte Gestalten stehen um mich herum. Was tue ich da nur? Ich muss mich konzentrieren. Ist das etwa…Oh nein!  

Aber es ist nur ein kurzes, helles und doch so kräftiges Aufblitzen der Erkenntnis. Es trifft mich mit voller Wucht. Aber nur für wenige Bruchteile einer Sekunde darf ich einen Blick erhaschen. Ein Schrei entfährt mir.

Dann wird alles dunkel. Komplett.

 

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