Von Ursula Riedinger

Onkel Ulf und Tante Berglind wohnten am Waldrand in einem kleinen Häuschen. Alles darin sah schmuck, aber sehr altmodisch aus. Und hier sollte Lukas nun eine Woche verbringen, bis seine Eltern wieder zurück waren. Die Nachricht, dass seine Oma gestorben war und die Eltern zur Beerdigung nach Kanada fliegen mussten, kam überraschend. Sie meinten, es sei am Einfachsten, wenn Lukas bei Onkel und Tante bleiben würde. Zur Schule konnte er von dort mit dem Fahrrad fahren.

Komisch war nur, dass Lukas nur wenige flüchtige Erinnerungen an seine Tante und seinen Onkel hatte. Er war sicher, dass er sie zuletzt als kleines Kind gesehen hatte, danach nie wieder. Er erinnerte sich deutlich an eine hässliche Warze am Kinn von Tante Berglind. Diese hatte ihn damals ziemlich erschreckt. Die Warze war immer noch da, aber die Tante schien eine alte, freundliche Frau zu sein. Sie trug ein altmodisches dunkles Kleid und eine spitzenbesetzte Schürze darüber.

Tante Berglind führte ihn durchs Haus, dann nahmen sie zusammen in der Küche das Abendbrot ein. Es gab Kaffee und Brot mit Butter, Käse und Konfitüre, für Lukas heisse Schokolade. Eigentlich hätte er lieber eine Cola getrunken, aber er getraute sich nicht, danach zu fragen. Onkel Ulf war ein kleiner, drahtiger Mann mit langen grauen Haaren. Wie ein Künstler sah er aus. Lukas hatte mal einen Musiklehrer gehabt, der wie Onkel Ulf aussah. Er lächelte manchmal ein schräges Lächeln, aber sprach nicht viel. Tante Berglind bemühte sich um Lukas, fragte ihn nach der Schule und seinen Hobbys aus. Aber es war klar, die beiden alten Leute lebten in einer ganz anderen Welt.

Nach dem Nachtessen zeigte Tante Berglind Lukas sein Zimmer. Lukas schaute sich neugierig um. Das grosse Bett, in dem er schlafen sollte, war sehr hoch und darauf aufgetürmt befand sich eine riesige Federdecke und ein ebenso dickes Kissen. Beides war mit weisser Häkelspitze umrandet.

„Hier, ich lege dir eine Seife und ein Handtuch hin. Wenn du fertig bist, rufst du einfach.“

Lukas zog brav seinen Pyjama an, wusch sich über dem kleinen Waschbecken und putzte sich die Zähne, obwohl es noch viel zu früh war, um schlafen zu gehen. Normalerweise würde er um diese Zeit noch fernsehen oder ein Computerspiel spielen. Aber hier gab es tatsächlich keinen Internet-Empfang, Lukas hatte es mehrmals versucht. Obwohl Lukas für seine 11 Jahre gross war, musste er sich etwas strecken, um aufs Bett zu gelangen.

„Tante Berglind, ich bin fertig.“ Niemand kam. „Tante Berglind! Onkel Ulf!“ Niemand kam.

Lukas schlüpfte unter die Decke, aber er konnte nicht gleich einschlafen. Er versuchte ein wenig in dem spannenden Buch zu lesen, das er mitgebracht hatte, aber er wurde immer wieder abgelenkt von ungewohnten Geräuschen im Haus, einem Knarren und Heulen. „Der Wind“, dachte Lukas, dann fielen ihm doch die Augen zu.

Als Lukas schon fast eingeschlummert war, erschien plötzlich Onkel Ulf auf leisen Sohlen und setzte sich an sein Bett. Lukas schrak auf.

„Onkel Ulf, was machst du hier? Wieso kommst du …?

„Jetzt erzähle ich dir eine Gute-Nacht-Geschichte.“

„Ach nein, Onkel Ulf, ich bin müde, ich werde gleich wieder einschlafen.“

„Ohne Gute-Nacht-Geschichte kannst du nicht einschlafen.“ Onkel Ulf klang ungehalten.

„Na, dann …“ Lukas gähnte.

„In einem entfernten Tal hinter den Bergen lebte einmal ein Wolf. Der Wolf war einsam und sehnte sich nach einer Gefährtin. Dann, eines Nachts, traf er eine zarte Fee mit Namen Berglind.“

„Wie komisch, genau wie Tante Berglind …?“

„Unterbrich mich nicht, ja, wie Tante Berglind. Und der Wolf verliebte sich in die Fee. Er warb um sie und am Ende sagte sie ja und wurde seine Frau.“

„Und dann?“ Jetzt war Lukas neugierig geworden. Obwohl, etwas komisch war die Geschichte schon …

„Der Wolf, der den Namen Ulf trug, und die Fee Berglind lebten glücklich zusammen, bis eines Tages die böse Fee Berghild, eine der elf Schwestern von Berglind, in ihr Tal kam. Berghild war eifersüchtig auf das Glück der Schwester und legte einen bösen Zauber über Berglind und Ulf. Von nun an mussten die beiden jedes Jahr während einiger Zeit in Menschengestalt unter den Menschen leben.“

„Und gibt es keinen Zauber, der sie wieder befreien könnte?“ Lukas war schon lange aus dem Märchenalter heraus, aber er wusste, wie es in solchen Geschichten normalerweise weiterging.

„Doch, den gibt es, aber er wird erst enthüllt, wenn die Person kommt, die diese Fähigkeit besitzt. So, und nun schlaf.“ Und damit verschwand Onkel Ulf wieder fast lautlos aus dem Zimmer.

An Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken. Die Geschichte hatte Lukas aufgewühlt. Wohl weil die Personen im Märchen so hiessen wie seine Tante und sein Onkel. Andererseits war es bloss ein Märchen. Sein Onkel war der Bruder seines Vaters, nichts Ungewöhnliches dabei. Er war ein Mensch und kein Wolf. Und Tante Berglind war keine Fee, sondern seine altmodische Tante. Feen gab es ja gar nicht. Aber wieso erzählte Onkel Ulf ihm dieses Märchen, zwang es ihm förmlich auf, ohne das Ende zu verraten? Lukas warf sich hin und her. Endlich fiel er in einen unruhigen Schlaf.

Mitten in der Nacht schreckte er auf. Um sein Bett herum bewegte sich etwas, ganz zarte Schritte und ein Rascheln, daneben das Tappen von Pfoten, wie von einem Hund. Lukas erschrak und starrte in die Dunkelheit.

„Wer ist da?“ rief Lukas laut, um seine Angst zu überwinden.

Er konnte zuerst nichts sehen, aber als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er im schwachen Schein des Mondes ein Wesen. Die Form war die eines Wolfs. Dann erkannte er Onkel Ulf in der Form des Wolfs. Eindeutig Onkel Ulf, seine Gesichtszüge, sein charakteristischer Gang, sein verschmitztes Lächeln, jetzt allerdings mit den scharfen Zähnen des Raubtiers. Total unheimlich. Was ging hier vor? Er beruhigte sich aber, als er neben dem Wolf Tante Berglind sah, eine feine Feengestalt, und ganz ohne Warze. Sie gaben ihm ein Zeichen, dass er aufstehen sollte.

Dann waren sie durch die Tür verschwunden. Lukas setzte sich auf, zog sich einen Pullover über und schlüpfte in seine Turnschuhe. Dann eilte er nach draussen, den beiden nach. Ein heftiger Wind war aufgekommen. Jeder Windstoss zerrte an ihm. Lukas rannte, so rasch er konnte. In weiter Ferne sah er die Fee wie ein kleines Lichtchen in der Luft flackern. Der Wolf, der einmal Onkel Ulf gewesen war, trabte rasch voraus. Das hätte Lukas dem alten Onkel gar nicht zugetraut.

Lukas war völlig ausser Atem, als er den Felsen erreichte, wo die beiden verschwunden waren. Und jetzt? Doch, dort schimmerte Licht aus einem Spalt heraus. Lukas zwängte sich durch die enge Öffnung. Im Innern wurde es plötzlich weiter und ein unheimliches bläuliches Licht tauchte das Gewölbe in ein fahles Licht.

„Was muss ich tun?“ Für Lukas war klar, wenn er schon in dieses unwirkliche Märchen reingezogen worden war, dann ging es jetzt darum, Tante Berglind und Onkel Ulf von ihrem Zauber zu befreien.

„Wenn Berghild kommt, musst du sie packen! Und dann rufst du drei Mal ihren Namen, so laut du kannst.“ Der Wolf mit Onkel Ulfs Stimme flüsterte und die Fee nickte. „Nur ein Menschenkind kann dies, vor Menschenkindern fürchten sich die meisten Feen. Aber jetzt versteck dich dort hinten, sie wird gleich hier sein.“

Ein plötzlicher Windstoss fuhr durch die Höhle und es wurde sehr kalt. Das Licht im Gewölbe flackerte bedenklich. Die Fee hatte versucht, es auszulöschen. Sie war fast nicht zu sehen, denn sie trug einen dunklen Mantel. Nur ein kleines, eisblaues Licht ging von ihr aus. So konnte Lukas ihre Umrisse erkennen.

„So, so, ihr wollt abhauen …“ zischte die Fee mit spitzer Stimme. „Das könnte euch so passen.“ Dann wetterte sie drauflos, und aus jedem ihrer Worte wurde ein spitzer Eiszapfen.

Lukas schlich sich so behutsam wie möglich an. Was, wenn die Fee ihn spürte? Die Fee war jedoch so mit sich selbst beschäftigt, dass sie ihn nicht wahrzunehmen schien. Fast wäre er auf einem Eiszapfen ausgerutscht, aber dann stand er dicht hinter ihr. Da drehte sich Berghild blitzschnell um. Lukas erstarrte. Sie schleuderte ihm weitere Eiszapfen ins Gesicht. Eisige Kälte umfing ihn, so dass er beinahe festfror. Mit letzter Anstrengung machte Lukas einen Sprung und packte die Fee von hinten. Die Fee schrie auf, aber er hielt sie mit eisernem Griff fest. Die Kälte war beinahe nicht mehr auszuhalten.

„Berghild, Berghild, Berghild!“ Lukas Stimme hallte durch die Höhle.

Die Fee in seinen Armen wurde schwächer und schwächer, und löste sich dann ganz auf. Nur ihr schwarzer Mantel blieb in seinen Armen hängen. Angewidert warf er ihn zu Boden. Erschöpft und benommen schaute er sich nach Onkel Ulf und Tante Berglind um. Aber die beiden waren einfach verschwunden …

Mit letzter Kraft schleppte sich Lukas zurück ins Haus, warf sich völlig erschöpft und durchfroren aufs Bett und zog die dicke Decke über sich. Er schlief tief und fest. Am andern Morgen wachte er erholt auf. Verwirrt suchte er das Haus nach seiner Tante und seinem Onkel ab. Aber sie waren tatsächlich nicht mehr da. Das nächtliche Abenteuer war kein Traum gewesen.

Lukas radelte zur Schule. Er freute sich schon, seine Kollegen zu treffen, um sich von der komischen Geschichte abzulenken. Endlich hatte er wieder Empfang auf seinem Handy. Seine Eltern hatten ihm schon fünf Nachrichten hinterlassen. Er schrieb zurück, es sei alles in Ordnung. Was sollte er sonst schreiben?

Abends fand er auf dem Tisch in der Küche einen mit sorgfältig geschwungenen Buchstaben geschriebenen Brief:

„Lieber Lukas, wir sind sehr dankbar für alles, was du für uns getan hast. Wir werden immer für dich da sein, wenn du in einer Notlage bist. Deine Tante Berglind und dein Onkel Ulf“

Daneben stand sein Nachtessen auf dem Tisch. Hamburger, Pommes Frites und eine Cola.

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