Von Rüdiger Pradella

Dies ist der Versuch, die Geschichte eines guten Freundes wiederzugeben, die so unglaublich klingt, dass ich sie für erfunden halten will. Doch wäre es ihm gegenüber unfair, sie euch vorzuenthalten:

 

EINS

 

Es war vor drei Jahren. Ein Bekannter meines Freundes, der gerade 16 Jahre alt geworden war, fuhr mit der Bahn zu seinem Onkel aufs Land. Der Onkel, ein knausriger Kerl ohne Frau und Kinder wohnte in einem alten Fachwerkhaus in einer 300-Seelen-Gemeinde unweit des Deisters.

 

Als der Onkel ihn nicht wie versprochen vom Bahnhof abholte und er sich auch nach dreimaligem Anrufen nicht meldete, beschloss der junge Mann mit dem Taxi zu fahren. Bei seinem Onkel angekommen, bemerkte er, dass dessen blauer VW Passat auf dem Hof stand. Im alten Bauernhaus brannte jedoch kein Licht.

Er klingelte, doch niemand öffnete ihm. Zusätzlich bemerkte er, dass sein sonst so penibler Onkel das Unkraut zwischen den Platten der Einfahrt seit Tagen nicht entfernt hatte. Auch war der Rasen nicht so akkurat gestutzt wie sonst.

Dass er sich ausgesperrt hatte und deshalb anderswo untergekommen war, schloss der junge Mann aus. Sein Onkel würde nicht ohne Schlüssel aus einem verschlossenen Haus gehen. Und selbst wenn: Er würde zumindest einen Ersatzschlüssel deponiert haben.

Er umkreiste das Haus, lugte durch alle Fenster, sah aber keine Person auf dem Sofa oder gar am Boden liegen. Zwar war er beunruhigt, jedoch hatte er auch nicht erwartet, eine seit Tagen verwesende Leiche vorzufinden, da er erst am Tag zuvor mit seinem Onkel am Telefon gesprochen hatte.

 

Als er wieder zur Haustür am Hof kam, stand die Tür sperrangelweit offen.

„Hallo? Onkel? Ich bin’s!“

Er sah auf seine Reisetasche, die immer noch auf dem Pflaster stand. Wäre sein Onkel nicht so schlau gewesen, anzunehmen, dass der Koffer zu ihm gehören könnte oder zumindest zu irgendjemanden, der zu ihm wollte? Er nahm die Tasche und betrat das Vorzimmer, welches als Wärmehalter zwischen Hausflur und Tür lag. Auch die Zwischentür stand offen.

„Onkel?“

 

Keine Antwort. Er ging durch den weiten Flur, sah auf der Anrichte den Haustürschlüssel, die graue Arbeitsjacke hing am Harken. Sein Onkel schien ihn nicht zu hören. Oder war er gar nicht da? Jemand musste ihm doch die Tür geöffnet haben. Er stellte das ganze Haus auf den Kopf, suchte im Obergeschoss, im Speisekeller, im angrenzenden Schuppen, im Wohnzimmer und selbst auf den Toiletten.

Als es immer später wurde, wusste der junge Mann selbst keinen Rat mehr und wollte seine Eltern zu Hause anrufen. Zu seiner Überraschung hatte er im Haus keinen Empfang. Er schob auf ein Funkloch, schnappte sich den Schlüsselbund von der Anrichte und ging hinaus auf die Straße. Etwa 50 Meter die Straße hinunter hatte er schlagartig drei Balken.   

 

ZWEI

 

Groß helfen, konnten seine Eltern ihm auch nicht. Ihr Rat an ihn war, es mit Geduld zu versuchen.

„Wahrscheinlich ist er spazieren gegangen oder bei einem der Nachbarn.“

Wenig befriedigt von der Antwort ging der junge Mann zurück zum Haus. Es war ihm fast unheimlich, als die Balken seines Handys augenblicklich verschwanden und er wieder allein war.

 

Die Bemerkung seiner Eltern, sein Onkel könnte bei Nachbarn sein, hatte in ihm ein unheimliches Gefühl geweckt. Er wusste nicht, warum es ihm nicht schon auf der Fahrt ins Dorf aufgefallen war, aber auch das Nachbarhaus zu seiner Rechten schien merkwürdig verlassen zu wirken. Es brannte kein Licht. Niemand war ihm bislang auf der Straße begegnet. Nirgends bellte ein Hund und keine Katze schlich um die Häuser.

Selbstredend war er sich bewusst, dass es auch daran liegen konnte, dass es langsam Abend wurde. Aber er fragte sich, ob dann nicht die Pendler aus der Stadt nach Hause kommen würden. Überhaupt: Wann schalteten die Hausfrauen die Lampen in der Küche an, um das Abendbrot vorzubereiten? Warum sah er nicht wenigstens das Flackern von Fernsehern in den Fenstern?

Als er zurückkam, war die Tür abgeschlossen. Nicht einfach ins Schloss gefallen, sondern richtig zugesperrt. Er musste den Schlüssel zwei Mal drehen. Seine Finger zitterten dabei. Er hatte ein ungutes Gefühl. Wieder antwortete niemand auf sein Rufen. Wieder war niemand im Haus. Doch er war nicht allein, das wusste er nun. Nur allein gelassen.

 

Er bezog trotz allem das Gästezimmer. Wo sollte er auch sonst hin? Es war 20 Uhr, der letzte Bus war vor einer Stunde gefahren und noch eine Taxifahrt sprengte sein Budget. Zumindest war der Kühlschrank gut gefüllt. Er nahm einen Himbeerjoghurt und suchte nach einem Löffel. Der junge Mann öffnete die Schubkästen unter den Arbeitsplatten, traf aber nur auf Geschirrtücher und Gewürze. In den größeren Fächern waren die Töpfe, Nudelsieb, Pfannen, Backformen und Teller, Tassen, Gläser. Aber kein Besteck. Es war dem jungen Mann so, als übersehe er es immer wieder. Er war sich ziemlich sicher, dass es bei seinem letzten Besuch in der Küche Besteck gegeben hatte, etwas anderes zu denken, kam ihm geradezu lächerlich vor.

Als er sich auf die Eckbank setzte, kam ihm eine Ahnung. Vielleicht war es doch keine Einbildung. Er verlängerte mit seinem Arm den Winkel der Eckbank quer durch den Raum. So unvorstellbar es auch erschien, es war ihm, als knickte sein Arm vor seinen Augen nach rechts weg. Es fehlte tatsächlich ein Stück der Küche. Ein ganzes Küchenelement war aus dem Raum geschnitten worden.

 

Wie in Trance starrte er auf die Krümmung zwischen Herd und Kühlschrank. Sein Arm begann zu kribbeln. Es war ihm, als ob nun, da er es sah, die Krümmung ihn ebenfalls zu bemerkt schien und ihn in sich hineinzuziehen versuchte. Er riss sich los, krabbelte rückwärts aus der Küche.

Da war etwas gewesen. Er hatte es deutlich gespürt. Panisch suchte er auch im Flur nach Anhaltspunkten. Beide Seiten waren gleich lang, alles stand so, wie er es von seinem letzten Besuch in Erinnerung hatte. Er eilte zur Zwischentür. Er öffnete sie und sah zu seiner Verwunderung erneut auf den Flur. Er drehte sich um. Hinter ihm war der selbe Ort wie vor ihm.

Aus Trotz oder falscher Naivität ging er einfach durch die Tür in den Parallelflur und stand an dem exakt selben Ort wie zuvor. Er zwang sich, ruhig zu bleiben. Der Logik nach müssten die Räume auf der anderen Seite spiegelverkehrt angeordnet sein. Dies waren sie aber nicht. Er versuchte sein Glück als Nächstes im Wohnzimmer. Als er aus den Panoramascheiben blickte, sah er statt des Gartens wie fast schon erwartet eine Kopie des Zimmers. Er saß in der Falle.

 

VIER

 

Er öffnete das Fenster und wechselte schwungvoll über in den nächsten Raum. Auch dieses Wohnzimmer sah identisch aus. Der junge Mann entschied, dass es das Klügste sei, erst einmal nach seiner Reisetasche zu suchen. In ihm war nämlich der Gedanke gekeimt, dass er zwar zwei Mal das Gefühl gehabt hatte, das Haus gewechselt zu haben, es jedoch nicht wirklich beweisen konnte. Wenn also seine Tasche, die wie er ein Fremdkörper in diesem Haus war, noch immer im Gästezimmer stand, war dies der nötige Beweis, dass ihm jemand einen fürchterlichen Streich spielte.

 

Er ging die Treppe hoch und erschrak, als er ins Leere trat. Vor seinen Augen verlief eine neue Krümmung. Der letzte Absatz der Treppe und weite Teile der Toilette waren verschwunden. Dafür stand abnormal schräg verformt das Fachwerk des alten Hauses gut einen Meter weiter im Raum als nötig. Es war, als ob das Haus versuchte, sich zusammenzuziehen.

Der junge Mann faste sich ein Herz, sprang den halben Meter zwischen Treppe und Flur. Für einen Augenblick, während er durch das Nichts sprang, sah er einen Schleier aus weißem Kristallen, durch den er zu gleiten schien. Es fühlte sich kalt und fremd an, als sei es nicht von dieser Welt, doch als er sich umdrehte, war da nur die Lücke.

 

Im Gästezimmer fand er seine Tasche direkt neben dem Doppelbett, genau wie er sie wenige Minuten zuvor dort abgestellt hatte. Er wusste nicht, ob er sich darüber freuen sollte. Obwohl er das Resultat kannte, überprüfte er sein Handy. Er hatte immer noch kein Netz. Was war mit dem Telefon seines Onkels? Eine Ladestation hatte zumindest bei seinem letzten Besuch unten im Flur gestanden, doch gerade eben hatte er keine gesehen. Und der Fernseher? Gab es im Wohnzimmer einen Fernseher? Es kam ihm vor, als würde das Haus vor seinen Augen verschwimmen.

 

Wenig überzeugt davon, irgendetwas gegen seine Lage tun zu können, griff er zur Türklinke. Mitten in der Bewegung hielt er inne. Die Türklinge hätte nicht dort sein sollen. Nicht neben dem Bett, nicht so dicht im Raum. Direkt hinter ihm war eine neue Krümmung entstanden. Wie eine unsichtbare Macht zog es ihn an. Er konnte nichts dagegen tun, als erst seine Hände vor seinen Augen verschwanden, dann seine Arme, schließlich kam es zu seinem Gesicht. Der Nebel hüllte ihn ein und mit einem dumpfen Schmatzen hatte das Haus ihn verschluckt.