Von Ingo Pietsch

Ich schreckte aus dem Schlaf hoch.

Die Sonne knallte mit vollem Schein auf mein total zerwühltes Bett und mir mitten ins Gesicht.

Fast blind kämpfte ich gegen die Strahlen an und schaffte es mit letzter Kraft das Rollo runterzulassen.

Völlig erschöpft ließ ich mich wieder rücklings auf mein Bett fallen.

Was war noch mal gestern Abend gewesen und wie war ich nach hause gekommen?

Ich trug immer noch Jeans und ein Hemd. Ich schnüffelte daran, in der Hoffnung, meine Erinnerung würde zurückkehren.

Alkohol, Rauch, ein Frauenparfum.

„Tobi, hast du meinen Autoschlüssel noch?“, rief meine Mutter von unten.

Nein! Der Van! Irgendwo machte es Klick und damit setzten auch fürchterliche Kopfschmerzen ein. Und nicht nur das: Mir wurde auf ein Mal speiübel und ich erreichte gerade noch rechtzeitig die Toilette.

„Tobi, ist da oben alles klar?“

Ich wischte mir den Mund ab und lallte: „Ja, alles OK.“ Dann spülte ich und stellte mit einem Blick ins Klo fest, dass wir anscheinend auch gegrillt hatten.

Ich lehnte mich an die Badewanne und versuchte einen erneuten Brechreiz zu unterdrücken.

Wir! Genau! Ich war mit meinen Kumpels unterwegs gewesen, um den achtzehnten Geburtstag von Niklas zu feiern.

Wir sechs Freunde kannten uns schon seit dem Kindergarten und waren eine eingeschworene Gruppe, die schon mal gerne um die Häuser zog.

Ich zog mich am Badewannenrand hoch und stutzte: Mir war gar nicht aufgefallen, dass an meinem linken Handgelenk eine rosa Plüschhandschelle hing. Ich zerrte daran, da sie nicht sonderlich stabil erschien, aber sie erfüllte ihren Zweck. So einfach ging sie nicht auf.

Und dann kam der nächste Schreckmoment, als ich in den Spiegel schaute.

Ich war eh schon wackelig auf den Beinen, aber der Anblick sorgte dafür, dass ich wieder zu Boden ging.

Blutunterlaufende Augen und dunkle Ringe drumherum. Total zerfilztes Haar. Kratzer im Gesicht, als wäre ich durch Dornenbüsche gerannt.

Zurück zum Van. Ich hatte den Wagen gestern Abend von meinen Eltern geliehen, weil ich mit meinen Kumpels zu einem Grillplatz fahren wollte. Und ich hatte fest versprochen nichts zu trinken. Noch viel schlimmer war, dass ich nicht mehr wusste, wie der Rückweg ausgesehen hatte.

Alles drehte sich. Ich wankte in den Flur und spähte aus dem Fenster. Zumindest stand das Auto in der Einfahrt. Zwar schräg, aber von hier oben aus gesehen unversehrt. Und es war sehr staubig.

Ich schlug mir instinktiv an die Stirn, was ich lieber hätte lassen sollen. Die Gedanken wanderten wie in Watte gepackt durch meinen Kopf.

Die Grillhütte befand sich nicht weit von hier in einem kleinen Waldstück. Die letzten paar Minuten fuhr man über einen unbefestigten Weg, dessen unzählige Schlaglöcher mit Schotter aufgefüllt worden waren.

Wir hatten den Kofferraum mit Bierkisten, einem Karton mit Spirituosen und Grillzeug vollgepackt. Die Flaschen klirrten ununterbrochen, weil der Weg so holperig war.

Dann kam die Hütte in Sicht. Sie stand an einer angrenzenden gepflegten Lichtung mit Spielgeräten. Jeder, der wollte, konnte die Hütte mieten. Heute waren wir dran.

Und dann überkam mich die Panik. Vor dem Gelände stand ein Polizeiauto und davor winkten uns zwei Polizistinnen zu.

Ich hauchte in meine Handfläche.

Das eine Bierchen würde beim Pusten bestimmt nicht angezeigt werden. Und wenn doch, würden mir meine Eltern nie wieder ihr Auto leihen.

Eine brünette Polizistin kam zu mir auf die Fahrerseite, die andere, eine Blondine, blieb an der Schiebetür stehen.

Ich ließ die Scheibe herunter.

„Ausweis und Fahrzeugschein bitte“, sagte die junge Frau zu mir.

Mit Schweiß auf der Stirn zog ich mein Portmonee, suchte an der Sonnenblende den Schein und reichte ihr beides nach draußen. Obwohl ich nervös war, fiel mir das viel zu starke Parfum und die mindestens zwei Nummern zu kleine Uniform auf.

Sie besah die Papiere und blickte auf. Auch war sie sehr attraktiv.

Irgendetwas stimmte hier nicht.

„Die Papiere sind nicht in Ordnung. Bitte aussteigen.“ Sie trat einen Schritt zurück und ich hörte, wie die Schiebetür aufgezogen wurde.

„Was ist denn nicht Ordnung?“, wollte ich wissen.

Sie verengte ihre Augen, führte eine Hand an ihren Waffenholster und blaffte mich in herrischem Ton an: „Los! Aussteigen!“

Ich stieg aus und sie schubste mich um den Van herum zu meinen Kumpels.

Wir standen alle nebeneinander und waren völlig verwirrt.

Beide Polizistinnen zogen farbige Plüschhandschellen aus ihrem Gürtel.

„Umdrehen alle Mann!“, die Brünette zog noch zusätzlich einen Gummiknüppel und knuffte jeden von uns, der nicht schnell genug war, in die Seite.

Sie fesselten unsere Hände auf den Rücken und spätestens bei der Leibesvisitation war uns allen klar, dass es sich nicht um die echte Polizei handelte.

Die Blondine riss uns an den Schultern herum und die Brünette drehte im Streifenwagen laut Musik auf.

„Alles Gute von deinen Klassenkameraden!“ Tönte es zwischendurch.

Dann begannen die beiden zu tanzen und sich ihrer Uniform bis auf die Unterwäsche zu entledigen.

Sie bewegten sich sehr dicht an uns auf und ab. Die Blonde zeigte uns den Handschellenschlüssel und ließ ihn in ihrem BH verschwinden.

Das Geburtstagskind durfte zuerst mit gefesselten Händen nach ihm angeln.

Die Brünette hatte ihren Zopf gelöst und ihre Haare kitzelten in meinem Gesicht, als sie mir mit der Stimme meiner Mutter ins Ohr flüsterte: „Tobi, ich brauche den Schlüssel jetzt. Ich habe einen Termin!“

Wie schnell doch eine Erinnerung zum Tagtraum wurde. Und schon war der wieder vorbei.

„Den Schlüssel!“, meine Mutter wurde langsam wütend. Ich durchwühlte meine Taschen und förderte alles ans Tageslicht, von dem ich nicht mehr wusste, wie es dort hingelangt war: Kronkorken, leere Kondompackungen, ein total verklebtes Stück Lakritzschnecke und den Autoschlüssel.

Ich stolperte die Treppe nach unten, weil ich immer noch ganz schwach auf den Beinen war und reichte den Schlüssel meiner Mutter.

„Was ist mit dir denn passiert? Du hast doch hoffentlich nichts getrunken?“

Ich schüttelte den Kopf, um sie bloß nicht anzuhauchen.

„Los, ab mit dir unter die Dusche, wir haben nachher noch einen Termin.“ Sie drehte sich um und ging nach draußen.

Puh, noch mal Glück gehabt. Ich wollte gerade die erste Stufe nehmen, als mich meine Mutter schon wieder rief.

Ich trottete zur Fahrerseite und sie zeigte mir den Tachostand.

„Junger Mann, da war noch für zweihundert Kilometer Benzin drinnen. Wo seid ihr denn noch überall gewesen? Ist auch egal, ich habe es jetzt ein bisschen eilig.“

Ich trat zurück und zog mein Handy aus der Tasche.

Alle Kumpels hatten sich bis auf Niklas im Gruppenchat von gestern Abend zurückgemeldet. Ich postete ein Daumenhoch-Symbol, obwohl ich mich an das Meiste nicht mehr erinnern konnte.

Die anderen hatten ein Erinnerungsfoto von sich mit einer bunten Plüschhandschelle geteilt.

„Wo ist Niklas?“ tippte ich.

Von allen kamen nur Fragezeichen zurück.

Der wird schon irgendwann wieder auftauchen, dachte ich.

Langsam und mit einem durchdringenden Blick rollte meine Mutter an mir vorbei. Ich hoffte, dass keiner ins Auto gekotzt hatte.

Als mich das Auto fast passiert hatte, hörte ich ein Klappern vom Heck. Da hing unten an dem Haken für Abschleppseile eine gelbe, auf beiden Seiten geschlossene, Plüschhandschelle.

Daran hing noch ein Fetzen von dem Hemd, das Niklas am Vortag getragen hatte.

Ich rieb mir die Augen und betete, dass die rote Farbe auf dem Stoff kein Blut war.